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Autor: Ratzinger, Joseph

Buch: Werte in Zeiten des Umbruchs

Titel: Werte in Zeiten des Umbruchs

Stichwort: Europa heute; Ungenügen einer bloß wirtschaftlichen Gemeinschaft; Unbedingtheit der Menschenwürde u. Menschenrechte; Ehe und Familie - homosexuelle Lebensgemeinschaften; Multikulturalität - Absage an das Eigene

Kurzinhalt: Europa braucht, um zu überleben, eine neue - gewiss kritische und demütige - Annahme seiner selbst, wenn es überleben will. Die immer wieder leidenschaftlich geforderte Multikulturalität ist manchmal vor allem Absage an das Eigene ...

Textausschnitt: 4. Wo stehen wir heute?

84a So stehen wir vor der Frage: Wie soll es weitergehen? Gibt es in den gewaltigen Umbrüchen unserer Zeit eine Identität Europas, die Zukunft hat und zu der wir von innen her stehen können? Für die Väter der europäischen Einigung nach den Verwüstungen des Zweiten Weltkriegs - Adenauer, Schumann, de Gasperi - war es klar, dass es eine solche Grundlage gibt und dass sie im christlichen Erbe unseres durch das Christentum gewordenen Kontinents besteht. Für sie war klar, dass die Zerstörungen, mit denen uns die Nazidiktatur und die Diktatur Stalins konfrontierten, gerade auf der Abstoßung dieser Grundlage beruhten - auf einer Hybris, die sich dem Schöpfer nicht mehr unterwarf, sondern beanspruchte, selbst den besseren, den neuen Menschen zu schaffen und die schlechte Welt des Schöpfers umzumontieren in die gute Welt, die aus dem Dogmatismus der eigenen Ideologie entstehen sollte. Für sie war klar, dass diese Diktaturen, die eine ganz neue Qualität des Bösen hervorbrachten, weit über alle Greuel des Krieges hinaus, auf der gewollten Abschaffung Europas beruhten und dass man wieder zu dem zurückkehren müsse, was diesem Kontinent in allen Leiden und Verfehlungen seine Würde gegeben hatte. (Fs)

Der anfängliche Enthusiasmus der neuen Zuwendung zu den großen Konstanten des christlichen Erbes ist schnell verflogen, und die europäische Einigung hat sich dann zunächst fast ausschließlich unter wirtschaftlichen Aspekten vollzogen, unter weitgehender Ausklammerung der Frage nach den geistigen Grundlagen einer solchen Gemeinschaft. (Fs)

84b In den letzten Jahren ist das Bewusstsein dafür wieder gewachsen, dass die wirtschaftliche Gemeinschaft der europäischen Staaten auch einer Grundlage gemeinsamer Werte bedarf: Das Anwachsen der Gewalt, die Flucht in die Droge, das Zunehmen der Korruption lässt uns sehr fühlbar werden, dass der Werteverfall durchaus auch materielle Folgen hat und dass Gegensteuerung notwendig ist. Ich möchte hier nicht in eine Diskussion der inzwischen vorliegenden europäischen Verfassung eintreten, aber drei wesentliche Elemente benennen, die meiner Überzeugung nach dort nicht fehlen dürfen, wenn sie ihrem Auftrag gerecht werden will, der sich bildenden gemeinschaftlichen Gestalt Europas, seinem politischen und wirtschaftlichen Handeln, die moralische Grundlage zu geben, derer sie bedarf und die den großen Imperativen ihrer Geschichte entspricht. (Fs)

85a Das erste ist die Unbedingtheit, mit der Menschenwürde und Menschenrechte als Werte erscheinen müssen, die jeder staatlichen Rechtssetzung vorangehen. Günter Hirsch hat mit Recht betont, dass diese Grundrechte nicht vom Gesetzgeber geschaffen noch den Bürgern verliehen werden, "vielmehr existieren sie aus eigenem Recht, sie sind seit je vom Gesetzgeber zu respektieren, ihm vorgegeben als übergeordnete Werte."1 Diese allem politischen Handeln und Entscheiden vorangehende Gültigkeit der Menschenwürde verweist letztlich auf den Schöpfer: Nur er kann Rechte setzen, die im Wesen des Menschen gründen und für niemanden zur Disposition stehen. Insofern ist hier wesentlich christliches Erbe in seiner besonderen Art von Gültigkeit kodifiziert. Dass es Werte gibt, die für niemanden manipulierbar sind, ist die eigentliche Gewähr unserer Freiheit und menschlicher Größe; der Glaube sieht darin das Geheimnis des Schöpfers und der von ihm dem Menschen verliehenen Gottebenbildlichkeit. So schützt dieser Satz ein Wesenselement der christlichen Identität Europas in einer auch dem Ungläubigen verstehbaren Formulierung. (Fs)

85b Nun wird heute kaum jemand direkt die Vorgängigkeit der Menschenwürde und der grundlegenden Menschenrechte vor allen politischen Entscheiden verleugnen; zu kurz liegen noch die Schrecknisse des Nazismus und seiner Rassenlehre zurück. Aber im konkreten Bereich des sogenannten medizinischen Fortschritts gibt es sehr reale Bedrohungen dieser Werte: Ob wir an die Klonation, an die Vorratshaltung menschlicher Föten zum Zweck der Forschung und der Organspende, an den ganzen Bereich der genetischen Manipulation denken - die stille Auszehrung der Menschenwürde, die hier droht, kann niemand übersehen. Dazu kommen in wachsendem Maß der Menschenhandel, neue Formen der Sklaverei, das Geschäft mit menschlichen Organen zum Zweck der Transplantation. Immer werden natürlich "gute Zwecke" vorgebracht, um das zu rechtfertigen, was nicht zu rechtfertigen ist. (Fs)

86a Fassen wir zusammen: Die Festschreibung von Wert und Würde des Menschen, von Freiheit, Gleichheit und Solidarität mit den Grundsätzen der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit schließt ein Menschenbild, eine moralische Option und eine Idee des Rechts ein, die sich keineswegs von selbst verstehen, aber in der Tat grundlegende Identitätsfaktoren Europas sind, die auch in ihren konkreten Konsequenzen verbürgt werden müssten und freilich nur verteidigt werden können, wenn sich ein entsprechendes moralisches Bewusstsein immer neu bildet. (Fs)

Ich komme zu einem zweiten Punkt, der für die europäische Identität wesentlich ist: Ehe und Familie. Die monogame Ehe ist als grundlegende Ordnungsgestalt des Verhältnisses von Mann und Frau und zugleich als Zelle staatlicher Gemeinschaftsbildung vom biblischen Glauben her geformt worden. Sie hat Europa, dem abendländischen wie dem östlichen, sein besonderes Gesicht und seine besondere Menschlichkeit gegeben, auch und gerade weil die damit vorgezeichnete Form von Treue und von Verzicht immer wieder neu leidvoll errungen werden musste. Europa wäre nicht mehr Europa, wenn diese Grundzelle seines sozialen Aufbaus verschwände oder wesentlich verändert würde. Wir alle wissen, wie sehr Ehe und Familie heute gefährdet sind - zum einen durch die Aushöhlung ihrer Unauflöslichkeit durch immer leichtere Formen der Scheidung, zum anderen durch ein sich immer mehr ausbreitendes neues Verhalten, das Zusammenleben von Mann und Frau ohne die rechtliche Form der Ehe. (Fs)

86b In krassem Gegensatz dazu steht das Verlangen homosexueller Lebensgemeinschaften, die nun paradoxerweise eine Rechtsform verlangen, die mehr oder weniger der Ehe gleichgestellt werden soll. Mit dieser Tendenz tritt man aus der gesamten moralischen Geschichte der Menschheit heraus, die bei aller Verschiedenheit der Rechtsformen der Ehe doch immer wusste, dass diese ihrem Wesen nach das besondere Miteinander von Mann und Frau ist, das sich auf Kinder hin und so auf die Familie hin öffnet. Hier geht es nicht um Diskriminierung, sondern um die Frage, was der Mensch als Mann und Frau ist und wie das Miteinander von Mann und Frau recht geformt werden kann. Wenn einerseits ihr Miteinander sich immer mehr von rechtlichen Formen löst, wenn andererseits homosexuelle Gemeinschaft immer mehr der Ehe gleichrangig angesehen wird, stehen wir vor einer Auflösung des Menschenbildes, deren Folgen nur äußerst gravierend sein können. Dazu fehlt leider ein klares Wort in der Charta. (Fs)

87a Mein letzter Punkt betrifft den religiösen Bereich. Es würde den Rahmen der hier möglichen Ausführungen überschreiten, die großen Fragen zu diskutieren, um die in diesem Bereich gerungen wird. So beschränke ich mich auf einen Punkt, der für alle Kulturen grundlegend ist: die Ehrfurcht vor dem, was dem anderen heilig ist und die Ehrfurcht vor dem Heiligen überhaupt, vor Gott, die sehr wohl auch demjenigen zumutbar ist, der selbst nicht an Gott zu glauben bereit ist. Wo diese Ehrfurcht zerbrochen wird, geht in einer Gesellschaft Wesentliches zugrunde. In unserer gegenwärtigen Gesellschaft wird gottlob jemand bestraft, der den Glauben Israels, sein Gottesbild, seine großen Gestalten verhöhnt. Es wird auch jemand bestraft, der den Koran und die Grundüberzeugungen des Islam herabsetzt. Wo es dagegen um Christus und um das Heilige der Christen geht, erscheint die Meinungsfreiheit als das höchste Gut, das einzuschränken die Toleranz und die Freiheit überhaupt gefährden oder gar zerstören würde. Meinungsfreiheit findet aber ihre Grenze darin, dass sie Ehre und Würde des anderen nicht zerstören darf; sie ist nicht Freiheit zur Lüge oder zur Zerstörung von Menschenrechten. Hier gibt es einen merkwürdigen und nur als pathologisch zu bezeichnenden Selbsthass des Abendlandes, das sich zwar lobenswerterweise fremden Werten verstehend zu öffnen versucht, aber sich selbst nicht mehr mag, von seiner eigenen Geschichte nur noch das Grausame und Zerstörerische sieht, das Große und Reine aber nicht mehr wahrzunehmen vermag. (Fs)

88a Europa braucht, um zu überleben, eine neue - gewiss kritische und demütige - Annahme seiner selbst, wenn es überleben will. Die immer wieder leidenschaftlich geforderte Multikulturalität ist manchmal vor allem Absage an das Eigene, Flucht vor dem Eigenen. Aber Multikulturalität kann ohne gemeinsame Konstanten, ohne Richtpunkte des Eigenen nicht bestehen. Sie kann ganz sicher nicht ohne Ehrfurcht vor dem Heiligen bestehen. Zu ihr gehört es, dem Heiligen des anderen ehrfürchtig zu begegnen, aber dies können wir nur, wenn uns das Heilige, Gott, selbst nicht fremd ist. (Fs)

Gewiss, wir können und sollen vom Heiligen der anderen lernen, aber es ist gerade vor den anderen und für die anderen unsere Pflicht, selbst in uns die Ehrfurcht vor dem Heiligen zu nähren und das Gesicht des Gottes zu zeigen, der uns erschienen ist - des Gottes, der sich der Armen und Schwachen, der Witwen und Waisen, des Fremden annimmt; des Gottes, der so menschlich ist, dass er selbst ein Mensch werden wollte, ein leidender Mensch, der mit uns mitleidend dem Leiden Würde und Hoffnung gibt. Wenn wir dies nicht tun, verleugnen wir nicht nur die Identität Europas, sondern versagen auch den anderen einen Dienst, auf den sie Anspruch haben. Den Kulturen der Welt ist die absolute Profanität, die sich im Abendland herausgebildet hat, zutiefst fremd. Sie sind überzeugt, dass eine Welt ohne Gott keine Zukunft hat. Insofern ruft uns gerade die Multikulturalität wieder zu uns selber zurück. (Fs)

88b Wie es mit Europa weitergehen wird, wissen wir nicht. Die Charta der Grundrechte kann ein erster Schritt sein, dass es wieder bewusst seine Seele sucht. Toynbee ist darin Recht zu geben, dass das Schicksal einer Gesellschaft immer wieder von schöpferischen Minderheiten abhängt. Die gläubigen Christen sollten sich als eine solche schöpferische Minderheit verstehen und dazu beitragen, dass Europa das Beste seines Erbes neu gewinnt und damit der ganzen Menschheit dient. (Fs)

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