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Autor: Ratzinger, Joseph

Buch: Werte in Zeiten des Umbruchs

Titel: Werte in Zeiten des Umbruchs

Stichwort: Chancen und Gefahren für Europa; gemeinsame Identität statt trennender Nationalismen

Kurzinhalt: Es ist kein Zweifel, dass bei den Gründervätern der europäischen Einigung das christliche Erbe als Kern dieser geschichtlichen Identität angesehen wurde, natürlich nicht in konfessionellen Formen ...

Textausschnitt: 1. Statt trennender Nationalismen, eine gemeinsame Identität

89b Europa war immer schon ein Kontinent der Kontraste gewesen, von vielfältigen Konflikten erschüttert. Das 19. Jahrhundert hatte dann die Ausbildung der Nationalstaaten mit sich gebracht, deren konkurrierende Interessen dem zerstörerischen Gegeneinander eine neue Dimension gegeben hatten. Das Werk des europäischen Zusammenschlusses war im Wesentlichen von zwei Motivationen bestimmt. Gegenüber den trennenden Nationalismen und gegenüber den hegemonistischen Ideologien, die im Zweiten Weltkrieg das Gegeneinander radikalisiert hatten, sollte das gemeinsame kulturelle, moralische und religiöse Erbe Europas das Bewusstsein seiner Nationen prägen und als die gemeinsame Identität aller seiner Völker den Weg des Friedens, einen gemeinsamen Weg in die Zukunft eröffnen. Es ging um eine europäische Identität, die die nationalen Identitäten nicht auslöschen und nicht leugnen, aber sie doch in einer höheren Gemeinsamkeit zu einer einzigen Völkergemeinschaft verbinden sollte. Die gemeinsame Geschichte sollte als Frieden stiftende Kraft aktiviert werden. Es ist kein Zweifel, dass bei den Gründervätern der europäischen Einigung das christliche Erbe als Kern dieser geschichtlichen Identität angesehen wurde, natürlich nicht in konfessionellen Formen; das Gemeinchristliche schien über die konfessionellen Grenzen hinweg als verbindende Kraft weltlichen Handelns durchaus erkennbar. Es wurde auch nicht als unvereinbar mit den großen moralischen Impulsen der Aufklärung angesehen, die sozusagen die rationale Seite des Christlichen herausgestellt hatten und bei allen historischen Gegensätzen durchaus mit den wesentlichen Impulsen der christlichen Geschichte Europas vereinbar schien. Im einzelnen ist dieses das Drama der konfessionellen Spaltungen und das Ringen der Aufklärung umspannende Bewusstsein wohl nie ganz deutlich geklärt worden; insofern blieben hier Fragen stehen, die der Bearbeitung harren. Im Augenblick des Aufbruchs war aber die Überzeugung von der Vereinbarkeit der großen Bauelemente des europäischen Erbes stärker als die Fragen, die sich dabei ergaben. (Fs)

90a Mit diesem historischen und moralischen Element, das am Anfang des europäischen Zusammenschlusses stand, verband sich aber auch eine zweite Motivation. Die europäische Vorherrschaft über die Welt, die sich besonders im Kolonialsystem und den entsprechenden wirtschaftlichen wie politischen Verflechtungen ausgedrückt hatte, war mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs definitiv zerbrochen: In diesem Sinn hatte Europa als Ganzes den Krieg verloren. Amerika stand nun als beherrschende Macht auf der Bühne der Weltgeschichte, aber auch das geschlagene Japan wurde zu einer ebenbürtigen Wirtschaftsmacht, und schließlich bildete die Sowjetunion mit ihren Satellitenstaaten ein Imperium, auf das sich vor allem die Staaten der dritten Welt gegenüber Amerika und Westeuropa zu stützen versuchten. (Fs)

91a In dieser neuen Situation konnten die einzelnen europäischen Staaten nicht mehr als ebenbürtige Partner auftreten. Die Bündelung ihrer Interessen in einem gemeinsamen europäischen Gefüge war notwendig, wenn Europa überhaupt weltpolitisch Gewicht behalten wollte. Die nationalen Interessen mussten sich zusammenfügen in ein gemeinsames europäisches Interesse. Neben der Suche nach einer Frieden stiftenden gemeinsamen, aus der Geschichte kommenden Identität, stand die Selbstbehauptung gemeinsamer Interessen, stand also der Wille zu wirtschaftlicher Macht, die die Vorbedingung politischer Macht darstellt. Im Lauf der Entwicklung der letzten fünfzig Jahre ist immer mehr dieser zweite Aspekt der europäischen Einigung dominant, ja, fast ausschließlich bestimmend geworden. Die gemeinsame europäische Währung ist der deutlichste Ausdruck für diese Sinngebung des europäischen EinigungsWerkes: Europa stellt sich als eine wirtschaftliche und monetäre Ganzheit dar, die als solche an der Gestaltung der Geschichte teilnimmt und ihren eigenen Platz behauptet. (Fs)

91b Karl Marx hat die These vertreten, dass Religionen und Philosophien nur ideologische Überbauten wirtschaftlicher Verhältnisse seien. Das stimmt in dieser Weise sicher nicht, eher müsste man von einer Wechselwirkung sprechen: Geistige Einstellungen bestimmen wirtschaftliches Verhalten, wirtschaftliche Situationen wirken dann wieder prägend auf die religiösen und moralischen Sichtweisen zurück. Im Aufbau der Wirtschaftsmacht Europa war - nach den mehr ethisch und religiös bestimmten Anfängen - immer ausschließlicher das ökonomische Interesse bestimmend. (Fs)

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