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Autor: Ratzinger, Joseph

Buch: Werte in Zeiten des Umbruchs

Titel: Werte in Zeiten des Umbruchs

Stichwort: Politik, Gesellschaft: Verändern oder erhalten?; Conservator mundi - Salvator; Tao, Dharma - Glaube Israels : kosmische Ordnung, Stabilität - Ausrichtung auf Zukunft, Geschichte; Danielbuch, Menschensohn; Makkabäer, Bar Kochba

Kurzinhalt: Neu gegenüber den kosmischen Visionen, in denen einfach das Tao oder das Dharma selbst als die Macht des Göttlichen, als das "Göttliche" dastehen, ist also nicht nur das Erscheinen der nicht auf den Kosmos reduzierbaren Realität Geschichte, sondern ...

Textausschnitt: I Verändern oder erhalten?

Politische Visionen und Praxis der Politik

10a Für Politiker aller Parteien ist es heute selbstverständlich, dass sie Veränderungen - natürlich zum Besseren hin - versprechen. Während der ehedem mythische Glanz des Wortes Revolution gegenwärtig verblasst ist, werden um so entschiedener weitgreifende Reformen verlangt und verheißen. Daraus muss man schließen, dass in der modernen Gesellschaft ein tiefgehendes Gefühl des Unbefriedigtseins herrscht und dies gerade dort, wo Wohlstand und Freiheit eine bisher nicht gekannte Höhe erreicht haben. Die Welt wird als schwer erträglich empfunden, sie muss besser werden, und dies ins Werk zu setzen, erscheint als die Aufgabe der Politik. Da also nach allgemeiner Auffassung Weltverbesserung, das Heraufführen einer neuen Welt den wesentlichen Auftrag der Politik bildet, kann man auch verstehen, warum das Wort "konservativ" anrüchig geworden ist und kaum jemand leichthin als konservativ angesehen werden will: Es geht eben, so scheint es, nicht darum, den gegenwärtigen Zustand zu bewahren, sondern darum, ihn zu überwinden. (Fs)

1. Zwei Visionen des Auftrags der Politik: die Welt verändern oder ihre Ordnung erhalten
10b Mit dieser Grundorientierung steht die moderne Vorstellung von Politik, ja, vom Leben in dieser Welt überhaupt in deutlichem Gegensatz zu den Anschauungen früherer Perioden, für die gerade das Erhalten und das Verteidigen des Bestehenden gegenüber dessen Bedrohung als die große Aufgabe politischen Handelns galt. Hier mag eine kleine sprachliche Beobachtung erhellend sein. (Fs)

11a Als das Christentum in der römischen Welt nach einem Wort suchte, mit dem man bündig und für die Menschen verständlich ausdrücken konnte, was Jesus Christus für sie bedeutete, stieß man auf das Wort "Conservator mundi", mit dem in Rom die wesentliche Aufgabe und der höchste Dienst umschrieben wurde, der in der Menschheit zu leisten war. Aber gerade diesen Titel konnten und wollten die Christen nicht auf ihren Erlöser übertragen; gerade damit konnten sie das Wort Messias - Christus, den Dienst des Retters der Welt nicht übersetzen. Vom Gesichtspunkt des Römischen Reiches her musste es in der Tat als die wichtigste Aufgabe angesehen werden, das Ordnungsgefüge des Reiches gegenüber all seinen Bedrohungen von innen und außen zu erhalten, weil dieses Reich einen Raum des Friedens und des Rechts verkörperte, in dem Menschen in Sicherheit und Würde leben konnten. Tatsächlich haben die Christen - auch schon der apostolischen Generation - diese Garantie von Recht und Frieden zu schätzen gewusst, die das Römische Reich gewährte. Den Kirchenvätern lag angesichts des drohenden Chaos, das sich mit der Völkerwanderung ankündigte, durchaus am Erhalt des Reiches, seiner Rechtsgarantien, seiner Friedensordnung. (Fs)

11b Dennoch konnten die Christen nicht einfach wollen, dass alles bleibe, wie es war; die Apokalypse, die freilich mit ihrer Vorstellung vom Reich am Rande des Neuen Testaments steht, zeigte doch für alle deutlich auf, dass es auch das gab, was nicht erhalten werden durfte, sondern geändert werden musste. Dass Christus nicht als Conservator, sondern als Salvator bezeichnet wurde, hatte zwar durchaus keinen politisch-revolutionären Inhalt, zeigte aber doch die Grenzen des bloßen Bewahrens an und wies auf eine Dimension menschlicher Existenz hin, die über die Friedens- und Ordnungsfunktionen der Politik hinausreicht. (Fs)

11c Versuchen wir, diese Momentaufnahme einer Weise des Daseinsverständnisses des Auftrags der Politik etwas mehr ins Grundsätzliche zu erweitern. Hinter der Alternative, die sich uns im Gegenüber der Titel Conservator und Salvator bisher noch eher undeutlich gezeigt hatte, lassen sich tatsächlich zwei unterschiedene Visionen dessen erkennen, was politisches und ethisches Handeln bewirken soll und kann, wobei nicht nur Politik und Moral, sondern auch Politik, Religion und Moral auf je verschiedene Weise ineinander verschränkt erscheinen. (Fs)
12a Da gibt es einerseits die statische, auf Erhalten ausgerichtete Vision, die vielleicht am deutlichsten im chinesischen Universismus erscheint: Die Ordnung des Himmels, die ewig gleichbleibende, gibt auch dem Handeln auf Erden seine Maße vor. Es ist das Tao, das Gesetz des Seins und der Wirklichkeit, das die Menschen erkennen und im Handeln aufnehmen müssen. Das Tao ist ebenso kosmisches wie sittliches Gesetz. Es verbürgt die Harmonie von Himmel und Erde und so auch die Harmonie des politischen und gesellschaftlichen Lebens. Unordnung, Störung des Friedens, Chaos entsteht, wo der Mensch sich gegen das Tao wendet, an ihm vorbei oder gegen es lebt. Dann muss gegen solche Störungen und Zerstörungen des gemeinschaftlichen Lebens wieder das Tao aufgerichtet und so die Welt wieder lebbar gemacht werden. Alles kommt darauf an, die beständige Ordnung gegenwärtig zu halten oder wieder zu ihr zurückzukehren, wo sie verlassen war. (Fs)

Ähnliches ist im indischen Begriff des Dharma ausgesagt, das ebenso kosmische wie ethische und soziale Ordnung bedeutet, der der Mensch sich einfügen muss, damit das Leben recht werde. Der Buddhismus hat diese zugleich kosmische, politische und religiöse Vision relativiert, indem er die ganze Welt als einen Kreislauf des Leidens erklärte; das Heil ist nicht im Kosmos, sondern im Heraustreten aus ihm zu suchen. Aber er hat keine neue politische Vision geschaffen, insofern das Heilsstreben nicht-weltlich -aufs Nirwana gerichtet - gefasst ist; für die Welt als solche werden neue Modelle nicht vorgeschlagen. (Fs)

12b Anders der Glaube Israels. Er kennt zwar mit dem noachitischen Bund auch so etwas wie eine kosmische Ordnung und die Verheißung ihrer Stabilität. Aber für den Glauben Israels selbst wird die Orientierung auf Zukunft hin immer deutlicher. Nicht das Immerwährende, das immer gleiche Heute, sondern das Morgen, die noch ausstehende Zukunft erscheint als der Raum des Heils. Das wohl im Lauf des zweiten Jahrhunderts vor Christus entstandene Danielbuch bietet zwei große geschichtstheologische Visionen, die für die weitere Entwicklung des politischen und des religiösen Denkens von größter Bedeutung wurden. Da findet sich im zweiten Kapitel die Vision von dem Standbild, das Teile aus Gold, Teile aus Silber, Teile aus Eisen und schließlich solche aus Ton umfasst. Diese vier Elemente zeigen eine Abfolge von vier Reichen an. Sie alle werden schließlich zermalmt durch einen Stein, der sich ohne Zutun von Menschenhand von einem Berg löst und das Ganze so zerstäubt, dass der Wind die Reste davonträgt und keine Spur davon übrigbleibt. Der Stein aber wird zum großen Berg und erfüllt die ganze Erde - Sinnbild eines Reiches, das der Gott des Himmels und der Erde errichten wird und das in Ewigkeit nicht untergeht (2,44). Im siebten Kapitel desselben Buches erscheint in einem vielleicht noch einprägsameren Bild die Abfolge der Reiche als das Nacheinander von vier Tieren, über die schließlich Gott - als "Hochbetagter" dargestellt - Gericht hält. Die vier Tiere - die Großreiche der Weltgeschichte - waren aus dem Meer aufgestiegen, das als Sinnbild für die Macht der Bedrohung des Lebens durch den Tod und seine Gewalten steht; nach dem Gericht aber kommt vom Himmel her der Mensch ("Menschensohn"), und ihm werden alle Völker, Nationen und Sprachen übergeben zu einem Reich, das ewig, unvergänglich ist und nie untergeht. (Fs)

13a Während in den Konzeptionen des Tao und des Dharma die ewigen Ordnungen des Kosmos eine Rolle spielen, die Idee "Geschichte" also gar nicht erscheint, ist hier nun "Geschichte" als eine eigene, nicht auf den Kosmos reduzierbare Realität gefasst, und mit dieser vorher gar nicht in den Blick gekommenen anthropologischen und dynamischen Realität eine ganz andere Vision eröffnet. Es ist offenkundig, dass eine solche Vorstellung von einer geschichtlichen Abfolge von Reichen, die gefräßige Tiere in immer schrecklicher werdenden Formen sind, sich nicht in einem der Herrschaftsvölker bilden konnte, sondern als ihren soziologischen Träger ein Volk voraussetzt, das sich selbst von der Gefräßigkeit dieser Tiere bedroht weiß und auch eine Abfolge von Mächten erlebt hat, die ihm das Existenzrecht streitig machen. Es ist die Vision von Unterdrückten, die Ausschau halten nach einer Wende der Geschichte und nicht an der Erhaltung des Bestehenden interessiert sein können. In der danielischen Vision kommt die Wende der Geschichte nicht durch politisches oder militärisches Handeln zustande - dafür fehlten einfach die nötigen Kräfte. Sie tritt ein durch ein Eingreifen Gottes allein: Der Stein, der die Reiche zerstört, löst sich "ohne Zutun von Menschenhand" von einem Berg (2,34). Die Kirchenväter sahen darin eine geheimnisvolle Vorausankündigung der Geburt Jesu aus der Jungfrau, allein durch Gottes Kraft; in Christus sehen sie den Stein, der schließlich selbst zum Berg wird und die Erde erfüllt. (Fs)

14a Neu gegenüber den kosmischen Visionen, in denen einfach das Tao oder das Dharma selbst als die Macht des Göttlichen, als das "Göttliche" dastehen, ist also nicht nur das Erscheinen der nicht auf den Kosmos reduzierbaren Realität Geschichte, sondern dies Dritte und zugleich Erste: ein handelnder Gott, auf den sich die Hoffnung der Unterdrückten richtet. Aber schon bei den Makkabäern, die ungefähr gleichzeitig mit den Danielvisionen anzusetzen sind, muss auch der Mensch durch politisches und militärisches Handeln selbst die Sache Gottes in die Hand nehmen; in Teilen der Qumran-Literatur wird die Verschmelzung von theologischer Hoffnung und eigenem menschlichen Handeln noch deutlicher. Endlich bedeutet der Kampf von Bar Kochba eine klare Politisierung des Messianismus: Gott bedient sich für die Wende eines "Messias", der im Auftrag und mit der Vollmacht Gottes in aktivem politischem und militärischem Handeln das Neue herbeiführt. Das Sacrum imperium der Christen hat sowohl, in seiner byzantinischen wie in seiner lateinischen Variante solche Vorstellungen nicht aufnehmen können und wollen, vielmehr wieder auf die Erhaltung der nun christlich begründeten Weltordnung gesetzt, freilich mit der Vision, dass man im sechsten Zeitalter, dem Greisenalter der Geschichte stehe und dass dann die andere Welt kommen werde, die als Gottes achter Tag schon neben der Geschichte herlief und sie dann einmal definitiv ablösen werde. (Fs)

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