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Autor: Ratzinger, Joseph

Buch: Werte in Zeiten des Umbruchs

Titel: Werte in Zeiten des Umbruchs

Stichwort: Europa: Umbruch in die Neuzeit hinein; Eroberung Konstantinopels, Moskau (translatio imperii); Entdeckung Amerikas; Trennung d. Christen; Französische Revolution; Ablösung der alten Reichsidee, Nationen als Träger d. Geschichte

Kurzinhalt: Erstmals in der Geschichte überhaupt entsteht der rein säkulare Staat ... Auf diese Weise entsteht mit dem ausgehenden 18. und dem beginnenden 19. Jahrhundert eine neue Art von Glaubensspaltung ...

Textausschnitt: 2. Der Umbruch in die Neuzeit hinein

73a Wenn wir nach dem bisher Gesagten die Entstehung des Karolingischen Reiches einerseits, das Fortbestehen des Römischen Reiches in Byzanz und seine Slawenmission andererseits als die eigentliche Geburt des "Kontinents" Europa ansehen dürfen, so bedeutet für die beiden Europen der Beginn der Neuzeit einen Umbruch, der sowohl das Wesen dieses Kontinents wie seine geographischen Umrisse betrifft. 1453 wurde Konstantinopel von den Türken erobert. O. Hiltbrunner kommentiert dazu lakonisch: "Die letzten ... Gelehrten wanderten ... nach Italien aus und vermittelten den Humanisten der Renaissance die Kenntnis der griechischen Originale; der Osten aber versank in Kulturlosigkeit."1 Das mag etwas schroff formuliert sein, weil ja auch das Osmanische Reich seine Kultur hatte; richtig ist, dass die christlich-griechische, "europäische" Kultur von Byzanz damit ein Ende fand. (Fs)

73b So drohte damit der eine Flügel Europas zu verschwinden, aber das byzantinische Erbe war nicht tot: Moskau erklärt sich zum dritten Rom, bildet nun selbst ein eigenes Patriarchat auf der Basis der Idee einer zweiten translatio imperii und stellt sich damit als eine neue Metamorphose des Sacrum Imperium dar - als eine eigene Form von Europa, das doch dem Westen verbunden blieb und sich immer mehr an ihm orientierte, bis schließlich Peter der Große es zu einem westlichen Land zu machen versuchte. Diese Nordverschiebung des byzantinischen Europa brachte es mit sich, dass nun auch die Grenzen des Kontinents weit nach Osten in Bewegung kamen. Die Festlegung des Ural als Grenze ist durchaus willkürlich, jedenfalls wurde die Welt östlich davon immer mehr zu einer Art Hinterhaus Europas, weder Asien noch Europa, vom Subjekt Europa wesentlich geformt, ohne selbst an seinem Subjektcharakter teilzunehmen: Objekt und nicht selber Träger seiner Geschichte. Vielleicht ist damit überhaupt das Wesen eines Kolonialstatus definiert. (Fs)

74a Wir können also bezüglich des byzantinischen, nicht abendländischen Europa zu Beginn der Neuzeit von einem doppelten Vorgang sprechen: Auf der einen Seite steht das Erlöschen des alten Byzanz mit seiner historischen Kontinuität zum Römischen Reich; auf der anderen Seite erhält dieses zweite Europa mit Moskau eine neue Mitte und weitet seine Grenze nach Osten hin aus, um schließlich in Sibirien eine Art kolonialen Vorbau einzurichten. Gleichzeitig können wir im Westen ebenfalls einen doppelten Vorgang mit weitreichender historischer Bedeutung konstatieren. Ein großer Teil der germanischen Welt reißt sich los von Rom; eine neue, aufgeklärte Art des Christentums entsteht, so dass durch das "Abendland" von nun an eine Trennlinie verläuft, die deutlich auch einen kulturellen Limes, eine Grenze zweier unterschiedlicher Denk- und Verhaltensweisen bildet. Freilich gibt es auch innerhalb der protestantischen Welt Risse, zum einen zwischen Lutheranern und Reformierten, denen sich Methodisten und Presbyterianer zugesellen, während die Anglikanische Kirche einen Mittelweg zwischen katholisch und evangelisch auszubilden versucht; dazu kommt dann auch die Differenz zwischen staatskirchlich geformtem Christentum, das für Europa kennzeichnend wird und Freikirchen, die ihren Zufluchtsraum in Nordamerika finden, worüber noch zu sprechen sein wird. (Fs)

74b Achten wir zunächst noch auf den zweiten Vorgang, der die neuzeitliche Situation des ehemals lateinischen Europa wesentlich umprägt: die Entdeckung Amerikas. Der Osterweiterung Europas durch die fortschreitende Ausdehnung von Russland nach Asien entspricht der radikale Ausbruch Europas aus seinen geographischen Grenzen in die Welt jenseits des Ozean, die nun den Namen Amerika empfängt; die Teilung Europas in eine lateinisch-katholische und eine germanisch-protestantische Hälfte überträgt sich auf diesen von Europa mit Beschlag belegten Erdteil. Auch Amerika wird zunächst zu einem erweiterten Europa, zur "Kolonie", schafft sich aber gleichzeitig mit der Erschütterung Europas durch die Französische Revolution seinen eigenen Subjektcharakter: Vom 19. Jahrhundert an steht es, wenngleich tief von seiner europäischen Geburt geprägt, Europa doch als eigenes Subjekt gegenüber. (Fs) (notabene)

75a Bei dem Versuch, durch den Blick auf die Geschichte die innere Identität Europas zu erkennen, haben wir jetzt zwei grundlegende geschichtliche Umbrüche anvisiert: als erstes die Ablösung des alten mediterranen Kontinents durch den weiter nördlich angesetzten Kontinent des Sacrum Imperium, in dem sich seit der Karolingischen Epoche "Europa" als westlich-lateinische Welt bildet; daneben das Fortbestehen des alten Rom in Byzanz mit seinem Ausgriff in die slawische Welt. Wir hatten als zweiten Schritt den Fall von Byzanz und die damit erfolgende Nord- und Ost-Verschiebung des christlichen Reichsgedankens auf der einen Seite Europas beobachtet, auf der anderen Seite die innere Teilung Europas in germanisch-protestantische und lateinisch-katholische Welt, dazu den Ausgriff nach Amerika, auf das sich diese Teilung überträgt und das sich schließlich als eigenes, Europa gegenüberstehendes geschichtliches Subjekt konstituiert. (Fs)

75b Nun müssen wir einen dritten Umbruch ins Auge fassen, dessen weithin sichtbares Fanal die Französische Revolution bildete. Zwar war das Sacrum Imperium schon seit dem späten Mittelalter als politische Realität in Auflösung begriffen und auch als tragende Geschichtsdeutung immer brüchiger geworden, aber jetzt erst zerbricht auch formell dieser geistige Rahmen, ohne den sich Europa nicht hätte bilden können. Dies ist sowohl in realpolitischer wie in ideeller Hinsicht ein Vorgang von erheblicher Tragweite. In ideeller Hinsicht bedeutet dies, dass die sakrale Fundierung der Geschichte und der staatlichen Existenz abgeworfen wird: Die Geschichte misst sich nicht mehr an einer ihr vorausliegenden und sie formenden Idee Gottes; der Staat wird nunmehr rein säkular betrachtet, auf Rationalität und Bürgerwillen gegründet. Erstmals in der Geschichte überhaupt entsteht der rein säkulare Staat, der die göttliche Verbürgung und Normierung des Politischen als mythische Weltansicht ablegt und Gott selbst zur Privatsache erklärt, die nicht ins Öffentliche der gemeinsamen Willensbildung gehört. Die wird nun allein als Sache der Vernunft angesehen, für die Gott nicht eindeutig erkennbar erscheint: Religion und Glaube an Gott gehören dem Bereich des Fühlens, nicht der Vernunft zu. Gott und sein Wille hören auf, öffentlich relevant zu sein. (Fs) (notabene)
76a Auf diese Weise entsteht mit dem ausgehenden 18. und dem beginnenden 19. Jahrhundert eine neue Art von Glaubensspaltung, deren Ernst wir zusehends zu fühlen bekommen. Sie hat im Deutschen keinen Namen, weil sie hier sich langsamer ausgewirkt hat. In den lateinischen Sprachen wird sie als Spaltung zwischen "Christen" und "Laien" bezeichnet. Diese Spannung ist in den letzten zwei Jahrhunderten als ein tiefer Riss durch die lateinischen Nationen gegangen, während das protestantische Christentum es zunächst leichter hatte, liberalen und aufgeklärten Ideen in seinem Inneren Raum zu geben, ohne dass der Rahmen eines weitläufigen christlichen Grundkonsenses dabei hätte gesprengt werden müssen. (Fs) (notabene)

76b Die realpolitische Seite der Ablösung der alten Reichsidee besteht darin, dass nun definitiv die Nationen, die durch die Ausbildung einheitlicher Sprachräume als solche identifizierbar geworden waren, als die eigentlichen und einzigen Träger der Geschichte erscheinen, also einen Rang erhalten, der ihnen vorher so nicht zugekommen war. Die explosive Dramatik dieses nun pluralen Geschichtssubjekts zeigt sich darin, dass sich doch die großen europäischen Nationen mit einer universalen Sendung betraut wussten, die notwendig zum Konflikt zwischen ihnen führen musste, dessen tödliche Wucht wir in dem nun verflossenen Jahrhundert leidvoll erfahren haben. (Fs) (notabene)

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