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Autor: Ratzinger, Joseph

Buch: Werte in Zeiten des Umbruchs

Titel: Werte in Zeiten des Umbruchs

Stichwort: Individuelle Freiheit und gemeinschaftliche Werte; F., Recht, das Gute; Demokratie - Mehrheitsprinzip; Bayle, 17. Jhdt.: gemeinsame Grundüberzeugungen; Nationalsozialismus, Fremdenfeindlichkeit, Nihilismus;

Kurzinhalt: Auch hier liegt letzten Endes ein Nihilismus zugrunde, der aus der Entleerung der Seelen kommt: In der nationalsozialistischen wie in der kommunistischen Diktatur gab es keine Handlung, die als in sich schlecht und immer unmoralisch angesehen worden wäre.

Textausschnitt: 2. Individuelle Freiheit und gemeinschaftliche Werte

43c Hier stehen wir vor der Frage, die Sacharow heute an uns stellt: Wie kann die freie Welt ihrer moralischen Verantwortung gerecht werden? Die Freiheit behält ihre Würde nur, wenn sie auf ihren sittlichen Grund und auf ihren sittlichen Auftrag bezogen bleibt. Eine Freiheit, deren einziger Inhalt in der Möglichkeit der Bedürfnisbefriedigung bestünde, wäre keine menschliche Freiheit; sie bliebe im Bereich des animalischen. Die inhaltslose Individualfreiheit hebt sich selber auf, weil die Freiheit des Einzelnen nur in einer Ordnung der Freiheiten bestehen kann. Freiheit bedarf eines gemeinschaftlichen Inhalts, den wir als die Sicherung der Menschenrechte definieren könnten. Nochmals anders ausgedrückt: Der Begriff der Freiheit verlangt seinem Wesen nach der Ergänzung durch zwei weitere Begriffe: das Recht und das Gute. Wir könnten sagen: Zu ihr gehört die Wahrnehmungsfähigkeit des Gewissens für die grundlegenden und jeden angehenden Wert der Menschlichkeit. (Fs) (notabene)

44a An dieser Stelle müssen wir das Denken Sacharows heute fortführen, um es angemessen in die Situation der Gegenwart zu übertragen. Sacharow hat bei aller Dankbarkeit für den Einsatz der freien Welt zu seinen Gunsten und zugunsten anderer Verfolgter das Versagen des Westens immer wieder in vielen politischen Vorgängen und an vielen persönlichen Schicksalen dramatisch erleben müssen. Er sah es nicht als seine Aufgabe an, die tieferen Gründe dafür zu analysieren, aber er hat doch deutlich gesehen, dass Freiheit häufig egoistisch und oberflächlich verstanden wird1. Freiheit kann man nicht nur für sich haben wollen; sie ist unteilbar und muss immer als Auftrag für die ganze Menschheit gesehen werden. Das bedeutet, dass man sie nicht ohne Opfer und Verzicht haben kann. Sie verlangt die Sorge darum, dass Moral als eine öffentliche und gemeinschaftliche Bindung so verstanden werde, dass man ihr - die an sich ohne Macht ist - die eigentliche Macht zuerkenne, die dem Menschen dient. Freiheit verlangt, dass die Regierungen und alle, die Verantwortung tragen, sich vor dem beugen, was aus sich wehrlos dasteht und keinen Zwang ausüben kann. (Fs)

44b An dieser Stelle liegt die Gefährdung der modernen Demokratien, mit der wir uns im Geiste Sacharows auseinander setzen müssen. Denn es ist schwer zu sehen, wie die Demokratie, die auf dem Mehrheitsprinzip beruht, ohne einen ihr fremden Dogmatismus einzuführen, diejenigen moralischen Werte in Geltung halten kann, die von keiner Mehrheitsüberzeugung getragen werden. Rorty meint dazu, eine an der Mehrheit orientierte Vernunft schließe immer einige intuitive Ideen mit ein wie etwa die Ablehnung der Sklaverei. (Fs)

45a Noch weit optimistischer äußerte sich im 17. Jahrhundert P. Bayle. Am Ende der blutigen Kriege, in die die großen Glaubensstreitigkeiten Europa gestürzt hatten, meinte er, Metaphysik berühre das politische Leben nicht; es genüge die praktische Wahrheit. Es gebe nur eine einzige, universelle und notwendige Moral, die ein wahres und klares Licht sei, das alle Menschen wahrnehmen, sobald sie nur die Augen öffnen2. Bayles Ideen spiegeln die geistesgeschichtliche Situation seines Jahrhunderts: Die Einheit im Glauben war zerfallen, Wahrheiten des metaphysischen Bereichs waren nicht mehr als gemeinsames Gut festzuhalten. Aber noch waren die wesentlichen moralischen Grundüberzeugungen, mit denen das Christentum die Seelen geformt hatte, selbstverständliche Gewissheiten, die scheinbar von der Vernunft allein in ihrer reinen Evidenz wahrgenommen werden konnten. (Fs) (notabene)

45b Die Entwicklungen dieses Jahrhunderts haben uns gelehrt, dass es diese Evidenz als in sich ruhende und verlässige Grundlage aller Freiheit nicht gibt. Der Blick auf die wesentlichen Werte kann der Vernunft sehr wohl verloren gehen; auch die Intuition, auf die Rorty baut, hält nicht unbegrenzt. Die von ihm etwa angesprochene Einsicht, dass Sklaverei abzulehnen ist, bestand jahrhundertelang nicht, und wie leicht man von ihr wieder abfallen kann, zeigt die Geschichte der totalitären Staaten in unserem Jahrhundert mit hinlänglicher Deutlichkeit. Freiheit kann sich selbst aufheben, ihrer selbst überdrüssig werden, wenn sie leer geworden ist. Auch dies haben wir in unserem Jahrhundert erlebt, dass ein Mehrheitsentscheid dazu dient, die Freiheit außer Kraft zu setzen. (Fs)

45c Wenn Sacharow durch die Erfahrung von Naivität und Zynismus im Westen beunruhigt war, so steht dahinter dieses Problem einer leeren und richtungslosen Freiheit. Der strenge Positivismus, der sich in der Verabsolutierung des Mehrheitsprinzips ausdrückt, schlägt irgendwann unvermeidlich in Nihilismus um. Dieser Gefahr müssen wir entgegentreten, wenn es um die Verteidigung der Freiheit und der Menschenrechte geht. (Fs)

46a Der Danziger Politiker Hermann Rauschning hat 1938 den Nationalsozialismus als Revolution des Nihilismus diagnostiziert: "Es gab und gibt kein Ziel, das nicht der Nationalsozialismus um der Bewegung willen jederzeit preiszugeben oder aufzustellen bereit wäre."3 Der Nationalsozialismus war nur ein Instrument, dessen sich der Nihilismus bediente, das er aber auch jederzeit wegzuwerfen und durch anderes zu ersetzen bereit war. Mir scheint, dass auch die Vorgänge, die wir im heutigen Deutschland mit einiger Beunruhigung beobachten, mit dem Etikett der Fremdenfeindlichkeit nicht hinlänglich erfasst werden können. Auch hier liegt letzten Endes ein Nihilismus zugrunde, der aus der Entleerung der Seelen kommt: In der nationalsozialistischen wie in der kommunistischen Diktatur gab es keine Handlung, die als in sich schlecht und immer unmoralisch angesehen worden wäre. Was den Zielen der Bewegung oder der Partei diente, war gut, wie unmenschlich es auch sein mochte. So ist schon über Jahrzehnte hin ein Zertreten des moralischen Sinnes vor sich gegangen, das zum vollständigen Nihilismus werden muss in dem Augenblick, in dem keines der vorherigen Ziele mehr galt und Freiheit nur als Möglichkeit stehen blieb, alles zu tun, was ein leer gewordenes Leben einen Augenblick spannend und interessant machen kann. (Fs) (notabene)

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