Datenbank/Lektüre


Autor: Navarro-Vals, Joaquin

Buch: Begegnungen und Dankbarkeit

Titel: Begegnungen und Dankbarkeit

Stichwort: Komapatien, Koma, Bioethik; Freiheit, personale Würde

Kurzinhalt: Wird ein früherer Wille in der Gegenwart aktiviert — und das gilt beispielsweise auch für eine Patientenverfügung —, dann besteht die Gefahr, dass wir einem Subjekt, das frei war und es nun nicht mehr ist, Gewalt antun: Gewalt hinsichtlich der ...

Textausschnitt: Komapatient (eü)

82b Es scheint, dass die bioethischen Fragen in letzter Zeit im Mittelpunkt des Interesses stehen. Nach dem traurigen Schicksal von Eluana Englaro haben wir es nun mit einer ganzen Reihe von Fällen zu tun, die elementare ethische Bezugssysteme und damit die Grundfesten unseres gemeinsamen Denkens und unserer Zivilisation erschüttern. Aktuell dreht sich die Debatte um den zugegeben ungewöhnlichen Fall einer Frau aus Vigevano: Sie wünscht sich ein Kind von ihrem Mann, der einen schweren Gehirntumor hat und im Koma liegt. Nach einigen eher skeptischen Reaktionen — nicht, was die technische Durchführbarkeit, sondern was die ethische Rechtmäßigkeit ihres Ansinnens betrifft — meldete sich Professor Severino Antinori zu Wort und erklärte sich bereit, den Eingriff kostenlos durchzuführen. Wie wir gehört haben, handelt es sich darum, "die Gameten des Mannes, der im Koma liegt, zu entnehmen und in die Oozyten der Frau zu injizieren." (Fs)

82d Von den im engeren Sinne operativen Fragen und den möglichen Folgen einmal abgesehen, scheint auf dem Gebiet der Bioethik eine plötzliche Beschleunigung eingetreten zu sein, die allerdings meist nicht mit der nötigen Klugheit, das heißt mit einer korrekten und rationalen Abwägung der Konsequenzen einhergeht. Während man nämlich noch bis vor einigen Jahren anlässlich des Fortpflanzungsgesetzes darüber diskutierte, ob die Reagenzglaszeugung ratsam sei oder nicht, geht es derzeit immer häufiger um Menschen, die nicht mehr oder noch nicht in der Lage sind, ihre eigene Freiheit auszuüben. (Fs)

83a Wenn uns die Erfahrung eines lehrt, dann, dass man den Ereignissen solange Zeit geben muss, bis sie in einer angemessenen Sprache und mit den geeigneten Worten ausgedrückt werden können. Bei näherem Hinsehen stellen wir nämlich fest, dass wir es hier gar nicht mehr mit einer bioethischen Frage im klassischen Sinne, sondern mit einer technischen Bewertung aus dem Labor zu tun haben. Wir alle sind aufgerufen, uns mit Aspekten der persönlichen Freiheit und des Lebens auseinanderzusetzen, die noch gar nicht gründlich durchdacht worden sind. Nicht einmal dazu reicht die Zeit. (Fs)

83b Es scheint zuweilen, dass alles mit einer gewissen Hast erledigt werden soll und man nicht abwarten kann, bis man mehr über das weiß, was man da tun will. Im vorliegenden Fall wird die persönliche Freiheit eines Menschen gleichsam aus der Vergangenheit in den Zeugenstand gerufen, um etwas darüber auszusagen, was dieser Mensch gewollt hätte — auch wenn er dem heute nicht mehr zustimmen, geschweige denn es aus eigener Kraft tun kann. Abgesehen von den Interessen einiger Ärzte, die solche Fälle menschlichen Leidens nutzen, um wichtige medizinische Resultate zu erzielen, ist und bleibt es sehr schwierig einzusehen, was an einem solchen Gebrauch der Hoffnung und der Freiheit vernünftig sein sollte. Wie viele von uns waren schon einmal in der emotionalen Situation, beschwören zu können, dass sie etwas Bestimmtes niemals tun würden — und haben es dann doch getan? Wie viele von uns haben sich nicht nach einem üppigen Mittagessen schon einmal geschworen, nie wieder Süßes zu essen, und standen nur wenige Stunden später mit Köstlichkeiten beladen an der Kasse einer Konditorei? (Fs)
83c Es hängt davon ab! Und dieses Abhängen von der Zufälligkeit der Dinge ist das Wesen unserer Selbstbestimmtheit. Die Freiheit nämlich drückt sich nur dann wirklich aus, wenn jemand die Möglichkeit hat, seine Meinung zu ändern und das Gegenteil von dem zu tun, was zuvor vereinbart war. Alles andere ist Notwendigkeit, ist Verpflichtung. Ist weder Willkür noch Wahl. Die Freiheit einer Person außerhalb ihres eigenen Bewusstseins ausüben zu wollen, ist deswegen so paradox, weil wir damit diese Unbestimmtheit des Handelns in gewisser Weise unterdrücken und zu etwas machen, was zwangsläufig von anderen bestimmt wird. Auf die in diesem Fall vorgebrachte Behauptung, es sei der ursprüngliche Wunsch des heute komatösen Mannes gewesen, Kinder zu haben, muss man erwidern, dass dieses Argument nur dann gilt, wenn angenommen werden kann, dass der Patient von seinem Kinderwunsch derart überzeugt war, dass er ihn als eine für alle Zeiten unumstößliche Notwendigkeit und damit nicht mehr wirklich als eine Frage der Freiheit empfunden hat. (Fs)

84a Wenn man hingegen die Freiheit eines Menschen anerkennen will, muss man akzeptieren, dass diese Freiheit nur für die Gegenwart und nur dann geltend gemacht werden kann, wenn der Betreffende bei Bewusstsein und zurechnungsfähig ist, dass sie aber niemals zu einem anderen Zeitpunkt und in einer anderen Situation von einem anderen eingeräumt oder ausgedrückt wird. Deshalb ist ja beispielsweise auch ein Testament in dem Moment anfechtbar, wo bewiesen wird, dass der Verfasser nicht imstande war, etwas zu beabsichtigen oder zu wollen, dass er gefügig gemacht oder bedroht und mithin gezwungen worden ist, so über seine Besitztümer zu verfügen, wie dort niedergelegt. (Fs)

84b Wird ein früherer Wille in der Gegenwart aktiviert — und das gilt beispielsweise auch für eine Patientenverfügung —, dann besteht die Gefahr, dass wir einem Subjekt, das frei war und es nun nicht mehr ist, Gewalt antun: Gewalt hinsichtlich der Möglichkeit, jetzt etwas anderes zu wollen, als es zu einem früheren Zeitpunkt mündlich oder schriftlich geäußert hat. (Fs) (notabene)

84c Was hingegen die materiellen Güter betrifft, so liegt es auf der Hand, dass man auf ein Testament zurückgreifen muss. Und so schreibt es ja auch die Gesetzgebung aller Länder vor, damit diese Güter nicht verschwendet oder zerstört werden. Man akzeptiert dies unter Vorbehalt, weil man weiß, dass kraft eines nicht mehr überprüfbaren Willens das Erklärte gesetzlichen Verfahren unterzogen werden kann, die der Erklärung ihre Legitimität entziehen. (Fs)

85a Eine Patientenverfügung oder die mögliche Ausübung der Freiheit eines anderen bezieht sich allerdings nicht auf materielle Güter, sondern auf direkte, persönliche Aspekte des Lebens. An diesem Punkt wird das Ganze beunruhigend und paradox. Denn die materiellen Güter leben nicht und lassen sich, wenn sie nicht zerstört oder vergeudet werden, in jedem Fall an andere weitergeben. Doch wer soll bei der Geburt eines Kindes oder der Entscheidung, einen Patienten sterben zu lassen, die endgültige Verantwortung für die persönlichen Konsequenzen übernehmen, die sich daraus ergeben? (Fs)

85b Man muss vorsichtig sein. Selbst ein Philosoph wie Habermas ist unschlüssig, was die Last der Verantwortung betrifft, die ein freier Mensch in einem solchen Fall für einen nicht mehr freien Menschen auf sich nimmt: einen Menschen, der nichts mehr bestimmen und damit auch keine echte Verantwortung mehr für sein eigenes, geschweige denn ein fremdes oder gar ein ungeborenes Leben übernehmen kann. (Fs)

85c Statt hastig eine neue Möglichkeit nach der anderen auszuprobieren, wäre es für den Menschen derzeit eher ratsam, diese neuen Möglichkeiten erst einmal zu bewerten und gründlich nachzudenken: über das, was in den vergangenen Monaten geschehen ist, und über die Chancen, die wir haben, besser und vernünftiger mit den sich abzeichnenden allerneuesten Entwicklungen umzugehen. Als Leitlinie könnte das "rechte Maß" des Aristoteles dienen, das uns lehrt, einem Komapatienten weder seine personale Würde abzusprechen noch ihm eine Freiheit zuzubilligen, die er gar nicht mehr ausüben kann. Vielmehr sollten wir uns eingestehen, dass wir es mit Personen zu tun haben, die trotz ihres komatösen Zustands in jeder Hinsicht Menschen bleiben: Menschen mit einer uneingeschränkten Würde, die jedoch schlichtweg nicht in der Lage sind, ihre Freiheit auszuüben - auch dann nicht, wenn sie diese Freiheit vor Jahren auf ihre Frau hätten übertragen wollen, um ein Kind mit ihr zu zeugen. (Fs) (notabene)
86a Es sieht tatsächlich so aus, als wäre die Anthropologie lehr viel nuancenreicher als vermutet. Und sehr viel riskanter. (E)

____________________________

Home Sitemap Lonergan/Literatur Grundkurs/Philosophie Artikel/Texte Datenbank/Lektüre Links/Aktuell/Galerie Impressum/Kontakt