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Autor: Voegelin, Eric

Buch: Der Gottesmord

Titel: Der Gottesmord

Stichwort: Gnosis; Voegelin: Gnosis-Theorie (Walgreen Lectures); Abwendung von der Transzendenz: spezifisches Merkmal der modernen Gesellschaft; Problem d. Repräsentation; 3 Typen von Wahrheit (kosmisch, anthropologisch, soteriologisch)

Kurzinhalt: Wenn unter Rationalität das Akzeptieren der Realitätsverfassung in ihrer ganzen Tiefenstruktur bis in die Transzendenz des göttlichen Seinsgrundes verstanden wird ... dann bedeutete die Abwendung von dieser Erfahrung ... einen Verlust an Rationalität.

Textausschnitt: 12a Voegelin hatte die Einladung zu den renommierten Walgreen Lectures an der University of Chicago - im Jahre zuvor hatte sie Leo Strauss zum Thema »Naturrecht und Geschichte« gehalten - Mitte Februar 1950 erhalten. Es handelte sich um einen Zyklus von sechs Einzelvorlesungen, die sich mit einem Gegenstand aus dem Bereich der amerikanischen Institutionen befassen sollten. Aufgrund dieser inhaltlichen Vorgabe hatte Voegelin eine systematische Befassung mit der Repräsentationsproblematik vorgeschlagen und angeboten, sich dabei vor allem auf Materialien der englischen und amerikanischen Tradition zu beziehen.1 Im Herbst 1950 hatte sich der Vorsitzende der Walgreen Foundation, Jerome G. Kerwin, erneut an Voegelin gewandt. Nach der Lektüre eines kurz zuvor in der Review of Politics erschienenen Essays von Voegelin über den Marxismus2 fragte er an, ob Voegelin die Vorlesungen nicht einer philosophischen Analyse des Marxismus, der großen Herausforderung der Demokratie, widmen wolle. Mit Hinweis auf die schon weit fortgeschrittene Ausarbeitung der Vorlesungen - die ersten drei Vorlesungen lagen druckfertig vor - lehnte Voegelin ab. Er versprach jedoch, bei der Behandlung der Repäsentationsproblematik auch auf »die Entstehung der modernen politischen Massenbewegungen aus dem gnostischen Sektierertum« einzugehen, auch auf den Marxismus als »Variante des mittelalterlichen Gnostizismus«, dessen Prinzipien er einer besonderen philosophischen Analyse unterziehen würde.3 (Fs)

12b Dieser Brief Voegelins enthält einen der ersten Hinweise - vielleicht ist es sogar der erste überhaupt - auf die Gnosis-These. Allerdings ist das Gewicht, das sie in der New Science schließlich haben wird, auch jetzt noch nicht erkennbar. Daß dieses sich vermutlich sogar erst beim Schreiben der letzten der Vorlesungen bildete, lassen auch die Titel der drei der Moderne gewidmeten Vorlesungen vermuten, die Voegelin Anfang Dezember 1950 der Walgreen Foundation vorlegte: IV. The Third Realm - The Nature of Modernity; V. The People of God - the English Case; VI. The End of Modernity. Anders als später bei den Kapitelüberschriften der New Science enthalten sie noch keinen Hinweis auf Gnosis oder Gnostizismus. Dasselbe gilt für die Aufsätze, die Voegelin Ende der 40er Jahre veröffentlichte; auch in ihnen findet sich der Begriff Gnosis nur sehr vereinzelt. Das gilt selbst für den erwähnten Aufsatz über Karl Marx, der zwar mit einem »Gnostische Revolte« betitelten Abschnitt beginnt, in dem jedoch nichts darauf hindeutet, daß der Begriff der Gnosis bald zur zentralen Kategorie zur Interpretation der Moderne avancieren würde. Dasselbe gilt für zwei weitere wichtige Kapitel zur Neuzeit in der History, die Voegelin Ende der 40er Jahre abschloß4: das Machiavelli-Kapitel, in dem er nur an einer Stelle vom »Gnostizismus der politischen Intellektuellen«5 spricht, sowie das Kapitel »The People of God«. In letzterem ist zwar vom »Gnostizismus des Freien Geistes« die Rede, der sich in den »Gnostizismus der Aufgeklärten Vernunft« verwandelt; doch auch hier findet sich der Begriff nur selten,6 obwohl der Text selbst für die Argumentation von zentraler Bedeutung ist. Dazu später mehr; wenden wir uns zunächst den Walgreen Lectures zu, in deren Gesamtzusammenhang die Gnosis-These entwickelt wird. (Fs)

13a Wie angekündigt stand im Zentrum der Walgreen Lectures - ihr Obertitel lautete Truth and Representation - der Begriff der Repräsentation. Nachdem in der ersten Vorlesung die existentielle Dimension der Repräsentationsproblematik in ihren wichtigsten Aspekten -Sicherung von Frieden und Wohlstand im Innern und Schutz gegenüber äußeren Feinden - entfaltet worden war, verwies die folgende Vorlesung nun auf eine weitere - und letztlich wesentlichere - Dimension der Repräsentation. Ausgehend von dem empirischen Befund, daß alle politischen Gesellschaften sich selbst als Repräsentanten einer sie übergreifenden »Wahrheit« verstanden und verstehen, entwickelte Voegelin den Begriff der »transzendenten Repräsentation«. Auf sie und den ihr zugrundeliegenden Anspruch, »Wahrheit« zu repräsentieren, konzentrierten sich die folgenden Vorlesungen, in denen am empirischen Material drei Typen von »Wahrheit« herausgearbeitet wurden: Eine erste Form zeigte sich in den alten Reichen des Nahen Ostens, die sich als Repräsentanten der kosmischen Ordnung verstanden und analog zum umfassenden Makrokosmos das Reich als Mikrokosmos interpretierten und ordneten. Ein Bruch mit dieser »kosmologischen Wahrheit« vollzog sich mit der griechischen Philosophie, mit der eine neue Stufe des Weltverständnisses und damit von »Wahrheit« erreicht wurde. Den Anstoß bildeten Transzendenzerfahrungen, in denen das Göttliche als außerkosmisch situiert erfahren und die Seele als das Sensorium dieser Partizipation am göttlichen Seinsgrund entdeckt wurde. Dieser dem transzendenten Seinsgrund gegenüber offene und in dieser Offenheit zugleich sich psychisch ordnende Mensch - der Philosoph - wurde damit zum Repräsentanten einer neuen »theoretischen« bzw. »anthropologischen Wahrheit«. Eine weitere Variante von »Wahrheit« - Voegelin spricht von »soteriologischer Wahrheit« - entwickelt sich mit dem Christentum. Eine Darstellung des Kampfes dieser drei Typen von »transzendenter Repräsentation« um die existentielle Repräsentation im Römischen Reich beschloß den ersten Teil der Vorlesungen. (Fs) (notabene)

14a Ein zentraler Punkt besteht nun darin, daß Voegelin diese drei Typen von »Wahrheit« und die ihnen zugrunde liegenden und sie damit begründenden »Erfahrungen« nicht isoliert und gleichwertig nebeneinanderstellte, sondern als Abfolge eines Prozesses deutete, in dessen Verlauf der Mensch »das Verständnis seiner Menschlichkeit und gleichzeitig das Verständnis ihrer Grenzen gewinnt.«7 Der Punkt, an dem sich in diesem Prozeß der differenzierende geistige Fortschritt ereignet, ist die Beziehung des Menschen zu Gott, dessen außerkosmische Transzendenz sich erst in den differenzierenden Erfahrungen der griechischen Philosophie, der israelitischen Offenbarung und des Christentums erschloß. Während jene Bewegungen der Psyche auf das als jenseitig erfahrene göttliche Sein für Voegelin zum kognitiven Kern von Rationalität wurden, manifestierte sich diese Rationalität in der Akzeptanz der durch die in jenen »Erfahrungen« transparent gewordenen Seinsverfassung. (Fs) (notabene)

15a Damit war das Fundament gelegt, von dem aus Voegelin nun die westliche Moderne in ihrer besonderen geistigen Struktur sowohl darstellen wie bewerten konnte. Dabei ergab sich aus den bisher entwickelten Prämissen eine Konsequenz: Wenn unter Rationalität das Akzeptieren der Realitätsverfassung in ihrer ganzen Tiefenstruktur bis in die Transzendenz des göttlichen Seinsgrundes verstanden wird und wenn sich der Grad dieser Rationalität aus einem möglichst differenzierten Wissen um diese Struktur ergibt, dann bedeutete die Abwendung von dieser Erfahrung und der sich mit ihr enthüllenden Realitätsverfassung zugleich einen Verlust an Rationalität. Eine solche Abwendung von der Transzendenz ist nun aber ein spezifisches Merkmal der modernen Gesellschaft; ihr und dem Typus der von ihr repräsentierten »gnostischen Wahrheit« widmeten sich die drei abschließenden Vorlesungen. Mit ihnen beginnt die Gnosis-These. (Fs)

15b Die Erfahrungen der griechischen Philosophen und der christlichen Denker hatten ein doppeltes Ergebnis: Indem sie die radikale Transzendenz des Seinsgrundes ins Bewußtsein hoben, zerstörten sie die »kosmologische Wahrheit« von der Göttlichkeit des Kosmos und leiteten einen Prozeß ein, der zur Entgöttlichung des Kosmos und der temporalen Sphäre der Macht führte. Damit verwandelte sich aber nicht nur die Geschichte auf der Machtebene in ein sinnloses Geschehen, es veränderte sich auch die Vorstellung von der Erfüllung und Vollendung menschlicher Existenz. Nach christlicher Vorstellung erfolgte diese nicht in dieser Welt, sondern in der visio beatifica, durch Gnade im Tod. In der vierten - für die Gnosis-These zentralen - Vorlesung skizzierte Voegelin nun die Prozesse, in deren Verlauf es seit dem Hochmittelalter zur Wiedervergöttlichung der Welt kam.8 Dabei arbeitete er vor allem die entscheidende Rolle der Geschichtsspekulation von Joachim von Fiore heraus, dessen trinitarische Eschatologie nicht nur zum Modell eines Denkens wird, in dem die Geschichte als ein zielgerichteter, auf innerweltliche Erfüllung drängender Prozeß verstanden wird, sondern die auch die zentralen Kategorien und Symbole liefert, die von nun an die Selbstinterpretation der modernen politischen Gesellschaft bestimmen. Das gilt insbesondere für das Symbol des »Dritten Reiches«.9 Von weitreichender Bedeutung für diese Prozesse erwies sich eine Reihe zentraler Elemente - vor allem das Absterben des Transzendenzbewußtseins und das Hineinziehen des christlichen Eschatons aus dem Jenseits in die Geschichte, die damit wieder sinnvoll wurde und ein Ziel erhielt, das nicht nur spekulativ erfaßt, sondern auch aktivistisch realisiert werden konnte. Voegelin arbeitete bei dieser Darstellung die drei zentralen Varianten des politischen Gnostizismus heraus: den Utopismus mit seiner spekulativen Ausmalung einer vollkommenen Gesellschaft; den Progressivismus, der in den Fortschrittsideologien den Weg in die immanente Vollendung weist; und den revolutionären Aktivismus, der Strategien für die Schaffung der vollkommenen Gesellschaft und die Schöpfung des vollkommenen Menschen entwirft und in die Tat umsetzt.10 Letzterem ist die fünfte Vorlesung gewidmet, die am Fall der puritanischen Bewegungen im 16. Jahrhundert den Aufstieg der gnostischen Sekten und ihren Kampf um die existentielle Repräsentation darstellt. (Fs)

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