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Autor: Voegelin, Eric

Buch: Die neue Wissenschaft der Politik

Titel: Die neue Wissenschaft der Politik

Stichwort: Theorie der Politik - Theorie der Geschichte; Repräsentation (Ermöglichung des Handelns in der Geschichte); Symbole; politische Wissenschaft heute: Studium der Institutionen (Legitimation des status quo)

Kurzinhalt: Wesen der Repräsentation selbst, als der Form, durch die eine politische Gesellschaft Existenz für ihr Handeln in der Geschichte gewinnt, vordringen. Die Analyse wird weiter zur Erforschung der Symbole vordringen

Textausschnitt: 1. Theorie der Politik - Theorie der Geschichte (eü)

17a Die Existenz des Menschen in politischer Gesellschaft ist geschichtliche Existenz. Eine Theorie der Politik, wenn sie zu den Prinzipien vorstößt, muß zu einer Theorie der Geschichte werden. Die folgenden Untersuchungen über Repräsentation, über das Zentralproblem einer Theorie der Politik, werden daher über eine bloße Beschreibung der konventionell sogenannten "repräsentativen Institutionen" hinausgehen und zum Wesen der Repräsentation selbst, als der Form, durch die eine politische Gesellschaft Existenz für ihr Handeln in der Geschichte gewinnt, vordringen. Die Analyse wird weiter zur Erforschung der Symbole fortschreiten, durch die politische Gesellschaften sich selbst als Repräsentanten einer transzendenten Wahrheit interpretieren. Und im Zuge der Symbolanalyse wird sich zeigen, daß die Reihe der Selbstinterpretationen sich als die Reihe der verstehbar aufeinanderfolgenden Phasen eines historischen Prozesses theoretisieren läßt. Die Untersuchung, die als Analyse der Repräsentationsphänomene beginnt, wird, in folgerechter Entfaltung der theoretischen Implikationen, in eine Philosophie der Geschichte ausmünden. (17; Fs) (notabene)

17b Es ist heute nicht üblich, ein theoretisches Problem der Politik bis zu dem Punkt zu verfolgen, an dem die Prinzipien der Politik mit denen einer Philosophie der Geschichte zusammentreffen. Der Versuch wird jedoch weniger als eine Neuerung in der politischen Wissenschaft erscheinen, denn als eine Er-Neuerung, wenn wir bedenken, daß die beiden Gebiete, die heute getrennt behandelt werden, untrennbar verbunden waren, als die politische Wissenschaft von Platon begründet wurde. Diese integrale Theorie der Politik wurde geboren aus der Krise der hellenischen Gesellschaft. In Krisenzeiten, wenn die Ordnung einer Gesellschaft sich auflöst, werden die Grundprobleme der politischen und historischen Existenz deutlicher als in Zeiten verhältnismäßiger Stabilität. Und seit der Antike ist, wie man generell sagen darf, die Schrumpfung der politischen Wissenschaft zu einer bloßen Beschreibung und Verteidigung der jeweils bestehenden Institutionen, d. h. die Degradierung der theoretischen Politik zur ancilla der herrschenden Mächte, typisch geblieben für stabile Situationen, während der Wuchs zu ihrer Großartigkeit als der Wissenschaft von menschlicher Existenz in Gesellschaft und Geschichte den revolutionären, kritischen Epochen vorbehalten war. In der abendländischen Geschichte hat es drei solche Epochen, begleitet von großen wissenschaftlichen Schöpfungen, gegeben: die Begründung der politischen Wissenschaft, der episteme politike, durch Platon und Aristoteles entsprang der hellenischen Krise; das Werk Augustins der Krise Roms und des Christentums; und Hegels Rechts- und Geschichtsphilosophie reflektierte das erste revolutionäre Beben der westlichen Krise. Dies sind jedoch nur die Hauptepochen und die ihnen entsprechenden, großen Gründungen und Restaurationen der politischen Wissenschaft. Die Jahrhunderte, die zwischen ihnen liegen, sind gegliedert durch kleinere Epochen und sekundäre Restaurationen - man denke z. B. für die Neuzeit an den großen Versuch Bodins in der Krise des 16. Jahrhunderts. (18; Fs)

18a Unter der Wiederherstellung, der Restauration der politischen Wissenschaft, soll das Wiedererwachen des Bewußtseins der Prinzipienfragen verstanden werden, nicht etwa die Rückkehr zu den spezifischen Inhalten eines der früheren Versuche. Die politische Wissenschaft kann heute nicht durch einen neuen Platonismus, Augustinismus oder Hegelianismus wiederhergestellt werden. Gewiß, wir haben von den Vorgängern viel über die Natur der Probleme und ihre theoretische Behandlung zu lernen; aber die Geschichtlichkeit der menschlichen Existenz, d. h. die Konkretisierung des Typischen in sinnvoller Singularität, macht eine gültige Neuformulierung der Prinzipien durch bloße Rezeption des historisch Vergangenen unmöglich. Die politische Wissenschaft kann nicht durch literarische Renaissancen wieder zum Rang einer theoretischen Wissenschaft im strengen Sinn erhoben werden. Ihre Prinzipien müssen durch ein Werk der Theoretisierung wiedergewonnen werden, das von der konkreten, historischen Situation unserer Zeit ausgeht und unser heutiges empirisches Wissen in seinem vollen Umfang in Betracht zieht. (18f; Fs)

19a Wenn die Bedingungen der Aufgabe in dieser Form gestellt werden, mag ihre Lösung als hoffnungslos erscheinen angesichts der Materialmassen, die uns heute von den empirischen Gesellschafts- und Geschichtswissenschaften zur Verfügung gestellt werden. Der erste Eindruck ist jedoch irreführend. Die Schwierigkeiten der Aufgabe dürfen gewiß nicht unterschätzt werden, aber ihre Lösung ist heute durch die Vorarbeiten des letzten Halbjahrhunderts in den Bereich des Möglichen gerückt. Seit nunmehr zwei Generationen sind die Wissenschaften vom Menschen und der Gesellschaft in einem Prozeß theoretischer Erneuerung begriffen. Und die Bewegung, die in ihren Anfängen langsam war, aber nach dem ersten Weltkrieg sich beschleunigte, schreitet heute mit atemberaubender Geschwindigkeit voran. Die Aufgabe nähert sich ihrer Durchrführbarkeit, weil sie durch die konvergente Theoretisierung der relevanten Materialien in den Einzelwissenschaften zu einem sehr erheblichen Teil schon durchgeführt ist. Die vorliegenden Untersuchungen über Repräsentation wollen den Leser in eine Entwicklung der politischen Wissenschaft einführen, die der breiten Öffentlichkeit noch wenig bekannt geworden ist; und sie wollen weiterhin zeigen, daß die monographische Erforschung der Probleme in der Tat so weit gediehen ist, daß die Anwendung von Resultaten auf ein theoretisches Grundproblem der Politik zumindest versucht werden kann. (19f; Fs)

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