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Autor: Lonergan, Bernard J.F.

Buch: Methode in der Theologie

Titel: Methode in der Theologie

Stichwort: Funktionale Spezialisierung; Dialektik: Horizonte (komplementär, genetisch, dialektisch);

Kurzinhalt: Wie sich das Gesichtsfeld je nach dem eigenen Standpunkt verändert, so ändern sich auch der Bereich des eigenen Wissens und die Reichweite eigener Interessen je nach der Periode, in der man lebt, je nach sozialem Hintergrund und eigener Umwelt, je ...

Textausschnitt: 1. Horizonte

3/X Seiner wörtlichen Bedeutung nach bezeichnet Horizont die begrenzende Kreislinie, jene Linie, in der sich Himmel und Erde zu berühren scheinen. Diese Linie ist die Grenze des eigenen Gesichtsfeldes. Bewegen wir uns, so weicht sie vor uns zurück und schließt sich wieder hinter uns, so daß es für verschiedene Standpunkte auch unterschiedliche Horizonte gibt. Zudem gibt es für jeden unterschiedlichen Standpunkt und Horizont unterschiedliche Aufteilungen der Gesamtheit aller sichtbaren Gegenstände. Hinter dem Horizont liegen die Gegenstände, die wenigstens im Augenblick nicht zu sehen sind. Innerhalb des Horizonts liegen die Objekte, die jetzt zu sehen sind. (239; Fs) (notabene)

4/X Wie unser Gesichtsfeld, so ist auch der Bereich unseres Wissens und die Reichweite unserer Interessen begrenzt. Wie sich das Gesichtsfeld je nach dem eigenen Standpunkt verändert, so ändern sich auch der Bereich des eigenen Wissens und die Reichweite eigener Interessen je nach der Periode, in der man lebt, je nach sozialem Hintergrund und eigener Umwelt, je nach Erziehung, Ausbildung und persönlicher Entwicklung. So ist eine metaphorische oder vielleicht analoge Bedeutung des Wortes Horizont entstanden. In diesem Sinne ist das, was jenseits des eigenen Horizonts liegt, einfach außer Reichweite des eigenen Wissens und der eigenen Interessen: Weder weiß man darum, noch kümmert es einen. Was aber innerhalb des eigenen Horizonts liegt, ist in gewissem Ausmaß, groß oder klein, ein Gegenstand des Interesses und des Wissens. (240; Fs)

5/X Unterschiede im Horizont können komplementär, genetisch oder dialektisch sein. Zum ersten: Arbeiter, Werkmeister, Inspektoren, Techniker, Ingenieure, Manager, Ärzte, Juristen, Professoren haben unterschiedliche Interessen. Sie leben gewissermaßen in verschiedenen Welten. Jeder ist recht vertraut mit seiner eigenen Welt. Aber jeder weiß auch um die anderen, und jeder anerkennt auch die Notwendigkeit der anderen. So überschneiden sich ihre zahlreichen Horizonte mehr oder weniger, und im verbleibenden Rest ergänzen sie einander. Als einzelne betrachtet können sie sich nicht selbst genügen, aber zusammen genommen repräsentieren sie die Motivationen und Kenntnisse, die für das Funktionieren einer gemeinschaftlichen Welt erforderlich sind. Solche Horizonte sind komplementär. (240; Fs) (notabene)

6/X Zweitens können sich Horizonte genetisch unterscheiden. Sie sind dann als sukzessive Stufen eines Entwicklungsprozesses aufeinander bezogen. Jede spätere Stufe setzt frühere Stufen voraus, schließt sie teilweise ein und überformt sie zum Teil. Gerade weil die Stadien früher oder später sind, sind niemals zwei Stadien gleichzeitig. Sie sind nicht Teile einer einzigen gemeinschaftlichen Welt, sondern Teile einer einzigen Biographie oder einer einzigen Geschichte. (240; Fs)

7/X Drittens können Horizonte dialektisch entgegengesetzt sein. Was man in dem einen Horizont verständlich findet, kann in einem anderen unverständlich sein. Was für den einen wahr ist, ist für den anderen falsch. Was für den einen gut ist, ist für den anderen böse. Jeder kann sich in etwa des anderen bewußt sein, und daher kann jeder in gewisser Weise den anderen einschließen. Aber ein solches Einschließen bedeutet auch Negation und Ablehnung. Denn der Horizont des anderen wird zumindest teilweise einem Wunschdenken zugeschrieben oder der Annahme eines Mythos, der Unwissenheit oder dem Irrtum, einer Blindheit oder Illusion, der Rückständigkeit oder der Unreife, dem Unglauben, dem bösen Willen oder der Zurückweisung göttlicher Gnade. Die Ablehnung des anderen kann so leidenschaftlich sein, daß der Vorschlag, Offenheit sei wünschenswert, geradezu wütend macht. Die Ablehnung kann aber auch etwas von der Härte des Eises haben, ohne die geringste Spur von Leidenschaft oder anderweitig bekundetem Gefühl - vielleicht mit Ausnahme eines gezwungenen Lächelns. Astrologie und Völkermord liegen beide jenseits der Grenze - Astrologie aber wird lächerlich gemacht, Völkermord dagegen verabscheut. (240f; Fs)

8/X Und schließlich sind Horizonte das strukturierte Ergebnis früherer Leistung, wie auch die Bedingung und die Begrenzung weiterer Entwicklung. Sie sind strukturiert. Alles Lernen ist nicht bloß reine Addition zu früher Gelerntem, sondern organisches Wachsen aus vorher Gelerntem. So stehen all unsere Intentionen, Aussagen und Handlungen in Kontexten. Auf solche Kontexte berufen wir uns, wenn wir die Gründe für unsere Ziele angeben, wenn wir unsere Aussagen klären, erweitern und näher bestimmen, oder wenn wir unser Handeln erklären. In solche Kontexte muß jeder neue Gegenstand des Wissens und jeder neue Faktor in unseren Einstellungen eingepaßt werden. Was nicht hineinpaßt, wird nicht bemerkt oder - wenn unserer Aufmerksamkeit aufgezwungen - als nebensächlich oder unwichtig erscheinen. Horizonte sind also der Spielraum unserer Interessen und unseres Wissens; sie sind einerseits die ergiebige Quelle weiteren Wissens und Sorgens, andererseits aber auch die Grenze, die unsere Fähigkeit beschränkt, jetzt noch mehr aufzunehmen, als wir schon erreichten. (241; Fs)

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