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Autor: Ratzinger, Joseph

Buch: Werte in Zeiten des Umbruchs

Titel: Werte in Zeiten des Umbruchs

Stichwort: Mythos, Ideologie: Mehrheitsentscheid - Naturrecht; Dekalog; inhaltlich unbestimmt: Friede, Gerechtigkeit, Bewahrung der Schöpfung, Gleichheit

Kurzinhalt: Die Trias Friede, Gerechtigkeit, Bewahrung der Schöpfung ist allgemein anerkannt, freilich inhaltlich völlig unbestimmt: Was dient dem Frieden? Was ist Gerechtigkeit? ... Gleichheit der Menschen gegenüber dem Rassismus, die gleiche Würde der Geschlechter,

Textausschnitt: 24b
2. Das Ziel aller immer von neuem nötigen Entmythisierungen ist die Freigabe der Vernunft zu sich selbst. Hier muss aber noch einmal ein Mythos entlarvt werden, der uns erst vor die letzte entscheidende Frage vernünftiger Politik stellt: Der Mehrheitsentscheid ist in vielen Fällen, vielleicht in den allermeisten der "vernünftigste" Weg, um zu gemeinsamen Lösungen zu kommen. Aber die Mehrheit kann kein letztes Prinzip sein; es gibt Werte, die keine Mehrheit außer Kraft zu setzen das Recht hat. Die Tötung Unschuldiger kann nie Recht werden und von keiner Macht zu Recht erhoben werden. Auch hier geht es letztlich um die Verteidigung der Vernunft: Die Vernunft, die moralische Vernunft, steht über der Mehrheit. Aber wie können diese letzten Werte erkannt werden, die die Grundlage jeder "vernünftigen", jeder moralisch rechten Politik sind und daher über allen Wechsel der Mehrheiten hinaus alle binden? Welche Werte sind das?

25a Die Staatslehre hat sowohl im Altertum und Mittelalter wie gerade auch in den Gegensätzen der Neuzeit an das Naturrecht appelliert, das die recta ratio erkennen kann. Aber heute scheint diese recta ratio nicht mehr zu antworten, und Naturrecht wird nicht mehr als das allen Einsichtige, sondern eher als eine katholische Sonderlehre betrachtet. Dies bedeutet eine Krise der politischen Vernunft, die eine Krise der Politik als solcher ist. Es scheint nur noch die parteiliche Vernunft, nicht mehr die wenigstens in den großen Grundordnungen der Werte gemeinsame Vernunft aller Menschen zu geben. An der Überwindung dieses Zustandes zu arbeiten, ist eine vordringliche Aufgabe aller, die für Frieden und Gerechtigkeit in der Welt Verantwortung tragen - und das sind wir im letzten doch alle. Dieses Mühen ist keineswegs aussichtslos, eben deshalb nicht, weil die Vernunft sich selbst immer wieder gegen die Macht und die Parteilichkeit zu Worte melden wird. (Fs) (notabene)

25b Es gibt heute einen veränderten Wertekanon, der praktisch nicht bestritten ist, aber allerdings zu unbestimmt bleibt und blinde Stellen aufweist. Die Trias Friede, Gerechtigkeit, Bewahrung der Schöpfung ist allgemein anerkannt, freilich inhaltlich völlig unbestimmt: Was dient dem Frieden? Was ist Gerechtigkeit? Wie bewahrt man die Schöpfung am besten? Andere praktisch allgemein anerkannte Werte sind die Gleichheit der Menschen gegenüber dem Rassismus, die gleiche Würde der Geschlechter, die Freiheit des Denkens und des Glaubens. Auch hier gibt es inhaltliche Undeutlichkeiten, die sogar wieder zur Bedrohung der Freiheit des Denkens und des Glaubens werden können, aber die Grundrichtungen sind zu bejahen und sind wichtig. (Fs) (notabene)

26a Ein wesentlicher Punkt bleibt kontrovers: das Recht zu leben für jeden, der Mensch ist, die Unantastbarkeit des menschlichen Lebens in allen seinen Phasen. Im Namen der Freiheit und im Namen der Wissenschaft werden hier immer mehr gravierendere Lücken in dieses Recht gerissen: Wo Abtreibung als Freiheitsrecht angesehen wird, ist die Freiheit des Einen über das Lebensrecht des Anderen gestellt. Wo Menschenversuche mit Ungeborenen im Namen der Wissenschaft eingefordert werden, ist die Würde des Menschen in den Wehrlosesten geleugnet und getreten. Hier müssen die Entmythisierungen der Begriffe Freiheit und Wissenschaft Platz greifen, wenn wir nicht die Grundlagen allen Rechts, die Achtung vor dem Menschen und seiner Würde verlieren wollen. (Fs)

Ein zweiter blinder Punkt besteht in der Freiheit, das zu verhöhnen, was anderen heilig ist. Gottlob kann sich bei uns niemand erlauben, das zu verspotten, was Juden oder was Moslems heilig ist. Aber zu den grundlegenden Freiheitsrechten zählt man das Recht, das Heilige der Christen in den Staub zu ziehen und mit Spott zu überschütten. Und endlich ist da ein weiterer dunkler Punkt: Ehe und Familie erscheinen nicht länger als grundlegende Werte einer modernen Gesellschaft. Eine Vervollständigung der Wertetafel und eine Entmythisierung von mythisch entstellten Werten ist dringend geboten. (Fs)

26b Bei meinem Disput mit dem Philosophen Arcais de Flores kam gerade dieser Punkt - die Grenze des Konsensprinzips - zur Sprache. Der Philosoph konnte nicht leugnen, dass es Werte gibt, die auch für Mehrheiten nicht zur, Debatte stehen dürfen. Aber welche? Angesichts dieses Problems hat der Moderator des Disputs, Gad Lemer, die Frage gestellt: Warum nicht den Dekalog zum Maßstab nehmen? Und in der Tat - der Dekalog ist nicht ein Sonderbesitz der Christen oder der Juden. Er ist ein höchster Ausdruck moralischer Vernunft, der sich als solcher weithin auch mit der Weisheit der anderen großen Kulturen trifft. Am Dekalog wieder Maß zu nehmen, könnte gerade für die Heilung der Vernunft, für das neue Aktivwerden der recta ratio wesentlich sein. (Fs)

27a Hier wird nun auch deutlich, was der Glaube zur rechten Politik beitragen kann: Er ersetzt nicht die Vernunft, aber er kann zur Evidenz der wesentlichen Werte beitragen. Durch das Experiment des Lebens im Glauben gibt er ihnen Glaubwürdigkeit, die dann auch die Vernunft erleuchtet und heilt. Im vergangenen Jahrhundert hat - wie in allen Jahrhunderten - gerade das Zeugnis der Märtyrer die Ekzesse der Macht begrenzt und so entscheidend zur Genesung der Vernunft beigetragen. (Fs)

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