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Autor: Ratzinger, Joseph

Buch: Theologische Prinzipienlehre

Titel: Theologische Prinzipienlehre

Stichwort: Problem: wissenschatlich-technischer Fortschritt - Bedeutung von Tradition; Wende bei Hegel: Sein und Zeit ("schieben sich ineinander) -> 2 Folgen: Wahrheit als Funktion der Zeit -- als Ausdruck von Herrschaftsinteressen

Kurzinhalt: Das Sein selbst gilt nun als Zeit, der Logos wird in Geschichte zu sich selbst. Er kann also an keinem einzelnen Punkt der Geschichte angesiedelt, er kann nie übergeschichtlich als in sich selber Seiendes gesichtet werden; alle seine geschichtlichen ...

Textausschnitt: 1.1.1.1 Was ist für den christlichen Glauben heute konstitutiv?

Problemstellung

15a Die Frage, was für den christlichen Glaube heute konstitutiv sei, ist vom Verfasser nicht erfunden; sie wurde ihm vorgelegt, weil sie allenthalben und immer wieder begegnet.1 Dem näher Nachdenkenden freilich scheint sie falsch gestellt, denn konstitutiv kann nur sein, was nicht bloß heute ist. Richtiger und genauer müßte gefragt werden, was im Versinken des Gestrigen auch heute konstitutiv bleibt. Dennoch ist es nicht zufällig, daß sich die Frage rundum gerade in dieser Form erhebt, und insofern hat nun doch gerade diese Fragegestalt erhebliche heuristische Bedeutung. Dahinter wird ein Bewußtsein des unvergleichbar Neuen der gegenwärtigen Situation deutlich, einer Veränderung von Welt und Mensch, die nicht mit den gewöhnlichen Maßstäben geschichtlicher Veränderung gemessen werden kann, wie es sie immer schon gab, sondern einen epochalen Umschlag ohne Vergleichsmöglichkeiten bedeutet. Dieser Gedanke, daß sich mit dem Menschen und der Welt in der Situation einer immer totaler werdenden wissenschaftlichen und technischen Selbstverfügung etwas von Grund auf Neues abspiele, ist der Grund einer Traditionskrise, die allenfalls auf die wissenschaftlich bewiesenen Verhaltensmuster höherer Säugetiere zurückzugreifen bereit ist, aber in dem Eigenen menschlicher Geschichte keine Verbindlichkeit mehr erblicken kann und daher die Frage nach dem Geltenden selbst in solchen Traditionsträumen von Grund auf neu erhebt, die wie die katholische Kirche von klar umrissenen Maßstäben eindeutig geprägt schienen.2

16a Dieses Bewußtsein des Neuen das also die eigentliche Triebkraft unserer Frage darstellt, ist zum Teil einfach Reflex gegebener Erfahrungen, zum Teil aber auch durch philosophische Bewegungen bestimmt, die diese Erfahrungen aufgenommen und in Gesamtentwürfe des Wirklichen umgesetzt haben. Das alte Problem von Sein und Zeit, von den Eleaten, aber auch von Platon und Aristoteles fast ausschließlich zugunsten des Seins gelöst, taucht neu auf. Der entscheidende Einschnitt dürfte bei Hegel liegen, von dem an im philosophischen Denken Sein und Zeit immer mehr ineinander geschoben werden. Das Sein selbst gilt nun als Zeit, der Logos wird in Geschichte zu sich selbst. Er kann also an keinem einzelnen Punkt der Geschichte angesiedelt, er kann nie übergeschichtlich als in sich selber Seiendes gesichtet werden; alle seine geschichtlichen Objektivierungen sind nur Momente am Ganzen seiner selbst. Daraus ergeben sich zwei gegensätzliche Positionen. Auf der einen Seite erwächst die geistesgeschichtliche Philosophie, die eine allgemeine Versöhnung ermöglicht: Alles bisher Gedachte hat als Moment eines Ganzen seinen Sinn; es kann als Moment im Selbstaufbau des Logos verstanden und eingeordnet werden. Die katholische wie die reformatorische Auslegung des Christlichen haben in solcher Sicht je an ihrer Stelle ihre Bedeutung, sie sind wahr in ihrer geschichtlichen Stunde, aber sie bleiben doch nur wahr, indem man sie mit dem Enden ihrer Stunde verläßt und einordnet ins neu sich herausbildende Ganze. Wahrheit wird zur Funktion von Zeit; das Wahre ist nicht einfach wahr, weil auch die Wahrheit nicht einfach ist; es ist für eine Zeit wahr, weil es dem Werden der Wahrheit zugehört, die ist, indem sie wird. Das bedeutet naturgemäß, daß die Konturen zwischen wahr und unwahr unscharf werden; es bedeutet vor allem, daß die Grundeinstellung des Menschen zur Wirklichkeit und zu sich selbst anders werden muß: Treue zur gestrigen Wahrheit besteht in solcher Sicht gerade darin, sie zu verlassen, sie "aufzuheben" ins Heutige hinein; das Aufheben wird die Form des Bewahrens. Das gestern Konsumtive bleibt es heute nur als Aufgehobenes. Im Bereich des marxistischen Denkens wendet sich diese Ideologie der Versöhnung (wie man sie nennen könnte) in eine Ideologie der Revolution, das Aufheben ins Umwandeln. Der Gedanke der Kontinuität des Seins im Wandel der Zeit wird nun als interessenbedingter ideologischer Überbau derer durchschaut, die vom Bestehenden begünstigt werden. Er ist damit Reaktion, die der Logik der Geschichte entgegensteht, welche Fortschritte verlangt und das Verharren in den gegebenen Zuständen verbietet. Die Idee der Wahrheit wird als Ausdruck eines Herrschaftsinteresses desillusioniert; an ihre Stelle tritt die Idee des Fortschritts: Wahr ist, was dem Fortschritt, d. h. der Logik der Geschichte dient. Das Interesse einerseits, der Fortschritt andererseits treten die Erbschaft des Wahrheitsbegriffs an; das "Wahre", d. h. das der Logik der Geschichte Gemäße muß jeweils in jedem Schritt der Geschichte neu erfragt werden, weil das, was sich als bleibend wahr etabliert, gerade der Widerspruch zur Logik der Geschichte, ein stehenbleibendes Herrschaftsinteresse ist.3 (Fs) (notabene)

17a Auch wenn diese beiden Standpunkte selten in der eben skizzierten schematischen Reinheit auftreten, so hat sich doch die grundsätzliche Wende weitgehend durchgesetzt, die beide hinsichtlich des Verhältnisses von Sein und Zeit zum Ausdruck bringen. Die Grundentscheidung über unsere Frage fällt nicht im materialen Disput über einzelne christliche Inhalte, sondern hier, im Bereich ihrer philosophischen Voraussetzungen. Die inhaltlichen Diskussionen bleiben zusammenhanglose Rückzugsgefechte, wo diese Frage nicht angegangen wird: Gibt es im Wandel der geschichtlichen Zeiten eine erkennbare Identität des Menschen mit sich selbst? Gibt es eine menschliche "Natur"? Gibt es die Wahrheit, die unbeschadet ihrer geschichtlichen Vermittlung in aller Geschichte wahr bleibt, weil sie wahr ist? Die Frage der Hermeneutik ist letztlich die ontologische Frage als Frage nach der Einheit der Wahrheit in der Verschiedenheit ihrer geschichtlichen Offenbarungen.4 (Fs)

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