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Autor: Lonergan, Bernard J.F.

Buch: Methode in der Theologie

Titel: Methode in der Theologie

Stichwort: Funktionale Spezialisierung; Dialektik: intellektuelle Bekehrung; Mythos (Wirklichkeit, Objektivität, Erkenntnis): Erkennen = Sehen; Unterschied: Welt der Unmittelbarkeit - W. d. Sinngehaltes; Folgen d. Mythe: Empirist, Idealist - kritischer Realist

Kurzinhalt: Intellektuelle Bekehrung ist eine radikale Klärung und infolgedessen die Beseitigung einer äußerst hartnäckigen und irrerührenden Mythe hinsichtlich der Wirklichkeit, der Objektivität und der menschlichen Erkenntnis.

Textausschnitt: Intellektuelle Bekehrung (eü)

11/X Intellektuelle Bekehrung ist eine radikale Klärung und infolgedessen die Beseitigung einer äußerst hartnäckigen und irrerührenden Mythe hinsichtlich der Wirklichkeit, der Objektivität und der menschlichen Erkenntnis. Die Mythe besagt, daß Erkennen dem Sehen gleicht, daß Objektivität ein Sehen dessen ist, was da ist, um gesehen zu werden, und nicht Sehen, was nicht da ist, und daß das Wirkliche das ist, was jetzt da draußen ist, um angeschaut zu werden. Diese Mythe übersieht nun den Unterschied zwischen der Welt der Unmittelbarkeit, z. B. der Welt des Kindes, und der durch Sinngehalt vermittelten Welt. Die Welt der Unmittelbarkeit ist die Summe dessen, was gesehen, gehört, getastet, geschmeckt, gerochen und gefühlt wird. Sie paßt recht gut zu jener Mythe über die Realität, die Objektivität und die Erkenntnis. Aber sie ist nur ein winziger Bruchteil jener Welt, die durch Sinngehalt vermittelt ist. Denn die durch Sinngehalt vermittelte Welt wird nicht etwa durch die Sinneserfahrung des Individuums erkannt, sondern durch die äußere und innere Erfahrung einer Kulturgemeinschaft und durch die ständig geprüften und nochmals überprüften Urteile derselben Gemeinschaft. Erkennen ist demzufolge eben nicht nur Sehen; es ist Erfahren, Verstehen, Urteilen und Glauben. Die Kriterien der Objektivität sind nicht bloß die Kriterien okularer Sicht; sie sind die miteinander verbundenen Kriterien des Erfahrens, des Verstehens, des Urteilens und des Glaubens. Die erkannte Realität wird nicht bloß angeschaut; sie wird gegeben in der Erfahrung, wird durch Verstehen geordnet und extrapoliert und wird durch Urteil und Glaube (belief) gesetzt. (242; Fs) (notabene)

12/X Die Folgen der genannten Mythe sind sehr verschieden. Der naive Realist erkennt die durch Sinngehalt vermittelte Welt, meint aber, er erkenne sie durch Anschauen. Der Empirist beschränkt objektive Erkenntnis auf Sinneserfahrung; für ihn sind Verstehen und Konzipieren, Urteilen und Glauben bloß subjektive Vollzüge. Der Idealist behauptet, daß menschliche Erkenntnis stets sowohl das Verstehen als auch die Sinneswahrnehmung einschließt; aber er bleibt bei der Wirklichkeitsauffassung des Empiristen, und so hält er die durch Sinngehalt vermittelte Welt nicht für real, sondern für ideal. Nur der kritische Realist vermag die Fakten der menschlichen Erkenntnis anzuerkennen und die durch Sinngehalt vermittelte Welt als die reale Welt anzusprechen; und er vermag dies nur insofern er zeigt, daß der Vorgang des Erfahrens, Verstehens und Urteilens ein Vorgang der Selbst-Transzendenz ist. (242f; Fs) (notabene)

Kommentar (18.11.12), zu oben: "Der naive Realist erkennt die durch Sinngehalt vermittelte Welt, meint aber, er erkenne sie durch Anschauen." Eine äußerst wertvolle Einsicht, um zu verstehen, weshalb so viele Menschen anfällig für subtile Propaganda sind. Beispiel: Die hartnäckige manipulative Berichterstattung über Kirche – bald wird diese Vermittlung als "wahre" Wirklichkeit der Kirche "gesehen".

13/X Wir erörtern nun nicht bloß ein Spezialproblem der Philosophie. Empirismus, Idealismus und Realismus bezeichnen drei völlig verschiedene Horizonte, die keine gemeinsamen identischen Gegenstände haben. Ein Idealist meint niemals das, was ein Empirist meint, und ein Realist meint niemals das, was die beiden anderen meinen. Ein Empirist kann schlußfolgern, daß es in der Quantentheorie nicht um die physikalische Wirklichkeit gehen könne, und zwar deshalb nicht, weil sie nur Beziehungen zwischen Phänomenen behandelt. Ein Idealist würde dem zustimmen und hinzufügen, daß dasselbe natürlich für die ganze Naturwissenschaft, ja in der Tat für die Gesamtheit des menschlichen Wissens überhaupt gelte. (243; Fs) (notabene)

14/X Der kritische Realist wird beiden widersprechen: Eine verifizierte Hypothese ist wahrscheinlich wahr; und was wahrscheinlich wahr ist, bezieht sich auf das, was in Wirklichkeit wahrscheinlich so ist. Um das Beispiel zu wechseln: Was sind historische Fakten? Für den Empiristen sind sie das, was da draußen war und was angeschaut werden konnte. Für den Idealisten sind sie geistige Konstruktionen, die sorgfältig auf den in Dokumenten überlieferten Daten fundiert und aufgebaut sind. Für den kritischen Realisten sind sie Ereignisse in der durch wahre Bedeutungsakte vermittelten Welt. Um ein drittes Beispiel anzuführen: Was ist ein Mythos? Es gibt psychologische, anthropologische, geschichtliche und philosophische Antworten auf diese Frage. Es gibt hierauf aber auch reduktionistische Antworten: Mythos ist eine Erzählung über Wirklichkeiten, die innerhalb des Horizonts von Empiristen, Idealisten, Historizisten und Existentialisten nicht zu finden sind. (243; Fs) (notabene)

15/X Genug der Beispiele. Sie lassen sich unbegrenzt vermehren; denn philosophische Probleme sind in ihrer Tragweite universal, und die eine oder andere Form des naiven Realismus erscheint sehr vielen Menschen als völlig unbestreitbar. Sobald sie anfangen, über Erkenntnis, Objektivität und Realität zu sprechen, taucht die Annahme auf, alles Erkennen müsse so etwas wie Sehen sein. Sich von diesem groben Irrtum frei zu machen und die Selbst-Transzendenz zu entdecken, die dem menschlichen Prozeß eigen ist, durch den man zur Erkenntnis gelangt, heißt oft mit tief verwurzelten Denk- und Sprachgewohnheiten zu brechen. Es bedeutet, die Herrschaft im eigenen Hause anzutreten, die nur zu haben ist, wenn man genau weiß, was man tut, wenn man erkennt. Es ist eine Bekehrung, ein neuer Anfang, ein anderer Beginn. Es gibt den Weg frei für immer weitere Klärung und Entwicklung. (243; Fs) (notabene)

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