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Autor: Thomas, Aquin von

Buch: Wesen und Ausstattung des Menschen

Titel: F1_076 - Die Seele in ihrer Vereinigung mit dem Körper

Stichwort: F1_076a8c; Ganzheit d. Seele in jedem Teil d. Körpers? Vereinigung v. Seele/Leib: nicht als Beweger, sondern substantielle Form (Wirklichkeit); akzidentelle Form (Beispiel: Haus); dreifache Teilung u. Ganzheit (Größe [BeispieL Weiß], Begriff, Kraft)

Kurzinhalt: genügt es zu sagen, daß die Seele ganz in jedem Teile des Körpers ist nach der Ganzheit der Vollkommenheit und der Wesenheit, nicht aber nach der Kräfteganzheit. Denn sie ist nicht mit einem jeden ihrer Vermögen in jedwedem Teil des Leibes, sondern ...

Textausschnitt: ANTWORT: Wäre die Seele, wie an anderen Stellen schon gesagt worden ist, mit dem Leibe nur als Beweger vereint (75, 1), so könnte man sagen, sie sei nicht in jedem Teile des Leibes, sondern nur in dem einen, durch den sie die anderen bewegt. — Weil aber die Seele mit dem Leib als Form vereint ist, muß sie sowohl im ganzen Körper als auch in jedem Teil des Körpers sein. Sie ist nämlich nicht eine akzidentelle Form des Körpers, sondern die substantielle Form. Die substantielle Form ist aber nicht nur die Vollkommenheit des Ganzen, sondern auch jedweden Teiles. Da nämlich das Ganze aus Teilen besteht, so ist jene Form des Ganzen, die nicht den einzelnen Teilen des Körpers das Sein gibt, eine Form, die nur Zusammensetzung und Ordnung ist, wie die Form eines Hauses. Und eine solche Form ist nur eine akzidentelle Form. Die Seele ist aber substantielle Form; deshalb ist sie notwendig nicht nur Form und Wirklichkeit des Ganzen, sondern auch jedweden Teiles. Wie man daher, wenn die Seele geschieden ist, die Leiche nur mehr dem Namen nach als Tier oder Mensch bezeichnet, in der Weise, wie man von einem gemalten oder steinernen Tier spricht, so ist es auch mit Hand und Auge, Fleisch und Bein, wie der Philosoph sagt. Zeichen dessen ist, daß nach dem Scheiden der Seele kein Teil des Körpers seine eigentümliche Verrichtung mehr hat, während doch alles, was seine Artbestimmung behält, auch die der Art entsprechende Tätigkeit behält. — Die Wirklichkeit ist aber in dem, dessen Wirklichkeit sie ist. Deshalb muß die Seele im ganzen Körper und in jedem seiner Teile sein. (Fs)

Daß sie ganz in jedem seiner Teile ist, läßt sich auch aus folgendem ersehen. Da immer nur ein Ganzes in Teile zerfällt, gibt es, wie eine dreifache Teilung so auch eine dreifache Ganzheit. Es gibt ein Ganzes, das in Größenteile zerfällt, wie eine ganze Linie oder ein ganzer Körper. Ein anderes Ganzes läßt sich zerlegen in Begriffs- und Wesensteile. So läßt sich das begrifflich Bestimmte in die Teile der Begriffsbestimmung, und das Zusammengesetzte in Stoff und Form auflösen. Ein drittes Ganzes ist das der Kräfte, das in die einzelnen Teilkräfte zerfällt. (Fs)

Die erste Art der Ganzheit kommt den Formen nicht zu, es sei denn nebenbei, und zwar nur jenen Formen, die ein unterschiedsloses Verhalten dem Größenganzen und seinen Teilen gegenüber haben. So verhält sich die Weiße, soweit es auf ihr Wesen ankommt, gleichmäßig, ob sie nun all der ganzen Oberfläche oder an irgendeinem Teil der Oberfläche ist. Deshalb wird bei einer Teilung der Oberfläche die Weiße nur nebenbei geteilt. Eine Form aber, die eine Verschiedenheit der Teile verlangt, wie die Seele und namentlich die Seele der vollkommenen Sinnenwesen,1 verhält sich nicht gleichmäßig zum Ganzen und zu den Teilen. Deshalb wird sie auch durch die Teilung der Ausdehnung nicht nebenbei geteilt. Es kann also die Größenganzheit weder an sich noch nebenbei der Seele zugesprochen werden. — Die zweite Ganzheit jedoch, die die Vollkommenheit des Begriffes und der Wesenheit berücksichtigt, kommt den Formen eigentlich und an sich zu. Ebenso auch die Kräfteganzheit; denn die Form ist Grund der Tätigkeit. (Fs)

Wenn also gefragt würde, ob die Weiße ganz an der ganzen Oberfläche und an jedem ihrer Teile ist, müßte man unterscheiden: denkt man an die Größenganzheit, die der Weiße nur nebenbei zukommt, so ist sie nicht ganz an jedem Teil der Oberfläche. Dasselbe ist von der Kräfteganzheit zu sagen. Denn mehr vermag den Gesichtssinn eine Weiße zu bewegen, die an der ganzen Oberfläche ist, als eine Weiße, die nur an einem Teilchen derselben ist. Ist aber die Ganzheit der Art und der Wesenheit gemeint, so ist die ganze Weiße an jedem Teile der Oberfläche. (Fs)

Weil nun aber, wie [eben] gesagt wurde, die Seele die Größenganzheit weder an sich, noch nebenbei besitzt, genügt es zu sagen, daß die Seele ganz in jedem Teile des Körpers ist nach der Ganzheit der Vollkommenheit und der Wesenheit, nicht aber nach der Kräfteganzheit. Denn sie ist nicht mit einem jeden ihrer Vermögen in jedwedem Teil des Leibes, sondern mit dem Gesichtssinn im Auge, mit dem Gehör im Ohr usw. (Fs)

Man muß jedoch beachten, daß die Seele, weil sie eine Verschiedenheit der Teile verlangt, sich nicht auf dieselbe Weise zum Ganzen und zu den Teilen verhält, sondern zum Ganzen zuerst und an sich als zu dem ihr eigentümlichen und angemessenen Vervollkommnungsfähigen; zu den Teilen jedoch erst nachher, sofern diese eine Hinordnung auf das Ganze haben. (Fs)

Ad objectiones
Zu 1. Der Philosoph spricht von der Bewegkraft der Seele [nicht von der Seele selbst] [55]. (Fs)

Zu 2. Die Seele ist die Wirklichkeit eines gegliederten Körpers als des ersten und angemessenen Vervollkommnungsfähigen.2

Zu 3. Lebewesen ist, was sich zusammensetzt aus einer Seele und einem ganzen Körper, der ihr erstes und angemessenes Vervollkommnungsfähiges ist. Auf solche Weise ist aber die Seele nicht im Teil. Deshalb braucht auch der Teil des Lebewesens nicht Lebewesen zu sein. (Fs)

Zu 4. Die Seele besitzt einige Vermögen, sofern sie über die ganze Fassungskraft des Körpers hinausgeht, nämlich Verstand und Willen. Deshalb sagt man von diesen Vermögen, sie seien in keinem Teile des Körpers. Andere Vermögen jedoch sind der Seele und dem Leib gemeinsam;3 weshalb nicht jedes von diesen Vermögen überall dort zu sein braucht, wo die Seele ist, sondern einzig in jenem Teil des Körpers, der der Tätigkeit eines solchen Vermögens angemessen ist. (Fs)
Zu 5. Der eine Teil des Körpers wird wichtiger genannt als der andere, je nach der
Verschiedenheit der Vermögen, deren Organe die Teile des Körpers sind. Denn der wichtigere Teil des Körpers ist der, der das Organ des wichtigeren Vermögens ist oder auch demselben Vermögen wichtigere Dienste leistet. (Fs; E12; 24.01.2012)

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