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Autor: Ratzinger, Joseph

Buch: Werte in Zeiten des Umbruchs

Titel: Werte in Zeiten des Umbruchs

Stichwort: Politischen Mythen, Ideologien heute: Fortschritt, Wissenschaft, Freiheit;

Kurzinhalt: Schließlich steht da der Begriff der Freiheit ... Menschliche Freiheit kann immer nur Freiheit des rechten Miteinander, Freiheit in der Gerechtigkeit sein, andernfalls wird sie zur Lüge und führt zur Sklaverei.

Textausschnitt: 4. Konsequenzen für den Einsatz der Christen in der Politik

22a Was folgt aus alledem für den Zusammenhang von politischer Vision und politischer Praxis heute? Darüber wäre ohne Zweifel ein weit gespannter Disput zu führen, für den ich mich nicht zuständig fühle. Aber in zwei Thesen möchte ich möglichst kurz Hinweise für die Übersetzung dieser Vorgaben ins Heute versuchen. (Fs)

1. Die Politik ist das Reich der Vernunft, und zwar einer nicht bloß technisch-kalkulatorischen, sondern der moralischen Vernunft, da das Staatsziel und so das letzte Ziel aller Politik moralischer Natur ist, nämlich Friede und Gerechtigkeit. Das bedeutet, dass immer wieder die moralische Vernunft oder - vielleicht besser - die vernünftige Einsicht in das, was der Gerechtigkeit und dem Frieden dient, also moralisch ist, in Gang gebracht und gegen Verdunklungen verteidigt werden muss, die die moralische Einsichtsfähigkeit der Vernunft lahmen. Die Parteilichkeit, die sich der Macht verbündet, wird immer wieder in unterschiedlichen Formen Mythen produzieren, die sich als der wahre Weg des Moralischen in der Politik präsentieren, in Wahrheit aber Blendungen und Verblendungen der Macht sind. (Fs) (notabene)

22b Wir haben im abgelaufenen Jahrhundert zwei große Mythenbildungen mit schrecklichen Folgen erlebt: den Rassismus mit seiner verlogenen Heilsverheißung von Seiten des Nationalsozialismus; die Divinisierung der Revolution auf dem Hintergrund des dialektischen Geschichtsevolutionismus; beide Male wurden die moralischen Ureinsichten des Menschen über gut und böse außer Kraft gesetzt. Alles, was der Herrschaft der Rasse bzw. alles, was der Heraufführung der zukünftigen Welt dient, ist gut - so wurde uns gesagt -, auch wenn es nach den bisherigen Einsichten der Menschheit als schlecht zu gelten hätte. (Fs)

23a Nach dem Abtreten der großen Ideologien sind heute die politischen Mythen weniger deutlich umschrieben, aber es gibt auch heute Formen der Mythisierung von wirklichen Werten, die gerade dadurch glaubwürdig erscheinen, dass sie sich an echte Werte heften, aber eben doch auch dadurch gefährlich sind, dass sie diese Werte in einer mythisch zu nennenden Weise vereinseitigen. Ich würde sagen, dass heute drei Werte im allgemeinen Bewusstsein führend sind, deren mythische Vereinseitigung zugleich die Gefährdung der moralischen Vernunft im Heute darstellt. Diese drei immer wieder mythisch vereinseitigten Werte sind Fortschritt, Wissenschaft, Freiheit. (Fs) (notabene)

Fortschritt ist nach wie vor ein geradezu mythisches Wort, das sich als Norm politischen und allgemein menschlichen Handelns aufdrängt und als dessen höchste moralische Qualifikation erscheint. Wer den Weg auch nur der letzten hundert Jahre überblickt, kann nicht leugnen, dass ungeheure Fortschritte in der Medizin, in der Technik, im Verstehen und in der Nutzung der Kräfte der Natur erzielt worden sind und weitere Fortschritte erhofft werden dürfen. Allerdings liegt auch die Ambivalenz dieses Fortschritts zutage: Der Fortschritt fängt an, die Schöpfung - die Basis unserer Existenz - zu gefährden; er produziert Ungleichheit unter den Menschen, und er produziert auch immer neue Bedrohungen von Welt und Mensch. Insofern sind moralische Steuerungen des Fortschritts unerlässlich. Nach welchen Maßstäben?

23b Das ist die Frage. Vor allem aber muss klar gesehen werden, dass der Fortschritt sich ja auf den Umgang des Menschen mit der materiellen Welt erstreckt und nicht als solcher - wie Marxismus und Liberalismus gelehrt hatten - den neuen Menschen, die neue Gesellschaft hervorbringt. Der Mensch als Mensch bleibt sich in primitiven wie in technisch entwickelten Situationen gleich und steht nicht einfach deshalb höher, weil er mit besser entwickelten Geräten umzugehen gelernt hat. Das Menschsein beginnt in allen Menschen neu. Deswegen kann es die endgültig neue, fortgeschrittene und heile Gesellschaft nicht geben, auf die nicht bloß die großen Ideologien gehofft haben, sondern die - nachdem die Hoffnung auf das Jenseits abgebaut wurde - immer mehr zum allgemeinen Hoffnungsziel wird. Eine endgültig heile Gesellschaft würde das Ende der Freiheit voraussetzen. Weil aber der Mensch immer frei bleibt, in jeder Generation neu beginnt, darum muss auch die rechte Form der Gesellschaft immer neu in den je neuen Bedingungen errungen werden. Das Reich der Politik ist deshalb die Gegenwart und nicht die Zukunft - die Zukunft nur insoweit, als die heutige Politik Formen des Rechts und des Friedens zu schaffen versucht, die auch morgen standhalten können und zu entsprechenden Neugestaltungen einladen, die das Errungene aufnehmen und fortführen. Aber garantieren können wir das nicht. Ich denke, dass es sehr wesentlich ist, diese Grenzen des Fortschritts ins Bewusstsein zu rücken und falsche Ausflucht in die Zukunft abzubauen. (Fs)

24a An zweiter Stelle nenne ich den Begriff Wissenschaft. Wissenschaft ist ein hohes Gut, gerade deshalb weil sie kontrollierte und von Erfahrung bestätigte Form von Rationalität ist. Aber es gibt auch Pathologien der Wissenschaft, Verzwecklichung ihres Könnens für die Macht, in denen zugleich der Mensch entehrt wird. Wissenschaft kann auch der Unmenschlichkeit dienen, ob wir an die Massenvernichtungswaffen denken oder an Menschenversuche oder an die Behandlung des Menschen als Organvorrat usw. Deswegen muss klar sein, dass auch die Wissenschaft moralischen Maßstäben untersteht und ihr wahres Wesen immer dann verlorengeht, wenn sie sich statt der Menschenwürde der Macht oder dem Kommerz oder einfach dem Erfolg als einzigem Maßstab verschreibt. (Fs)

Schließlich steht da der Begriff der Freiheit. Auch er hat in der Neuzeit vielfach mythische Züge angenommen. Freiheit wird nicht selten anarchisch und einfach antiinstitutionell gefasst und wird damit zu einem Götzen: Menschliche Freiheit kann immer nur Freiheit des rechten Miteinander, Freiheit in der Gerechtigkeit sein, andernfalls wird sie zur Lüge und führt zur Sklaverei. (Fs)

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