Datenbank/Lektüre


Autor: Ratzinger, Joseph

Buch: Werte in Zeiten des Umbruchs

Titel: Werte in Zeiten des Umbruchs

Stichwort: Staat (Aufgabe: Ordnung, Recht - nicht Glück, Paradies); Paulus (Römerbrief) - Staat; Nationalsozialismus, Marxismus: Verneinung d. Sts (Volkswill, klassenlose Gesellschaft)

Kurzinhalt: Der Staat garantiert das Recht als die Bedingung der Freiheit und des gemeinsamen Wohlstands... Nicht ist es Aufgabe des Staates, das Glück der Menschheit herbeizuführen ...

Textausschnitt: 2. Wozu Staat?

54a Die Fraglichkeit einer streng relativistischen Position ist damit wohl deutlich geworden. Auf der anderen Seite ist uns die Problematik einer Position, die Wahrheit auch für die demokratische Praxis als grundlegend und erheblich ansieht, heute wohl allen bewusst; zu tief ist uns die Furcht vor Inquisition und vor Vergewaltigung der Gewissen eingebrannt. Wie soll man diesem Dilemma entfliehen? Fragen wir zunächst einmal danach, was der Staat eigentlich ist; wozu er da ist und wozu nicht. Dann wollen wir einen Blick auf die verschiedenen Antworten zu dieser Frage werfen und schließlich versuchen, uns von ihnen aus zu einer abschließenden Antwort vorzutasten. (Fs)

54b Was also ist der Staat? Wozu dient er? Wir könnten ganz schlicht sagen: Die Aufgabe des Staates ist es, "das menschliche Miteinander in Ordnung zu halten"1, also einen solchen Ausgleich der Freiheit und der Güter zu schaffen, dass jeder ein menschenwürdiges Leben führen kann. Wir könnten auch sagen: Der Staat garantiert das Recht als die Bedingung der Freiheit und des gemeinsamen Wohlstands. Zum Staat gehört deshalb zum Einen, dass regiert werde; zum Anderen aber, dass dieses Regieren nicht einfach Ausübung von Macht, sondern Schutz des Rechtes eines jeden Einzelen und des Wohlergehens aller sei. Nicht ist es Aufgabe des Staates, das Glück der Menschheit herbeizuführen, und nicht ist es daher seine Aufgabe, neue Menschen zu erschaffen. Es ist ferner nicht seine Aufgabe, die Welt in ein Paradies zu verwandeln, und er kann es auch nicht; wenn er es dennoch versucht, setzt er sich absolut und verlässt dann seine Grenzen. Er benimmt sich dann, als ob er Gott wäre, und er wird dadurch - wie die Apokalypse zeigt - zum Tier aus dem Abgrund, zur Macht des Antichrist. (Fs) (notabene)

55a Es ist in diesem Zusammenhang wichtig, zwei Bibeltexte immer beieinander zu halten, die sich nur scheinbar widersprechen, in Wirklichkeit aber wesentlich zueinander gehören: Römer 13 und Apokalypse 13. Der Römerbrief beschreibt den Staat in seiner geordneten Form - den Staat, der sich an seine Grenze hält und sich nicht selbst als Quelle von Wahrheit und Recht ausgibt. Paulus hat den Staat als Treuhänder der Ordnung vor Augen, der dem Menschen sein Einzelsein wie sein Gemeinsamsein ermöglicht. Diesem Staat gebührt der Gehorsam. Der Gehorsam gegen das Recht ist nicht Behinderung der Freiheit, sondern ihre Bedingung. Die Geheime Offenbarung zeigt demgegenüber den Staat, der sich selbst für Gott erklärt und aus Eigenem festlegt, was als gerecht und wahr zu gelten hat. Ein solcher Staat zerstört den Menschen. Er verneint sein eigentliches Wesen und kann daher auch keinen Gehorsam mehr einfordern2. (Fs)

55b Es ist bezeichnend, dass sowohl der Nationalsozialismus wie der Marxismus im Grunde den Staat und das Recht verneinten, die Bindung des Rechts als Unfreiheit erklärten und demgegenüber etwas Höheres zu setzen beanspruchten: den so genannten Volkswillen oder die klassenlose Gesellschaft, die den Staat ablösen sollte, der das Instrument der Hegemonie einer Klasse sei. Wenn so der Staat und seine Ordnung als Gegner der Absolutheit des Anspruchs der eigenen Ideologie betrachtet wurden, so war gerade in solcher Ablehnung etwas vom eigentlichen Wesen des Staates bewusst geblieben. Staat als Staat richtet eine relative Ordnung des Zusammenlebens auf, kann aber nicht allein die Antwort auf die Frage der menschlichen Existenz geben. Er muss nicht nur Freiräume für ein Anderes und vielleicht Höheres offen lassen; er muss auch die Wahrheit über das Recht immer wieder von außen empfangen, da er sie nicht in sich selber trägt. Aber wie und von wo? Das ist die Frage, der wir uns nun endgültig stellen müssen. (Fs)

____________________________

Home Sitemap Lonergan/Literatur Grundkurs/Philosophie Artikel/Texte Datenbank/Lektüre Links/Aktuell/Galerie Impressum/Kontakt