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Autor: Navarro-Vals, Joaquin

Buch: Begegnungen und Dankbarkeit

Titel: Begegnungen und Dankbarkeit

Stichwort: Zölibat; Kirchenrecht: Ivo von Chartres, Gratian; Konzil von Granada-Elvira; gregorianische Reform; Grundproblem: Angst vor Endgültigkeit

Kurzinhalt: Wo ein wirklicher Anlass zur Endgültigkeit fehlt, liegt es auf der Hand, dass sich in den Ergebnissen einer freien Entscheidung — selbst der für die Ehe oder für einen Beruf— nur wenig ändern kann.

Textausschnitt: Zölibat (eü)

104d Die jüngsten Äußerungen des Präfekten der Kongregation für den Klerus Claudio Kardinal Hummes über den Zölibat haben für Aufsehen gesorgt. Dabei ist es keineswegs skandalös, wenn jemand darauf hinweist, dass der Zölibat kein Dogma, sondern eine institutionelle Entscheidung ist. Und die Aussage, die Kirche sei "nicht unbeweglich, sondern ändert sich dort, wo sie sich ändern muss", ist erst recht nicht skandalös. (Fs)
104e Schließlich hat der französische Kirchenrechtler Ivo von Chartres schon Anfang des zwölften Jahrhunderts im Prolog zu seinem berühmten Werk "Panormia" dieselbe These vertreten, und Gratian hat sie in seinem "Decretum", also jenem Opus, auf dem das gesamte Kirchenrecht aufbaut, wiederaufgegriffen. (Fs)

105a Es gibt nicht viele unabänderliche Gesetze der Kirche, tatsächlich sind es vielleicht sogar nur ganz wenige, und zu ihnen gehört das Gebot der Liebe, aber nicht das Gesetz des Zölibats. Der Bedeutung dieser Institution tut dies jedoch keinen Abbruch, sondern steigert sie eher noch. Deshalb hat auch Benedikt XVI. die Leiter der Dikasterien der römischen Kurie noch einmal nachdrücklich auf die Notwendigkeit hingewiesen, die Sitte des priesterlichen Zölibats aufrechtzuerhalten, während sich Bischof Milingo zur gleichen Zeit automatisch die Exkommunikation latae sententiae einhandelte. Wie Ratzinger schon als Kardinal in seinem Interviewbuch "Salz der Erde" erklärt hatte, muss der Priester schon in diesem Leben für seine eigene Entscheidung Zeugnis geben und daher auf die Ehe und die natürliche Fortpflanzung verzichten. Mit dieser Enthaltsamkeit wird die Ehe nicht abqualifiziert; vielmehr geht es um einen Verzicht "auf das, was das menschlich eigentlich nicht nur Normalste, sondern auch Wichtigste ist". Der religiöse Charakter des Priestertums, so fährt der Papst fort, führt dazu, das auszulassen, "was normalerweise eine menschliche Existenz erst erwachsen und zukunftsträchtig macht". (Fs)

105b Mit dem Zölibat geht der Priester mithin die Verpflichtung ein, ein neues Leben zu führen. (Fs)

Wenn wir die Geschichte der Institution des Zölibats nachzeichnen wollen, müssen wir zwar nicht gerade bis zu den Aposteln, aber doch sehr weit in die Vergangenheit zurückgehen. Die Apostel nämlich wurden aus dem Familienstand heraus, in dem sie sich bereits befanden, in die Nachfolge des Meisters gerufen. Ausdrückliche Stellungnahmen zu dieser Frage ließen bis ins vierte Jahrhundert auf sich warten. 306 legte das Konzil von Granada-Elvira den Priestern den Zölibat nahe, und 386 wurde diese Entscheidung von der Synode von Rom bekräftigt. (Fs)

105c Dass diese Empfehlung in den Jahrhunderten danach nicht bestätigt wurde, ist nicht weiter verwunderlich, wenn man bedenkt, welche Auswirkungen es hatte, dass diese Gepflogenheit in der Folgezeit wieder aufgegeben wurde. Zu den tiefgreifendsten Ursachen für den Niedergang der Kirche in den zentralen Jahrhunderten des Mittelalters zählen ja bekanntlich die von den mächtigen Feudalherren begünstigten Verbindungen zwischen dem Klerus und den weltlichen Mächten. (Fs)

106a Namen wie Tuscolo und Crescenzio sagen uns Heutigen nicht mehr allzu viel, doch so hießen einige dieser einflussreichen Familien, die zwischen dem 10. und dem 11. Jahrhundert das Sagen hatten, einige Päpste in ihren Reihen hatten und größtenteils für die Korruption innerhalb der Institution Kirche verantwortlich waren. (Fs)

106b Bekanntlich haben die gregorianische Reform und die ersten großen Konzilien des Mittelalters den Zölibat nachdrücklich bestätigt, und zwar nicht als eine noch nicht dagewesene Neuerung, sondern als ein Wiederanknüpfen an die ursprüngliche Berufung zum christlichen Priestertum. Das Beispiel des von Dante hochverehrten und vielzitierten Mönchs Petrus Damiani, der kurz vor der gregorianischen Reform gelebt hat, beweist, dass die Gläubigen damals die Wiedereinführung dieser alten Gepflogenheit als wichtige Voraussetzung dafür betrachteten, nicht so sehr die christliche Identität, wohl aber die Bestimmung zum Priestertum und das Ende der moralischen Verderbtheit des Klerus zu besiegeln. (Fs) (notabene)

Seit der Absetzung der verheirateten Priester durch Gregor VII. im Jahr 1074 sind alle Zweifel bezüglich des Zölibats in der lateinischen Kirche ausgeräumt. Der Osten dagegen beschritt bekanntlich einen anderen Weg, als er von 692 an den Zölibat für die Bischöfe festlegte, den vor der Weihe bereits verheirateten Priestern jedoch Dispens erteilte. (Fs)

106c Seit den Ereignissen im Zusammenhang mit der Abspaltung der anglikanischen Kirche und der reformierten Kirchen, die ein anderes Bild des Priestertums vertreten, richtet sich die priesterliche Praxis in der katholischen Kirche nach dem, was das Konzil von Trient Mitte des 16. Jahrhunderts über den Zölibat festgelegt hat. (Fs)

106d Man darf nicht vergessen, dass die Entscheidung zum Priestertum noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts von sehr jungen Menschen getroffen wurde und die Seminare vor allem von Jugendlichen bevölkert waren. Heute hat sich die Situation natürlich verändert, denn zum einen sind die Kleriker in puncto Herkunft und Kultur deutlich heterogener und zum anderen ist das Berufungsalter höher. Was zugegebenermaßen auch positiv ist, weil es zu einem gesteigerten Bewusstsein der christlichen Identität führt. Und diese wiederum kann bei der Entscheidung für das Priestertum den Ausschlag geben. Ich glaube, der eigentliche Punkt ist folgender:
107a Das, was einen Mann wirklich dazu bewegt, sich für das Priestertum zu entscheiden, ist der späteren Zustimmung zum Zölibat grundlegend vorgeordnet, denn es geht um das Warum und das Wie einer so schwerwiegenden Entscheidung: eines Schritts, der sein ganzes Leben beeinflusst. (Fs)

107b Infolge der Säkularisierung leben wir heute womöglich in einer soziologischen und historischen Situation, in der sich das Band zwischen einer einmal getroffenen Entscheidung und der Dauerhaftigkeit oder zeitlichen Stabilität einer definitiv übernommenen Verantwortung gelockert hat. Dieses Problem betrifft jedoch weder den Zölibat noch die Ehe, sondern den Menschen selbst in seiner tiefsten existentiellen Struktur. Wo ein wirklicher Anlass zur Endgültigkeit fehlt, liegt es auf der Hand, dass sich in den Ergebnissen einer freien Entscheidung — selbst der für die Ehe oder für einen Beruf— nur wenig ändern kann. (Fs)

Aus ebendiesem Grund nimmt auch dort, wo das Priestertum vom Zölibat getrennt ist - zum Beispiel in den nichtkatholischen christlichen Konfessionen wie Anglikanern, Lutheranern usw. —, die Zahl der Berufungen nicht zu: Der Zölibat ist gar nicht das Problem. Die alles entscheidende Frage ist vielmehr die, ob ein Mensch vertrauensvoll und aufgeschlossen ist für ein Geschenk, eine Gnade und eine Kraft, die nicht aus ihm selbst stammen, sondern ihm ungeschuldet zuteilwerden - und die es ihm gerade deshalb ermöglichen, sein Leben lang weiterzumachen. (Fs)

107c Bei alledem ist das menschliche Versprechen von elementarer Bedeutung. Und wie sollte es auch anders sein? Fakt ist doch, dass es nicht dasselbe ist, ob man sich für einen Lebensweg entscheidet, weil man auf die Hilfe und Kraft eines anderen vertraut, oder ob man seine Entscheidung für sich alleine trifft. Jedes Kind verlässt sich darauf, dass es täglich wächst und lebt, weil es den Menschen vertraut, die für es sorgen, weil es seinen Eltern vertraut und denen, die es lieben, denn sonst müsste es verzweifeln — wie ja auch wir Erwachsene so oft verzweifeln, wenn wir uns einsam fühlen. (Fs)

108a Vielleicht also müsste man eher über die Säkularisierung und über die heutigen Lebenseinstellungen sprechen, die in der Instabilität und der Beliebigkeit der Entscheidungen wurzeln, als auf die Folgen zu schauen, die aus solchen Gegebenheiten erwachsen können. (Fs) (notabene)

108b Alle Entscheidungen des Menschen sind zwangsläufig schwach und provisorisch, solange er sich nicht frei auf eine Stabilität hin öffnet, die er nicht aus eigener Kraft besitzen und beanspruchen kann. So gesehen sind alle menschlichen Entscheidungen, die eine lebenslange Verpflichtung beinhalten, entweder völlig bedeutungslos und damit unmöglich, oder sie haben einen Sinn, der sich nur im Rahmen einer unbegrenzten Verbindlichkeit erfüllen kann. (E)

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