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Autor: Navarro-Vals, Joaquin

Buch: Begegnungen und Dankbarkeit

Titel: Begegnungen und Dankbarkeit

Stichwort: Libanon: Spiegel der Welt; Ursache d. Konflikts: Angst vor Verlust d. Identität; Therapie: Aufbau einer Gesellschaft: Vertrauen in den universalen Wert des Menschseins

Kurzinhalt: ... dass die eigentliche Triebfeder eines Konflikts nicht so sehr der Wunsch ist, seine eigene Identität gegen eine feindliche Bedrohung zu verteidigen, als die Angst, besagte Identität zu verlieren.

Textausschnitt: 164c Der Libanon ist eine Art exemplarischer Mikrokosmos, in dem sich in verkleinertem Maßstab einige der wesentlichen Probleme und grundlegenden Herausforderungen unserer globalen Wirklichkeit wiederfinden lassen. Wie wir Ärzte bei einer Biopsie in einem winzigen Gewebestück alles über den Gesundheitszustand eines ganzen Organs erfahren, so lassen sich durch einen Blick auf die libanesische Gesellschaft einige wirklich besorgniserregende Symptome der ganzen Welt diagnostizieren. (Fs)

165a Die politischen Autoritäten des Westens haben dies genau verstanden. Nicolas Sarkozy ist erst vor kurzem in den Libanon gereist, um dem neuen Präsidenten Michel Suleiman und Premierminister Fouad Siniora einen Besuch abzustatten. Und Condoleezza Rice war vor Ort, um den neuen Spitzen der nationalen Politik, die in Beirut in ihre Ämter eingeführt wurden, die Unterstützung der Regierung Bush zuzusichern. (Fs)

Auffällig ist, dass beide Staatsbesuche angesichts der konfliktbeladenen Situation im besagten Land nach derselben rein diplomatischen Logik vonstattengegangen sind. So betonte Sarkozy die Wichtigkeit dieser auf breiter Zustimmung gründenden neuen Regierung, die in der Lage sei, die vielfältigen soziokulturellen Identitäten im Libanon zu repräsentieren; wahrend Rice der amerikanischen Hoffnung Ausdruck verlieh, dass man eine vorteilhafte Einigung zwischen den nun schon seit geraumer Zeit zerstrittenen Parteien erzielen werde. (Fs)

165b Offenkundig herrscht — von den legitimen und beiderseitigen Interessen Frankreichs und der Vereinigten Staaten einmal abgesehen — ein allgemeiner Optimismus, was eine politische Lösung des libanesischen Bürgerkriegs betrifft, die dank des neuen Präsidenten und der neuen Regierung in greifbare Nähe zu rücken scheint. Trotz aller Anstrengungen besteht jedoch eine interessante Diskrepanz zwischen diesen verheißungsvollen Anfängen und den Nachrichten, die uns in den letzten Stunden von dort erreichen. Die Zahl der zivilen Opfer steigt kontinuierlich und erreicht soeben im Norden, unweit der Stadt Tripoli, eine noch nicht näher bestimmte Höhe. (Fs)

165c Noch vor einigen Sonntagen wurde ich hellhörig, als der Papst beim Angelusgebet auf das Drama des Libanon zu sprechen kam. Mir fiel auf, dass Benedikt XVI. in seiner Analyse ganz andere Schwerpunkte setzte als die politischen Kommentatoren. Seine Worte galten vor allem den persönlichen Motiven, die die Menschen zum Selbstmord veranlassen. Denn die Logik der Auseinandersetzung im Libanon hat nichts mehr mit der Verteidigung bestimmter religiöser, wirtschaftlicher oder politischer Interessen zu tun. Es handelt sich um eine ganz andere, im konventionellen Sinn vielleicht gar nicht wirklich fassbare Logik, die der Papst jedoch mit sicherer Intuition erraten zu haben scheint. Er hat immer wieder darauf hingewiesen, dass die eigentliche Triebfeder eines Konflikts nicht so sehr der Wunsch ist, seine eigene Identität gegen eine feindliche Bedrohung zu verteidigen, als die Angst, besagte Identität zu verlieren. Das heißt, die Tatsache, dass eine Gruppe der Opposition und eine andere der Mehrheit angehört oder dass - wie im vorliegenden Fall - ein kultureller Unterschied zwischen einer sunnitischen und einer alawitischen Partei besteht, ist lediglich ein Alibi und ein Vorwand, nicht aber der Beweggrund und die Rechtfertigung der Gewalttaten. (Fs) (notabene)

166a Andererseits ist es nicht so sehr die Verteidigung einer Identität, die die Völker heute überall in der Welt in den Bürgerkrieg zu treiben scheint, sondern eher die Angst, gar keine Identität mehr zu besitzen. Und das Mittel, Konflikte zu lösen, kann nicht in der Stabilität einer neuen Exekutive bestehen, so wirkungsvoll diese auch sein mag, denn das Problem ist nicht das Zusammenleben heterogener sozialer Gruppen, sondern eine tiefsitzende Angst. Sie treibt ganze Gruppen von Menschen dazu, sich zu bewaffnen und sich auf radikale Weise — nämlich indem sie das Leben anderer Menschen vernichten — ihrer eigenen Identität zu vergewissern. Die Therapie muss auch in diesem Fall auf die Krankheit abgestimmt werden. Und die Krankheit ist die Angst und der wesentliche Identitätsverlust der Menschen — ein Identitätsverlust, der sie fürchten lässt, ihren Daseinsgrund zu verlieren, sobald sie sich nicht mehr gegen "die anderen" verteidigen müssen. (Fs) (notabene)

Vielleicht muss die Politik sich damit abfinden, dass die oberste Priorität im Aufbau einer Gesellschaft besteht, die die persönliche Teilhabe am Menschsein für jeden Einzelnen wieder zu einem echten kulturellen und ideellen Zugehörigkeitsgefühl werden lässt. Und zur Grundlage einer Ethik, die wie Pascal es ausgedrückt hat, auch darin besteht, alle Unterschiede der anderen vor dem gemeinsamen Hintergrund unseres Personseins zu akzeptieren und anzuerkennen. (Fs) (notabene)

166b Eine Gesellschaft aufzubauen, die das friedliche Miteinander der Menschen ermöglicht, heißt natürlich nicht, die Verschiedenheiten und die spezifischen kulturellen und wirtschaftlichen Interessen jedes Einzelnen einzuebnen, sondern die Unterschiede in ein weiter gefasstes und umfassenderes Menschenbild als das bisherige einzuordnen. Denn nur wenn uns wieder ins Bewusstsein rückt, dass jeder Einzelne an der universalen Identität des Menschen als solchen teilhat, kann innerhalb der engen Grenzen ein und desselben Territoriums ein friedliches Zusammenleben zwischen verschiedenen Gesellschaftsgruppen entstehen. Jede soziale Identität ist letztlich nur dann positiv, wenn sie nicht aus der Angst, sondern aus dem Vertrauen in den universalen Wert des Menschseins erwächst — einem Wert, den jeder innerhalb seiner eigenen kulturellen Besonderheit leben kann und sogar leben muss. (Fs) (notabene)
167a Ansonsten bleibt nur die Alternative, sich auf eine politische Handhabe der Konflikte zu beschränken, die man jedoch niemals so wird lösen können, dass ein dauerhafter Friede entsteht. (E)

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