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Autor: Ratzinger, Joseph

Buch: Werte in Zeiten des Umbruchs

Titel: Werte in Zeiten des Umbruchs

Stichwort: Interkulturalität (de facto: keine universale Menschenbilder); Spannung in den großen Kulturräumen; Weltformel, Weltethos als Abstraktion

Kurzinhalt: ... die rationale oder die ethische oder die religiöse Weltformel, auf die alle sich einigen ... gibt es nicht. Jedenfalls ist sie gegenwärtig unerreichbar. Deswegen bleibt auch das sogenannte Weltethos eine Abstraktion.

Textausschnitt: 4. Interkulturalität und ihre Folgen

36b Bevor ich versuche, zu Schlussfolgerungen zu kommen, möchte ich die eben gelegte Spur noch ein wenig ausweiten. Interkulturalität erscheint mir heute eine unerlässliche Dimension für die Diskussion um die Grundfragen des Menschseins zu bilden, die weder rein binnenchristlich noch rein innerhalb der abendländischen Vernunfttradition geführt werden kann. Beide sehen sich zwar ihrem Selbstverständnis nach für universal an und mögen es de iure auch sein. De facto müssen sie anerkennen, dass sie nur in Teilen der Menschheit angenommen und auch nur in Teilen der Menschheit verständlich sind. Die Zahl der konkurrierenden Kulturen ist freilich viel begrenzter, als es auf den ersten Blick scheinen mag. (Fs)

37a Vor allem ist wichtig, dass es innerhalb der kulturellen Räume keine Einheitlichkeit mehr gibt, sondern dass alle kulturellen Räume durch tiefgreifende Spannungen innerhalb ihrer eigenen kulturellen Tradition geprägt sind. Im Westen ist das ganz offenkundig. Auch wenn die säkulare Kultur einer strengen Rationalität, von der uns Jürgen Habermas ein eindrucksvolles Bild gegeben hat, weithin dominant ist und sich als das Verbindende versteht, ist das christliche Verständnis der Wirklichkeit nach wie vor eine wirksame Kraft. Beide Pole stehen in unterschiedlicher Nähe oder Spannung, in gegenseitiger Lernbereitschaft oder in mehr oder weniger entschiedener Abweisung zueinander. (Fs)

Auch der islamische Kulturraum ist von ähnlichen Spannungen geprägt; vom fanatischen Absolutismus eines Bin Laden bis zu den Haltungen, die einer toleranten Rationalität offen stehen, reicht ein weiter Bogen. Der dritte große Kulturraum, die indische Kultur, oder besser, die Kulturräume des Hinduismus und des Buddhismus, sind wiederum von ähnlichen Spannungen geprägt, auch wenn sie, jedenfalls für unseren Blick, weniger dramatisch hervortreten. Auch diese Kulturen sehen sich sowohl dem Anspruch der westlichen Rationalität wie den Anfragen des christlichen Glaubens ausgesetzt, die beide darin präsent sind; sie assimilieren das eine wie das andere in unterschiedlichen Weisen und suchen dabei doch ihre eigene Identität zu wahren. Die Stammeskulturen Afrikas und die von bestimmten christlichen Theologien wieder wachgerufenen Stammeskulturen Lateinamerikas ergänzen das Bild. Sie erscheinen weithin als Infragestellung der westlichen Rationalität, aber auch als Infragestellung des universalen Anspruchs der christlichen Offenbarung. (Fs)

37b Was folgt aus alledem? Zunächst einmal, so scheint mir, die faktische Nichtuniversalität der beiden großen Kulturen des Westens, der Kultur des christlichen Glaubens wie derjenigen der säkularen Rationalität, so sehr sie beide in der ganzen Welt und in allen Kulturen auf je ihre Weise mitprägend sind. Insofern scheint mir die Frage des Teheraner Kollegen, die Jürgen Habermas erwähnt hat, doch von einigem Gewicht zu sein, die Frage nämlich, ob nicht aus kulturvergleichender und religionssoziologischer Sicht die europäische Säkularisierung ein Sonderweg sei, der einer Korrektur bedürfe. Ich würde diese Frage nicht unbedingt, jedenfalls nicht notwendig, auf die Stimmungslage von Carl Schmitt, Martin Heidegger und Levi Strauss, sozusagen einer rationalitätsmüden europäischen Situation, reduzieren. (Fs)

38a Tatsache ist jedenfalls, dass unsere säkulare Rationalität, so sehr sie unserer westlich geformten Vernunft einleuchtet, nicht jeder Ratio einsichtig ist, dass sie als Rationalität, in ihrem Versuch, sich evident zu machen, auf Grenzen stößt. Ihre Evidenz ist faktisch an bestimmte kulturelle Kontexte gebunden, und sie muss anerkennen, dass sie als solche nicht in der ganzen Menschheit nachvollziehbar und daher in ihr auch nicht im Ganzen operativ sein kann. Mit anderen Worten, die rationale oder die ethische oder die religiöse Weltformel, auf die alle sich einigen, und die dann das Ganze tragen könnte, gibt es nicht. Jedenfalls ist sie gegenwärtig unerreichbar. Deswegen bleibt auch das sogenannte Weltethos eine Abstraktion. (Fs) (notabene)

5. Ergebnisse

38b Was also ist zu tun? Hinsichtlich der praktischen Konsequenzen finde ich mich in weitgehender Übereinstimmung mit dem, was Jürgen Habermas über eine postsäkulare Gesellschaft, über die Lernbereitschaft und die Selbstbegrenzung nach beiden Seiten hin ausgeführt hat. Meine eigene Sicht möchte ich in zwei Thesen zusammenfassen und damit schließen. (Fs)

1. Wir hatten gesehen, dass es Pathologien in der Religion gibt, die höchst gefährlich sind und die es nötig machen, das göttliche Licht der Vernunft sozusagen als ein Kontrollorgan anzusehen, von dem her sich Religioft immer wieder neu reinigen und ordnen lassen muss, was übrigens auch die Vorstellung der Kirchenväter war.1 Aber in unseren Überlegungen hat sich auch gezeigt, dass es (was der Menschheit heute im allgemeinen nicht ebenso bewusst ist) auch Pathologien der Vernunft gibt, eine Hybris der Vernunft, die nicht minder gefährlich, sondern von ihrer potentiellen Effizienz her noch bedrohlicher ist: Atombombe, Mensch als Produkt. Deswegen muss umgekehrt auch die Vernunft an ihre Grenzen gemahnt werden und Hörbereitschaft gegenüber den großen religiösen Überlieferungen der Menschheit lernen. Wenn sie sich völlig emanzipiert und diese Lernbereitschaft, diese Korrelationalität ablegt, wird sie zerstörerisch. (Fs)

39a Kurt Hübner hat kürzlich eine ähnliche Forderung formuliert und gesagt, es gehe bei einer solchen These unmittelbar nicht um "Rückkehr zum Glauben", sondern darum, "dass man sich von der epochalen Verblendung befreit, er (d.h. der Glaube) habe dem heutigen Menschen deswegen nichts mehr zu sagen, weil er seiner humanistischen Idee von Vernunft, Aufklärung und Freiheit widerspreche"2. Ich würde demgemäß von einer notwendigen Korrelationalität von Vernunft und Glaube, Vernunft und Religion sprechen, die zu gegenseitiger Reinigung und Heilung berufen sind und die sich gegenseitig brauchen und das gegenseitig anerkennen müssen. (Fs)

39b
2. Diese Grundregel muss dann praktisch, im interkulturellen Kontext unserer Gegenwart, konkretisiert werden. Ohne Zweifel sind die beiden Hauptpartner in dieser Korrelationalität der christliche Glaube und die westliche säkulare Rationalität. Das kann und muss man ohne falschen Eurozentrismus sagen. Beide bestimmen die Weltsituation in einem Maß wie keine andere der kulturellen Kräfte. Aber das bedeutet doch nicht, dass man die anderen Kulturen als eine Art "quantité négligeable" beiseite schieben dürfte. Dies wäre nun doch eine westliche Hybris, die wir teuer bezahlen würden und zum Teil schon bezahlen. Es ist für die beiden großen Komponenten der westlichen Kultur wichtig, sich auf ein Hören, eine wahre Korrelationalität auch mit diesen Kulturen einzulassen. Es ist wichtig, sie in den Versuch einer polyphonen Korrelation hineinzunehmen, in der sie sich selbst der wesentlichen Komplementarität von Vernunft und Glaube öffnen, so dass ein universaler Prozess der Reinigungen wachsen kann, in dem letztlich die von allen Menschen irgendwie gekannten oder geahnten wesentlichen Werte und Normen neue Leuchtkraft gewinnen können, so dass wieder zu wirksamer Kraft in der Menschheit kommen kann, was die Welt zusammenhält. (Fs)

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