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Autor: Navarro-Vals, Joaquin

Buch: Begegnungen und Dankbarkeit

Titel: Begegnungen und Dankbarkeit

Stichwort: Mutter Teresa, Johannes Paul II.; Spiritualität, emotionale Leere; Ölberg, Lebensweg, Entscheidung, Ungewissheit, Leiden

Kurzinhalt: Interessant ist jedoch vor allem die Erkenntnis, dass ein solches existentielles Engagement immer mit Ungewissheit einhergeht. Einer Ungewissheit, die so wesentlich ist, dass sie für jeden zum entscheidenden Prüfstein wird.

Textausschnitt: Mutter Teresa (eü)

54c Auch für Mutter Teresa war der Besuch Johannes Pauls II. von ungeheurer Bedeutung. Das war das Erste, worüber wir miteinander sprachen, als sie 1990 nach Rom kam und wir in meinem Büro erneut zusammentrafen: die Kalkutta-Reise des Papstes und das Wichtige, was wir dort erlebt hatten. Im Gedanken an die vielen Kranken, die seither dort in ihren Armen gestorben waren, deutete sie den Sinn der Begegnung mit Johannes Paul II. unvermittelt mit einem leisen Hauch von Ironie: Sie habe "im Lauf der Jahre über 20 000 Personen eine Fahrkarte zum heiligen Petrus ausstellen können". (Fs)

Danach zeigte ich ihr einige Fotos von ihr und dem Papst; sie blickte auf und lächelte mich an, und ich begriff, dass sie gerne eines davon haben wollte. Ihre Freude darüber, diese konkrete Erinnerung mitnehmen zu dürfen, hat mich tief beeindruckt. (Fs)

54d 1993 traf ich wieder mit Mutter Teresa zusammen: während des Albanienbesuchs, dem wenige Monate später ein weiteres Treffen in Rom folgte — unser letztes. Ich erinnere mich, dass ich ihr bei dieser Gelegenheit eine ziemlich direkte Frage gestellt habe; ich fragte sie, was sie einer Mitschwester sagen würde, die darüber nachdächte, den begonnenen Weg zu verlassen. Sie antwortete ohne Zögern: "Ich würde sagen: 'Hab keine Angst, jetzt bist du mit deinem leidenden Bräutigam zusammen am Ölberg... Geh weiter, gib nicht auf!'" Damals ahnte ich noch nicht, dass dies vielleicht genau der Satz war, mit dem sie sich selbst in den Phasen der inneren Trockenheit jahrelang Mut zugesprochen hatte. (Fs)

55a Vielleicht verbirgt sich hinter einer so tiefen und so feinsinnigen Antwort der letzte Sinn ihrer Drangsal, die eigentliche Bedeutung jener spirituellen Situation, jener bitteren inneren Dürre, unter der Mutter Teresa viele Lebensjahre lang gelitten hat. (Fs)

55b Dieses Phänomen ist den Mystikern aller Epochen wohlbekannt: Plötzlich bleibt der Inhalt jener Wahrheiten, an die man glaubt und die dem eigenen Dasein einen Sinn geben, in der Gefühlswelt ohne Widerhall. Diese trostlose emotionale Leere führt sogar dazu, dass man die einzige Wahrheit, für die man sein Leben geben würde, infrage stellt. Angelus Silesius nannte dies die "Finsternis der Seele", und Mutter Teresa benutzte hierfür die poetische Sprache, die wir bei Johannes vom Kreuz oder Therese von Lisieux bewundern können und die ihr zutiefst vertraut war. (Fs)

55c Natürlich war ihre religiöse Überzeugung nicht leicht zu verstehen, denn sie war gegen alle Banalität und Oberflächlichkeit gefeit. Mutter Teresa wusste sehr genau, dass die existentielle Erfahrung eines jeden Menschen schwierige Zeiten und Phasen großer Trockenheit und Trostlosigkeit durchmacht. All das ist jedoch kein Zeichen für einen Mangel an Glauben, sondern für das normale — oder, wie in ihrem Fall, vielleicht auch heroische - Opfer, das jeden erwartet, der versucht, seine eigenen Pflichten und Entscheidungen mit letzter Konsequenz zu leben. Und das betrifft nicht nur die besonderen Standespflichten einer Ordensberufung. (Fs)
55d Ob ein beliebiger Daseinsweg außergewöhnlich und reich wird, hängt immer davon ab, ob man sich für ein großes Lebensideal entscheidet und engagiert: ob man etwas im eigentlichen Sinne als ein "Muss" erkennt, dem man zu gegebener Zeit seine ganze Existenz unterordnet und viele andere, hier und da vielleicht sogar attraktivere und angenehmere Chancen opfert. (Fs; tblStw: Trostbuch) (notabene)

55e Was es mit diesem verlustgeprägten Existenzstatus auf sich hat, erfahren wir aus den Schriften zahlloser Menschen, die ihren Heroismus in mühseligem Kampf gelebt und in brillanter Weise geschildert haben - und die dadurch berühmt geworden sind. Interessant ist jedoch vor allem die Erkenntnis, dass ein solches existentielles Engagement immer mit Ungewissheit einhergeht. Einer Ungewissheit, die so wesentlich ist, dass sie für jeden zum entscheidenden Prüfstein wird. (Fs) (notabene)

56a Auch Leibniz hat erkannt, dass weniger das Übel und das Leid als vielmehr ihr Fehlen den Menschen in eine Krise stürzt. Jede Wertentscheidung setzt nämlich den Entschluss voraus, sich mit aller Konsequenz sein Leben lang für ein Ideal einzusetzen, das eben nicht von blasser Zufriedenheit, sondern vom Leiden inspiriert ist — einem Leiden, das in der Tiefe des eigenen Selbst erfahren wird und über die Gegenwart hinaus auf das hin ausgerichtet ist, das man letztlich sein will. (Fs)

56b Muss man also aus Mutter Teresas Briefen, die all das bezeugen, den Schluss ziehen, dass ihr Lächeln — jenes Lächeln, das ich immer auf ihrem Gesicht gesehen habe — unecht, dass ihre Lebensentscheidung nicht aufrichtig, dass ihre Lebensweise heuchlerisch war?
Ich glaube nicht. (Fs)

56c Ich glaube eher, dass Mutter Teresas inneres Klagen — ein Klagen an die Adresse ebenjenes Gottes, den zu "fühlen" ihre Gefühle sich weigerten — uns allen bewusst macht, wie unwegsam der Weg zur Vollendung der eigenen Authentizität bisweilen sein kann. (E)

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