Datenbank/Lektüre


Autor: Thomas, Aquin von

Buch: Wesen und Ausstattung des Menschen

Titel: Kommentar zu: Thomas Summa Thomasausgabe Band06

Stichwort: Kommentar zu F1_075a1/2; Individuation (Stoff, materia prima, Quantität, Ausdehnung)

Kurzinhalt: Der Stoff, der die Körpersubstanz der Zahl nach unterscheidet und vereinzelt, ist also nicht der Stoff an und für sich... Dies ist vielmehr der durch die Hinordnung zur Ausdehnung bestimmte und geteilte Stoff.

Textausschnitt: Der Stoff als Grund der Vereinzelung

486b Was die "Teilung des Stoffes gemäß der Ausdehnung", bzw. den durch die Ausdehnung bezeichneten Stoff als Grund (wurzelhaften Grund, principium individuationis radicale) der Einzelheit körperlicher, aus Stoff und Form zusammengesetzter Substanzen angeht, sei, da Thomas immer wieder davon spricht, folgendes bemerkt. Der Stoff ist an und für sich der allen körperlichen Substanzen gemeinsame, ganz unbestimmte Untergrund. In den Einzeldingen jedoch vervielfältigt er die Form und die ganze Substanz rein der Zahl nach, ohne eine Artveränderung zu verursachen, weil er die artbestimmenden Formen nicht als solche, sondern rein dem aufnehmenden Untergrund nach voneinander verschieden macht: die Form ist diese und jene, einzig weil sie in diesem und jenem Stoffe ist; jede hat zu einem durch die Ausdehnung bezeichneten Stoff eine wesenhafte Beziehung, die ihr innerlich ist und ihr bleibt, auch dann, wenn sie, wie die Menschenseele, vom Stoff getrennt wird. Dieser Stoff verhindert auch als letzter unmitteilbarer Untergrund jede weitere Vervielfältigung: er macht die Substanz zu einer unteilbaren und an weitere Untergeordnete unmitteilbaren; und das heißt: er macht sie zum Einzelding. Denn Einzelding ist das an Untergeordnete Unmitteilbare (die Art dagegen ist an Untergeordnete, an Einzeldinge mitteilbar, das Menschsein z. B. an die einzelnen Menschen). Der Stoff, der die Körpersubstanz der Zahl nach unterscheidet und vereinzelt, ist also nicht der Stoff an und für sich. Denn dieser ist unbestimmt und allen körperlichen Dingen gemeinsam; er kann daher als solcher nicht Grund der Einzelheit, Grund des zahlenmäßigen Unterschiedes sein. Dies ist vielmehr der durch die Hinordnung zur Ausdehnung bestimmte und geteilte Stoff. Unter allen Akzidentien unterscheidet nämlich einzig die Ausdehnung durch ihr Wesen sich selbst der Zahl nach von jeder andern Ausdehnung derselben Art, und zwar durch die Stellung, die Ordnung des Nebeneinander; aus ihrem Wesen heraus besagt die Ausdehnung Teile, die durch die bloße Stellung schon der Zahl nach voneinander verschieden sind. Sie hat also aus sich selbst eine Weise der Vereinzelung. Daher ist sie notwendige Bedingung zur Vereinzelung der Substanz als ganz allgemein geforderte Ausdehnung, die die Stoffteile bezeichnet und als geteilte Ausdehnung sie voneinander abteilt. Unter dieser Voraussetzung dient der Stoff als Grund der Einzelheit. Denn durch sein eigenes Wesen (als letzter Untergrund) ist er jetzt jedem anderen Stoff, von dem er abgeteilt ist, unmitteilbar; er ist daher auch durch sich selbst vereinzelt und geeignet, die Form und die Substanz zu vereinzeln. Wodurch besitzt aber der Stoff die Hinordnung zur Ausdehnung, durch die er imstande ist, Grund der Einzelheit zu sein? Um dies zu erkennen, muß man auf die Erzeugung der körperlichen Substanz zurückgehen. Nach thomistischer Lehre verliert bei der Erzeugung einer Substanz jedesmal eine andere ihre substantielle Form, während der erste Stoff zurückbleibt und den Untergrund bildet für die substantielle Form, die der neuen Substanz die Artbestimmtheit gibt. Die Erzeugung eines Wesens bedeutet also immer die Zerstörung eines andern. Es findet eine Auflösung bis zum ersten Stoff statt, so daß weder eine substantielle noch eine akzidentelle Form verbleibt. Sobald aber die bisherige substantielle Form und deren akzidentelle Formen aufhören, den Stoff zu bestimmen, wird vom Erzeugenden alsogleich eine neue substantielle Form mit den ihr entsprechenden akzidentellen Formen hervorgebracht. Nun geht aber der Zerstörung der alten Substanz stets eine beschaffenheitliche Veränderung vorher, durch die an der zu zerstörenden Substanz Akzidentien hervorgebracht werden, die diesen Untergrund so zubereiten, daß er seine substantielle Form verlieren muß, um eine andere zu erwerben. Deshalb werden diese Akzidentien die vorhergehenden Stoffzubereitungen genannt. Sie gehen zwar auch mit der alten substantiellen Form unter. Kraft dieser untergehenden Zubereitungen jedoch ist der Stoff genügend vorbereitet, die neue substantielle Form mit den ihr entsprechenden Akzidentien aufzunehmen. Denn dadurch, daß das Erzeugende an der zu zerstörenden Substanz allmählich immer mehr und mehr die der zu erzeugenden Substanz entsprechenden Beschaffenheiten hervorbringt als vorhergehende Stoffzubereitung für die neue substantielle Form, gelangt das Erzeugende dazu, durch die Zeugungstat die neue Substanz zu verursachen und mit ihr auch deren eigentümliche Beschaffenheiten und sonstige Akzidentien als nächste Stoffzubereitung für die neue Form. So steigert z. B. die elektrische Kraft, die Wasser zersetzt, an dem einen Teil der Wassermolekel immer mehr und mehr die dem Wasserstoff zukommende, an dem andern Teil ebenso die dem Sauerstoff zukommende Beschaffenheit. Die der je zuhöchst gesteigerten Beschaffenheit entsprechende neue Beschaffenheit aber wird von der elektrischen Kraft im Augenblick der Zeugung an den neu entstandenen Substanzen von Wasserstoff und Sauerstoff hervorgebracht als nächste Stoffzubereitung für deren Formen. Diese die Aufnahme der neuen substantiellen Form begleitenden nächsten Stoffzubereitungen sind die eigentümlichen Akzidentien der neuen Substanz, die mit ihr fest verknüpft sind und endgültig ihren Stoff geeignet machen für die neue substantielle Form. Sie sind die Vollendung der vorhergehenden Stoffzubereitungen. Als stofflich vorbereitende Ursachen gehen sie der Form vorher; diese hängt von ihnen ab, denn sie kann dem Stoff die neue Wirklichkeit nur geben kraft dieser Akzidentien. Umgekehrt aber werden dieselben Akzidentien von der substantiellen Form verursacht und hängen von ihr ab als von ihrer Formalursache im Sein: die Ursachen sind sich gegenseitig Ursachen (vgl. Anm. [52]). (Fs)

488a Nun geht aber unter den Akzidentien selbst die Ausdehnung als das erste Akzidens allen übrigen als Zubereitung zu ihnen vorher. Denn nur mittels der Ausdehnung kommen die übrigen körperlichen Akzidentien der Substanz zu. Der Stoff ist nämlich nur zubereitet zu dieser der Zahl nach bestimmten Form, weil er zubereitet ist zu dieser Ausdehnung, ebenso wie er nur zubereitet ist zu dieser Art von Form, weil er zu den Akzidentien zubereitet ist, die von dieser Art gefordert sind. Infolgedessen ist der Stoff schon unterschieden von dem übrigen Stoff und geschieden, d. h. als abzuteilend gezeichnet, bevor die neue Ausdehnung tatsächlich da ist, ja auch bevor die neu zu erzeugende substantielle Form da ist, weil er kraft der vorhergegangenen Stoffzubereitung sich gerade auf diese Ausdehnung bezieht und sie fordert. So ist, wenn Wasser zersetzt wird, der Stoff der Wassermolekel durch die vorhergegangene Steigerung der dem Wasserstoff und dem Sauerstoff entsprechenden Beschaffenheiten in zwei Teile geschieden, deren einer nun Wasserstoff und der andere Sauerstoff wird. Ebenso ist, wenn ein Mensch stirbt, sein Stoff in viele Teile geschieden, entsprechend den organischen Stoffen, die dann entstehen. Das Gezeichnetwerden durch die Ausdehnung geschieht demnach nicht durch die dem Ding tatsächlich innehaftende Ausdehnung, denn Größe und Gestalt können wechseln am Einzelding, dieses bleibt aber dennoch dasselbe. Das Gezeichnetsein [eg: geschieht] vielmehr in einer wesenhaften Beziehung des Stoffes zu einer nicht bestimmt begrenzten Ausdehnung, d. h. zur Ausdehnung, sofern sie auf die Einzelheitsbestimmung einen Einfluß hat, nicht nach ihrer bestimmten Größe und Gestalt, sondern einzig als durch die Stellung von jeder andern Ausdehnung unterschiedene und geschiedene. (Fs)

Kommentar (23.11.11): zu oben: "Der Stoff ist nämlich nur zubereitet zu dieser der Zahl nach bestimmten Form ..." Kann die Form der Zahl nach bestimmt sein?
Zum Beispiel mit dem Wasser: wie in der Infinitesimalrechnung sind die Übergänge nicht zu fassen.

488b In solcher Weise läßt die thomistische Philosophie den durch die Ausdehnung gezeichneten Stoff wurzelhaften Grund der Einzelheit und damit Grund der zahlenmäßigen Vervielfältigung der körperlichen Substanzen innerhalb derselben Art sein. Die Ausdehnung ist nicht der Grund der Einzelheit, sie ist nur die Bedingung dazu, daß der Stoff als Grund der Einzelheit dienen kann. — Wo aber die Ausdehnung fehlt, so sagt Thomas, da kann auch von einer zahlenmäßigen Vervielfältigung der Substanzen innerhalb derselben Art keine Rede sein, da sind die einzelnen Substanzen artlich verschieden, selbst wenn sie, wie die Franziskanertheologen wollen, aus Form und (unausgedehntem) Stoff zusammengesetzt sein sollten (vgl. zum Ganzen GrPh 1, 236 ff.; ferner G. M. Manser, Das Wesen des Thomismus, 1935, S. 617 ff.; J. Assenmacher, Die Geschichte des Individuationsprinzips in der Scholastik, 1926). (Fs)

____________________________

Home Sitemap Lonergan/Literatur Grundkurs/Philosophie Artikel/Texte Datenbank/Lektüre Links/Aktuell/Galerie Impressum/Kontakt