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Autor: Ratzinger, Joseph

Buch: Werte in Zeiten des Umbruchs

Titel: Werte in Zeiten des Umbruchs

Stichwort: Daniel; Messianismus - Neues Testament (zwei Textgruppen); Christentum - Staat; Revolutionär - Märtyrer, Postulat der Religionsfreiheit; christliche - gnostische Apokalyptik; Gnosis

Kurzinhalt: Die Geschichte ist sozusagen das Reich der Vernunft; die Politik errichtet nicht das Reich Gottes, wohl aber hat sie für das rechte Reich der Menschen zu sorgen, das heißt: die Voraussetzungen für inneren und äußeren Frieden ...

Textausschnitt: 3. Die Position der Schriften des Neuen Testaments

17a Wo steht nun aber, von Daniel und von den politischem Messianismen aus gesehen, der christliche Glaube? Was ist seine Vision von der Geschichte und für unser geschichtliches Handeln? Bevor ich versuchen kann, ein zusammenfassendes Urteil zu formulieren, müssen wir einen Blick auf die wichtigsten Texte des Neuen Testaments werfen. (Fs)

17b Man kann da ohne große Analysen leicht zwei Textgruppen unterscheiden: Auf der einen Seite stehen die Texte der Evangelien und der Apostelgeschichte, die höchstens von ferne Zusammenhänge mit der Apokalyptik erkennen lassen; auf der anderen Seite die Offenbarung des Johannes, die - wie schon der Name sagt -dem Strom der Apokalyptik zugehört. Es ist bekannt, dass die Texte der Apostelbriefe - in Übereinstimmung mit der in den Evangelien angedeuteten Sicht - vom Pathos der Revolution schlechterdings nicht berührt sind, ja, ihm klar entgegenstehen. Die beiden Grundtexte Röm 13,1-6 und 1 Petr 2,13-17 sind sehr eindeutig und von je her allen Revolutionären ein Dorn im Auge. Röm 13 verlangt, dass "jedermann" (wörtlich: jede Seele) sich den vorgesetzten Obrigkeiten unterwerfe, denn es gebe keine Obrigkeit außer von Gott her. Widersetzlichkeit gegenüber der Obrigkeit sei daher Widersetzlichkeit der Anordnung Gottes gegenüber. Unterordnen müsse man sich also nicht nur des Zwanges wegen, sondern vom Gewissen her. Ganz ähnlich verlangt der erste Petrusbrief Unterordnung unter die rechtmäßigen Obrigkeiten "um des Herrn willen": "Denn so ist es der Wille Gottes, dass ihr durch gute Taten den Unverstand der törichten Menschen zum Schweigen bringt, als freie Menschen, doch nicht als solche, die in der Freiheit einen Deckmantel sehen zum Bösen..." Weder Paulus noch Petrus drücken hier eine unkritische Verherrlichung des römischen Staates aus. So sehr sie auf dem göttlichen Ursprung der staatlichen Rechtsordnungen bestehen, sind sie weit von einer Divinisierung des Staates entfernt. Gerade weil sie die Grenzen des Staats sehen, der nicht Gott ist und sich nicht als Gott gerieren darf, erkennen sie seine Ordnungsfunktion und seine sittliche Qualität an. (Fs)

18a Sie stehen damit in guter biblischer Tradition - denken wir an Jeremia, der die verbannten Israeliten zur Loyalität gegenüber dem Unterdrückungsstaat Babylon auffordert, insofern dieser Staat Recht und Frieden garantiert und damit auch das relative Wohlergehen Israels, das die Bedingung seiner Wiederherstellung als Volk ist. Denken wir an Deutero-Jesaja, der sich nicht scheut, Kyros als den Gesalbten Gottes zu bezeichnen: Der König der Perser, der den Gott Israels nicht kennt und das Volk aus rein pragmatisch-politischen Erwägungen in die Heimat entlässt, handelt doch, weil er sich um die Herstellung des Rechts müht, als Werkzeug Gottes. Auf dieser Linie bewegt sich die Antwort Jesu an die Pharisäer und Herodianer über die Steuerfrage: Was des Kaisers ist, ist dem Kaiser zu geben (Mk 12,13-17). Insofern der römische Kaiser Garant des Rechts ist, hat er Anspruch auf Gehorsam; freilich wird gleichzeitig der Bereich der Gehorsamspflicht eingegrenzt: Es gibt das, was des Kaisers ist und das, was Gottes ist. Wo der Kaiser sich zum Gott erhebt, hat er seine Grenzen überschritten, und Gehorsam würde dann zur Verleugnung Gottes. Schließlich gehört hierher auch Jesu Antwort an Pilatus, in der der Herr gerade dem ungerechten Richter gegenüber doch anerkennt, dass die Gewalt zur Ausübung des Richteramtes, des Dienstes am Recht, nur von oben gegeben werden kann (Joh 19,11). (Fs)

18b Überblickt man diese Zusammenhänge, so wird eine sehr nüchterne Sicht des Staates deutlich: Es kommt nicht auf die persönliche Gläubigkeit oder die subjektiven guten Intentionen der Staatsorgane an. Sofern sie Frieden und Recht garantieren, entsprechen sie einer göttlichen Verfügung; in heutiger Terminologie würden wir sagen: Sie stellen eine Schöpfungsordnung dar. Gerade in seiner Profanität ist der Staat zu achten; er ist vom Wesen des Menschen als animal sociale et politicum her notwendig, in diesem menschlichen Wesen und damit schöpfungsmäßig begründet. In alledem ist zugleich eine Begrenzung des Staates enthalten: Er hat seinen Bereich, den er nicht überschreiten darf; er muss das höhere Recht Gottes respektieren. Die Verweigerung der Anbetung des Kaisers und überhaupt die Verweigerung des Staatskultes ist im Grunde einfach die Ablehnung des totalitären Staates. (Fs)

19a Im ersten Petrusbrief kommt diese Unterscheidungslinie sehr deutlich zum Vorschein, wenn der Apostel sagt: "Keiner von euch soll leiden als Mörder oder Dieb oder Übeltäter oder als Ehebrecher. Leidet er dagegen als Christ, so schäme er sich nicht, sondern verherrliche Gott in diesem Namen" (4,15f). Der Christ ist an die Rechtsordnung des Staates als eine sittliche Ordnung gebunden. Etwas anderes ist es, wenn er "als Christ" leidet: Wo der Staat das Christsein als solches unter Strafe stellt, waltet er nicht mehr als Wahrer, sondern als Zerstörer des Rechts. Dann ist es keine Schande, sondern eine Ehre, bestraft zu werden. Wer so leidet, der steht gerade im Leiden in der Nachfolge Christi: Der gekreuzigte Christus zeigt die Grenze staatlicher Gewalt an und zeigt, wo seine Rechte enden und der Widerstand im Leiden zur Notwendigkeit wird. Der Glaube des Neuen Testaments kennt nicht den Revolutionär, sondern den Märtyrer: Der Märtyrer anerkennt die Autorität des Staates, er kennt aber auch seine Grenzen. Sein Widerstand besteht darin, dass er alles tut, was dem Recht und der geordneten Gemeinschaft dient, auch wenn es von glaubensfremden oder -feindlichen Autoritäten kommt, dass er aber da nicht gehorcht, wo ihm geboten wird, das Böse zu tun, das heißt sich dem Willen Gottes entgegenzusetzen. Sein Widerstand ist nicht der Widerstand aktiver Gewalt, sondern der Widerstand dessen, der für Gottes Willen zu leiden bereit ist: Der Widerstandskämpfer, der mit der Waffe in der Hand stirbt, ist kein Märtyrer im Sinn des Neuen Testaments. (Fs)

19b Dieselbe Linie zeigt sich auch, wenn wir auf weitere Texte des Neuen Testaments hinschauen, die zum Problem der christlichen Haltung zum Staat Stellung nehmen. Tit 3,1 sagt: "Ermahne sie, den obrigkeitlichen Gewalten Untertan und gehorsam zu sein, bereit zu jedem guten Werk..." Sehr bezeichnend ist 2 Thess 3,10-12, wo der Apostel sich gegen diejenigen wendet, die - wohl mit dem Vörwand der christlichen Erwartung der Wiederkunft des Herrn - nicht arbeiten und nichts Nützliches tun wollen. Sie werden demgegenüber zu ruhiger Arbeit ermahnt, denn "wer nicht arbeiten will, der soll auch nicht essen". Die schwärmerische Eschatologie wird höchst nüchtern in die Schranken gewiesen. Ein wichtiger Aspekt erscheint auch in 1 Tim 2,2, wo die Christen ermahnt werden, für den König und alle Obrigkeiten zu beten, "damit wir ein ruhiges und ungestörtes Leben führen können."
20a Zweierlei wird hier deutlich: Die Christen beten für den König und für die Obrigkeit, aber nicht zum König. Der Text fällt entweder - wenn er von Paulus stammt - in die Zeit des Nero oder, wenn er später anzusetzen ist, etwa in die Zeit Domitians, also zweier christenfeindlicher Tyrannen. Trotzdem beten die Christen für den Herrscher, damit er seinen Auftrag erfüllen kann. Wo er sich freilich zum Gott macht, verweigern sie den Gehorsam. Das Zweite besteht darin, dass auf eine außerordentlich nüchterne, beinahe banal wirkende Art die Aufgabe des Staates formuliert wird: Er hat für den inneren und äußeren Frieden zu sorgen. Das mag, wie gesagt, eher banal klingen, aber darin ist doch ein wesentlicher moralischer Anspruch ausgedrückt: Innerer und äußerer Friede sind nur möglich, wenn die wesentlichen Rechtsgüter des Menschen und der Gemeinschaft gesichert sind. (Fs)

20b Versuchen wir nun möglichst kurz, diese Aussagen den Perspektiven zuzuordnen, denen wir vorher begegnet waren. Mir scheint, man könne zweierlei sagen. Das dynamisierte Geschichtsbild der Apokalyptik und der messianischen Hoffnungen tritt nur indirekt in Erscheinung; der Messianismus ist durch die Gestalt Jesu wesentlich modifiziert. Er bleibt insofern politisch relevant, als er den Punkt markiert, an dem das Martyrium notwendig und damit der Anspruch des Staates begrenzt wird. Jedes Martyrium aber steht unter der Verheißung des auferstandenen und wiederkommenden Christus; es weist insofern über die bestehende Welt hinaus auf eine neue, endgültige Gemeinschaft der Menschen mit Gott und untereinander. Aber diese Begrenzung der Reichweite des Staates und diese Eröffnung des Horizonts einer künftigen neuen Welt hebt die bestehenden staatlichen Ordnungen nicht auf, die auf der Basis der natürlichen Vernunft und ihrer Logik weiter walten müssen und gültige Ordnungen für die Zeit der Geschichte sind. Ein schwärmerischer eschatologisch-revolutionärer Messianismus ist dem Neuen Testament absolut fremd. Die Geschichte ist sozusagen das Reich der Vernunft; die Politik errichtet nicht das Reich Gottes, wohl aber hat sie für das rechte Reich der Menschen zu sorgen, das heißt: die Voraussetzungen für inneren und äußeren Frieden und für eine Gerechtigkeit zu schaffen, in der alle "ein ungestörtes und ruhiges Leben führen können in aller Frömmigkeit und Ehrbarkeit" (1 Tim 2,2). Man könnte sagen, dass darin auch das Postulat der Religionsfreiheit ausgesprochen ist, wie umgekehrt der Vernunft zugetraut wird, die wesentlichen moralischen Grundlagen des Menschseins zu erkennen und politisch zur Wirkung zu bringen. Insofern gibt es da eine Gemeinsamkeit mit den Positionen, die das Tao oder das Dharma zur Grundlage des Staates erklären. Deswegen konnten sich die Christen mit der stoischen Idee des sittlichen Naturgesetzes befreunden, das ähnliche Auffassungen im Kontext griechischer Philosophie zur Geltung brachte. Die besonders im Danielbuch sichtbare Dynamisierung der Geschichte, die die Geschichte nicht einfach kosmisch sieht, sondern als Dynamik von gut und böse in fortschreitender Bewegung interpretiert, bleibt durch die messianische Hoffnung präsent. Sie verdeutlicht die sittlichen Maßstäbe der Politik und zeigt die Grenzen der politischen Macht an; durch den Horizont der Hoffnung, den sie über der Geschichte und in ihr sichtbar werden lässt, gibt sie den Mut zum rechten Handeln und zum rechten Leiden. Insofern kann man von einer Synthese von kosmischer und geschichtlicher Sicht sprechen. (Fs)

21a Ich glaube, dass man von hier aus sogar genau definieren kann, wo die Grenze zwischen christlicher und nichtchristlicher, gnostischer Apokalyptik verläuft. Christlich ist Apokalyptik dann, wenn sie den Zusammenhang mit dem Schöpfungsglauben wahrt; wo der Schöpfungsglaube, seine Konstanz und sein Vertrauen auf die Vernunft aufgegeben wird, da ist der Umschlag vom christlichen Glauben zur Gnosis vollzogen. Innerhalb dieser Grundentscheidungen gibt es zweifellos eine große Bandbreite von Variationen, aber doch eine gemeinsame Grundoption. Eine Analyse der Texte, die hier nicht möglich ist, könnte zeigen, dass die Apokalypse des Johannes, so sehr ihr Pathos des Widerstandes sie von den apostolischen Schriften unterscheidet, ganz klar innerhalb der christlichen Option verbleibt. (Fs)

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