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Autor: Ratzinger, Joseph

Buch: Werte in Zeiten des Umbruchs

Titel: Werte in Zeiten des Umbruchs

Stichwort: Zusammenfassung: Staat - Kirche; Vernunftevidenz, Vernunft - Geschichte; Ungenügen einer "reinen" Vernunft - Christentum als am meist rationale religiöse Kultur

Kurzinhalt: Demgemäß kommt dem Staat ... das, was ihn wesentlich trägt, von außen zu, nicht aus einer bloßen Vernunft, die im moralischen Bereich nicht ausreicht, sondern aus einer in historischer Glaubensgestalt gereiften Vernunft.

Textausschnitt: 4. Zusammenfassung und Ergebnisse

63a Mir scheint, das Ergebnis unseres Rundgangs durch die moderne Debatte lasse sich in folgenden sieben Aussagen zusammenfassen:
1. Der Staat ist nicht selbst Quelle von Wahrheit und Moral: Nicht aus einer ihm etwa eigenen, auf Volk oder Rasse oder Klasse oder sonst eine Größe gegründeten Ideologie, und auch nicht auf dem Weg über die Mehrheit kann er Wahrheit selbst aus sich hervorbringen. Der Staat ist nicht absolut. (Fs)

2. Das Ziel des Staates kann aber nicht in einer bloßen inhaltslosen Freiheit liegen; um eine sinnvolle und lebbare Ordnung des Miteinander zu begründen, braucht er ein Mindestmaß an Wahrheit, an Erkenntnis des Guten, die nicht manipulierbar ist. Andernfalls wird er, wie Augustinus sagt, auf die Stufe einer gut funktionierenden Räuberbande herabsinken, weil er wie diese nur vom Funktionalen her bestimmt wäre und nicht von der Gerechtigkeit, die gut ist für alle. (Fs)

3. Der Staat muss demgemäß das für ihn unerlässliche Maß an Erkenntnis und Wahrheit über das Gute von außerhalb seiner selbst nehmen. (Fs)

4. Dieses "Außerhalb" könnte günstigstenfalls die reine Einsicht der Vernunft sein, die etwa von einer unabhängigen Philosophie zu pflegen und zu hüten wäre. Praktisch aber gibt es eine solche reine, von der Geschichte unabhängige Vernunftevidenz nicht. Metaphysische und moralische Vernunft wird nur in historischem Zusammenhang wirksam, hängt von ihm ab und überschreitet ihn zugleich. Faktisch haben alle Staaten aus ihnen vorausliegenden religiösen Überlieferungen, die zugleich moralische Erziehung waren, die moralische Vernunft erkannt und angewandt. Die Vernunftoffenheit und das Maß an Erkenntnis des Guten ist freilich in den historischen Religionen sehr verschieden, wie auch die Art des Miteinander von Staat und Religion verschieden ist. Die Versuchung zur Identifizierung und damit zur religiösen Verabsolutierung des Staats, die zugleich die Religion korrumpiert, ist in der ganzen Geschichte anwesend. Aber es gibt durchaus auch positive Modelle einer Beziehung zwischen religiös gegründeter moralischer Erkenntnis und staatlicher Ordnung. Man darf sogar sagen, dass sich in den großen religiösen und staatlichen Bildungen ein Grundkonsens über wichtige Elemente des moralisch Guten zeigt, der auf eine gemeinsame Vernünftigkeit verweist. (Fs)

5. Als am meisten universale und rationale religiöse Kultur hat sich der christliche Glaube erwiesen, der auch heute der Vernunft jenes Grundgefüge an moralischer Einsicht darbietet, das entweder zu einer gewissen Evidenz führt oder wenigstens einen vernünftigen moralischen Glauben begründet, ohne den eine Gesellschaft nicht bestehen kann. (Fs)

6. Demgemäß kommt dem Staat - wie wir schon sagten - das, was ihn wesentlich trägt, von außen zu, nicht aus einer bloßen Vernunft, die im moralischen Bereich nicht ausreicht, sondern aus einer in historischer Glaubensgestalt gereiften Vernunft. Es ist wesentlich, dass dieser Unterschied nicht aufgehoben wird: Die Kirche darf sich nicht selbst zum Staat erheben oder als Machtorgan in ihm oder über ihn wirken wollen. Dann macht sie sich selbst zum Staat und bildet so den absoluten Staat, den sie gerade ausschließen soll. Sie würde durch die Verschmelzung mit dem Staat das Wesen des Staates und ihr eigenes Wesen zerstören. (Fs) (notabene)

7. Die Kirche bleibt für den Staat ein "Außen". Nur dann sind beide, was sie sein sollen. Sie muss ebenso an ihrem Ort und an ihrer Grenze bleiben wie der Staat. Sie muss sein Eigenwesen und seine eigene Freiheit respektieren, gerade damit sie ihm den Dienst tun kann, dessen er bedarf. Sie muss aber auch alle Kraft aufbieten, damit in ihr jene moralische Wahrheit leuchtet, die sie dem Staat anbietet und die für die Bürger des Staates einsichtig werden soll. Nur wenn in ihr selbst diese Wahrheit Kraft hat und die Menschen formt, kann sie auch andere überzeugen und eine Kraft für das Ganze werden1. (Fs)

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