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Autor: Scheffczyk, Leo

Buch: Katholische Glaubenswelt

Titel: Katholische Glaubenswelt

Stichwort: Formelemente d. Katholischen 1; Problem d. Denkform; Patristik, Scholastik (Bonaventura, Thomas; Wesenserkenntnis, Sinnenwelt als Symbol und Zeichen), Mystik (fälschliche als Pantheismus gedeutet); moderne theologische Denkform

Kurzinhalt: Danach darf die "Denkform" als ein formales, strukturierendes Prinzip verstanden werden, das alle gedanklichen Inhalte prägt, das ihnen eine eigentümliche Gestalt, eine Ordnung und einen Typus verleiht.

Textausschnitt: a. Das Problem der Denkform

33a Wenn man sich auf die Frage nach den Formelementen des katholischen Glaubens und Lebens einlässt, d. h. das Problem der Strukturen, des Stiles, der inneren Voraussetzungen und Bedingungen für alle inhaltlichen Aussagen aufgreift - und das ist beim heutigen Stand reflexiven wissenschaftlichen Denkens nicht anders möglich -, dann muss man diese Frage am tiefliegendsten und wurzelhaftesten Punkte angreifen. Das geschieht dort, wo man nach der allgemeinsten Voraussetzung unseres Denkens und Sprechens fragt, die alle Inhalte unbewusst prägt und mitgestaltet. Das ist nach heutiger Erkenntnis die Denkform oder die Denkstruktur. (Fs)

33b Es ist freilich eine offene Frage, ob es so etwas wie eine "katholische Denkform" gibt und geben kann. Eine bejahende Antwort auf diese Frage darf jedenfalls nicht vorschnell erfolgen. Sie könnte zu einer vereinseitigten Auffassung führen, aus der sich durchaus negative Folgerungen ergeben könnten. In Konsequenz müsste man dann wohl auch von einer "katholischen Philosophie", einer "katholischen Wissenschaft", einer "katholischen Politik" und Ähnlichem sprechen, was offenbar nicht möglich ist. Andererseits ist die Frage als solche nicht unberechtigt. Sie ist von katholischen Theologen, zumal von solchen, die am ökumenischen Gespräch führend beteiligt sind, immer wieder gestellt worden, u. a. von H. Urs v. Balthasar1 und J. Lortz.2 Ihre Berechtigung kann heute auch von der anderen Seite her aufgewiesen werden. In dem Werk des protestantischen Soziologen G. Schmidtchen "Protestanten und Katholiken"3 wird an einer Fülle von Materialien, deren korrekte Deutung nicht zu bezweifeln ist, der Nachweis gebracht, dass die Konfessionen noch heute die äußeren Lebensgewohnheiten der betreffenden Kirchenglieder in einem erstaunlichen Maße prägen, und zwar selbst derjenigen, die in keinem direkten Kontakt mit ihrer Kirche mehr stehen und sozusagen aus ihr emigriert sind. Die hier vorgenommene statistische Analyse ergreift eine Reihe von Unterschieden im Lebensstil, die aber auch tiefer in innere Einstellungen und personale Haltungen hinabreichen. So trifft Schmidtchen als evangelischer Soziologe Feststellungen, die ein katholischer Theologe nicht auszusprechen wagte, weil er sofort befürchten müsste, dass sie das interkonfessionelle Gespräch stören könnten. Er stellt so u. a. fest, dass Protestanten, aus ihrer Grundhaltung heraus, wenig glauben zu müssen, viel bereitwilliger und mehr "Unfug"4 glauben als Katholiken; dass sie politisch unzuverlässiger sind und dass sie wegen der unaufhörlichen Berufung auf die Autonomie des Gewissens immer neue Überzeugungen produzieren müssen; denn ein innerliches Autonomiebewusstsein muss sich immer wieder in solchen äußeren Unabhängigkeitsbezeugungen artikulieren.5 (Fs) (notabene)

34a All diese Unterschiede liegen für die vorliegende Fragestellung zwar verhältnismäßig an der Oberfläche. Aber Schmidtchen lotet an einigen Stellen noch tiefer und kommt zu der Behauptung, dass die "Bewusstseinsstrukturen" von Protestanten und Katholiken außerordentlich verschieden sind. Das aber ist eine Feststellung, die nach der Herausarbeitung der vielen äußeren Unterschiede im Lebensstil und in der Lebensauffassung durchaus nicht mehr unerwartet kommt. Ohne dass man aus diesem Tatbestand gleich einschneidende Folgerungen für die Wesensbestimmung der Konfessionen ziehen dürfte, gibt er doch soviel her, dass die Frage nach einer eigentümlichen katholischen (oder auch protestantischen) Denkform nicht als unsachgemäß angesehen werden kann. (Fs)

Bevor man sich aber daran begibt, diese Frage definitiv zu beantworten, muss man sich bezüglich des Begriffs der Denkform verständigt haben. Der Begriff hat seinen Ursprung bei Kant und Hegel und ist über H. Leisegang von E. Przywara, G. Söhngen, M. Schmaus u. a. auch in die moderne katholische Theologie übernommen worden.6 Trotz der Verschiedenartigkeit des Begriffsgebrauches gibt es doch eine gemeinsame Grundachse, die einen einheitlichen Grundsinn erkennen lässt. Danach darf die "Denkform" als ein formales, strukturierendes Prinzip verstanden werden, das alle gedanklichen Inhalte prägt, das ihnen eine eigentümliche Gestalt, eine Ordnung und einen Typus verleiht. Die Denkform wirkt ähnlich wie der Stil beim Sprechen und Schreiben, von dem man sich bekanntlich auch nur schwer trennen kann. (Fs) (notabene)

34b Solche Denkformen sind nicht rein logisch begründet und von der Logik verursacht, die ja eigentlich bei allen Menschen die gleiche sein müsste. Sie sind vielmehr mit einer Grundschicht verbunden, die in die Tradition, in die Erfahrung und in das Lebensgefühl hinabreicht. Sie sind freilich auch von der Vernunft beeinflusst und von Elementen bestimmt, die aus der Weltanschauung oder aus einer bestimmten Philosophie kommen. Es handelt sich demnach um anthropologische Grundstrukturen, die als Muster für die Auffassung der Wirklichkeit wirken und die diese Wirklichkeit immer in einer bestimmten Form darbieten oder in einem bestimmten Raster einfangen, so dass davon auch der Bezug zur Wirklichkeit bestimmt wird. (Fs)

35a Man kann sich das Gemeinte wegen seiner Bedeutung auch an geschichtlichen Beispielen verdeutlichen. H. Leisegang ging die Existenz solcher Denkformen und ihrer Bedeutung an der Lektüre der biblischen Schriften auf. Er empfand die Schwierigkeit, die stark antithetisch und gegensätzlich gefassten Behauptungen zu harmonisieren, etwa die Aussagen über die Nähe des Gottesreiches und andererseits über sein erst in Zukunft zu erwartendes Kommen. Solche Gegensätze sah er besonders bei Paulus gegeben, etwa in den Aussagen über das schon verwirklichte Christsein, über das "in Christus sein", und andererseits über das notwendige Christwerden, das sich etwa in der Formel ausspricht: "Ziehet Christus an" (Röm 13,14), "werdet ihm gleichförmig" (Röm 8,29). Er erkannte dabei richtig, dass es sich hier nicht um einfache Widersprüche handele, weil der Geist des Menschen, zumal des religiösen Menschen, nicht in Widersprüchen leben könne. So kam er schließlich zu näheren formalen Bestimmungen dieser paulinischen Denkform und sagte von ihr, es handele sich um ein am Phänomen des Lebens orientiertes Denken, das immer in Bewegung sei und gleichsam in einem Kreis verlaufe, so dass sich manche Aussagen auch wie Punkte auf der Peripherie eines Kreises diametral gegenüberstehen, aber doch zusammengehören, wenn man erkennt, dass es sich hier eben um ein kreisendes Denken handele, das alle diese Punkte in einer beständigen Kreisbewegung berührt und umfasst.7 (Fs)

35b Man kann nicht bestreiten, dass der Kulturphilosoph hier etwas Richtiges erkannte, ohne dass diese Erkenntnis in der Einzelausführung den denkerischen Ansprüchen genügte. Das Ungenügen wird sichtbar, wenn man erfährt, dass dieses am Phänomen des Lebens orientierte sogenannte "kreisende Denken" sich vorher schon bei Heraklit fand und in der Neuzeit ebenso bei Hegel. So rücken eigentlich Heraklit, Paulus und Hegel auf die gleiche Linie. Sie wären Vertreter der gleichen Denkform, was angesichts der zeitlichen und sachlichen Differenzen dieser Denkergestalten und ihrer "Systeme" nicht befriedigen kann. Glücklicher war Leisegang bei der Bestimmung der Platonischen Denkform, die nach dem Modell einer Begriffspyramide strukturiert ist, so dass alle Gedanken immer nach der höheren Idee ausgerichtet sind und der höchsten Idee des Guten zustreben. (Fs)

35c Wenn man die Geschichte der Theologie verfolgt, wird man häufig auf solche Unterschiede im Strukturellen treffen, etwa zwischen dem patristischen und dem scholastischen Denken bei der Erfassung der Glaubenswirklichkeit. So kann man zweifelsohne der gesamten Vätertheologie eine besondere theologische Denkform zuschreiben und diese von der Denkform der Scholastik abheben. Das patristische Denken darf man dahingehend charakterisieren, dass in ihm vor allem der heilsgeschichtliche Aspekt dominiert; unter dem die Offenbarung nach ihrem "Woher" und "Wohin" befragt und beurteilt wird. Als Beispiel darf etwa Irenäus v. Lyon genommen werden (+ 202), dessen theologisches Interesse auf den Heilsplan Gottes gerichtet ist.8 Die Erkenntnis dieses Heilsplanes und die Unterstellung des Menschen unter ihn schaffen das Heil. Demgegenüber ist das Denken der Scholastik weniger auf das Ganze und seinen übergreifenden Sinn gerichtet, nicht so sehr also an dem "Woher" und "Wohin" interessiert, als vielmehr an der Erkenntnis des Seins und des Wesens der Heilstaten und Heilswahrheiten Gottes, d. h. an der Erschließung der Wesensfrage. "Statisch" sollte man dieses Denken nicht nennen, weil die Scholastik sehr wohl wusste, dass das Wesen eines Dings und einer Wahrheit immer auf den Akt angelegt ist und auf Aktualisierung angewiesen bleibt. Dennoch darf man das scholastische Denken im Gegensatz zum patristischen als das nach dem Übergeschichtlichen fragende Wesensdenken charakterisieren. Der betreffende Denkstil oder die Denkform ist dann vorzugsweise die ontologisch-rationale. Allerdings darf auch nicht verkannt werden, dass es innerhalb dieser sogenannten "scholastischen" Denkform noch gewisse feine Unterschiede gab, etwa das mehr intellektive Bemühen der thomistischen Theologie und die mehr affektive Einstellung der Franziskanerschule, die die Theologie weniger als Wissenschaft denn als Weisheit verstand.9 Aber das rationale Verfahren war bei beiden vorhanden, was sich auch an der Verwendung der Denkmittel der Philosophie zeigte, die bei Thomas der Theologie vorgeordnet, bei Bonaventura ihr ein- und untergeordnet erscheint. (Fs) (notabene)

36a Mit der spätmittelalterlichen Deutschen Mystik trat nun wieder eine gänzlich andere theologische Sicht- und Betrachtungsweise auf den Plan, die in der bisherigen Theologiegeschichte immer eine kritische Beurteilung gefunden hat. Das patristische, das thomistische wie das Denken Bonaventuras waren trotz ihrer Stileigentümlichkeiten von dem Grundaxiom bestimmt, dass es das Allgemeine hinter den Einzelheiten, die Universalien vor oder in den Dingen, dass es die tiefere Wirklichkeit hinter der Sinnenwelt gibt, für die die Sinnenwelt nur Symbol und Zeichen ist. Die Deutsche Mystik dagegen zeigt eine ganz neue intensive Erfassung der Einheit von Gott und Welt, die im Subjekt des Menschen erlebt werden kann, die intuitiv erfahren werden und nicht diskursiv von der Ratio erschlossen werden muss, die dann selbstverständlich über die Feststellung der Unterschiede nicht hinauskommt. Diese mystische Theologie, vor allem von Meister Eckhart (+ 1327) vorgetragen,10 wurde damals nicht verstanden und als Pantheismus gedeutet, während sie in Wirklichkeit nur eine auf die innere Erfahrung gründende Einheitsschau war. (Fs) (notabene)

37a Wenn man schließlich die moderne theologische Denkform charakterisieren will, so darf man sagen, dass sie auch wieder mehr geschichtlich oder heilsgeschichtlich orientiert ist, dass sie, allgemein gesprochen, auf Erfahrung und existentielle Aneignung der Glaubenswirklichkeit aus ist und auf die Herausfindung der personalen Bedeutung der Heilswahrheit.11

37b So kann es keinen Zweifel geben, dass es innerhalb des Katholizismus immer wieder besondere Denkstile und Denkformen gegeben hat, die alle legitim waren und die eine Wahrheit unter verschiedenen Aspekten verstanden. Von daher wird es allerdings problematisch, von einer einzigen katholischen Denkform zu sprechen. (Fs)

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