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Autor: Thomas, Aquin von

Buch: Wesen und Ausstattung des Menschen

Titel: F1_076 - Die Seele in ihrer Vereinigung mit dem Körper

Stichwort: F1_076a1c; Ist der Urgrund des Verstehens als Form mit dem Körper vereint?; Verstandesseele als Form d. Leibes; Verstand (Teil d. Sokrates); Phantasiebilder : Verstand wie Farben : Gesichtssinn (Aristoteles vs. Averroes)

Kurzinhalt: Nichts wirkt, sofern es nicht wirklich ist. Wodurch also etwas wirklich ist, dadurch wirkt es. Nun ist aber offenbar das Erste, wodurch der Leib lebt, die Seele... Es ergibt sich also, daß der Verstand, durch den Sokrates denkt, ein Teil des Sokrates ...

Textausschnitt: ANTWORT: Man muß notwendig sagen: Der Verstand, der der Urgrund der Verstehtätigkeit ist, ist die Form des menschlichen Körpers. Denn das, wodurch etwas zuerst tätig ist, ist Form dessen, dem die Tätigkeit zugeschrieben wird, wie das, wodurch der Leib zuerst geheilt wird, die Gesundheit, und das Erste, wodurch die Seele weiß, das Wissen ist. Daher ist die Gesundheit eine Form des Leibes und das Wissen eine Form der Seele. Der Grund hierfür ist dieser: Nichts wirkt, sofern es nicht wirklich ist. Wodurch also etwas wirklich ist, dadurch wirkt es. Nun ist aber offenbar das Erste, wodurch der Leib lebt, die Seele. Und weil sich das Leben auf den verschiedenen Stufen der Lebewesen durch verschiedene Tätigkeiten kundtut, ist das, wodurch wir zuerst jede einzelne dieser Lebenstätigkeiten ausführen, die Seele. Denn die Seele ist das Erste, wodurch wir uns nähren, sinnlich wahrnehmen, uns räumlich bewegen, und ebenso das Erste, wodurch wir verstehen [oder denken]. Dieser Grund also, durch den zuerst wir denken - werde er nun Verstand oder verstandbegabte Seele genannt -, ist die Form des Leibes. — Und das ist die Beweisführung des Aristoteles.1 (Fs) (notabene)

Wollte aber einer sagen, die Verstandesseele sei nicht, die Form des Leibes, so muß er ausfindig machen, auf welche Weise jene Tätigkeit, d. i. das Denken, Tätigkeit dieses Menschen ist. Ein jeder macht nämlich die Erfahrung, daß er selbst es ist, der denkt. Nach der Lehre des Philosophen wird aber eine Tätigkeit einem Wesen auf dreifache Weise beigelegt. Man sagt nämlich, etwas bewege oder sei tätig entweder mit seinem Ganzen: wie der Arzt heilt; oder mit einem Teil: wie der Mensch mit dem Auge sieht; oder nebenbei: wie man von einem Weißen sagt, es baue, weil es dem Bauenden nebenbei [zufällig] zukommt, weiß zu sein. Wenn wir nun sagen: Sokrates oder Plato denkt, so ist klar, daß ihm dies nicht zufällig beigelegt wird. Denn es wird ihm beigelegt, sofern er Mensch ist, was wesentlich von ihm ausgesagt wird. Man muß also entweder sagen: Sokrates denkt mit seinem Ganzen, wie Plato behauptet hat, indem er sagte, der Mensch sei verstandbegabte Seele. Oder man muß sagen, der Verstand sei ein Teil des Sokrates. Nun ist aber ersteres unhaltbar, wie oben (75, 4) gezeigt wurde, und zwar deswegen, weil es derselbe Mensch ist, der von sich erkennt, daß er sowohl denkt, als auch sinnlich wahrnimmt. Letzteres aber geschieht nicht ohne den Körper. Deshalb muß der Körper ein Teil des Menschen sein. Es ergibt sich also, daß der Verstand, durch den Sokrates denkt, ein Teil des Sokrates ist, und zwar so, daß der Verstand auf irgendeine Weise mit dem Körper des Sokrates vereint ist. (Fs)

Kommentar (14.04.11): zu oben: eine klassische Analyse der Interiorität.

Von dieser Vereinigung behauptet nun der Erklärer [Averroes], sie finde durch das geistige Erkenntnisbild statt. Letzteres habe einen doppelten Träger, einmal den möglichen Verstand [27], sodann die Phantasiebilder, die in den körperlichen Organen sind. Durch das geistige Erkenntnisbild stehe also der mögliche Verstand mit dem Körper dieses oder jenes Menschen in Zusammenhang. — Indes, dieser Zusammenhang oder diese Vereinigung genügt nicht, damit die Tätigkeit des Verstandes die Tätigkeit des Sokrates sei. Dies wird klar durch einen Vergleich mit den Sinnen, von denen Aristoteles ausgeht, um das, was des Verstandes ist, zu erforschen. Die Phantasiebilder, so sagt er, verhalten sich zum Verstand wie die Farben zum Gesichtssinn. Wie nun die Abbilder der Farben im Gesichtssinn sind, so sind die Abbilder der Phantasiebilder im möglichen Verstand. Nun wird man aber doch offenbar deswegen, weil die Farben, deren Ähnlichkeiten im Gesichtssinn sind, der Wand anhaften, die Sehtätigkeit nicht der Wand zuschreiben; wir sagen nämlich nicht: die Wand sieht, sondern vielmehr: die Wand wird gesehen. Daraus also, daß die Abbilder der Phantasiebilder im möglichen Verstand sind, folgt nicht, daß Sokrates, in dem die Phantasiebilder sind, denkt, sondern daß er oder seine Phantasiebilder gedacht werden [28]. (Fs) (notabene)

Kommentar (21.04.11): Beim letzten Satz oben wäre als Prämisse zu ergänzen: "Daraus also, dass die Abbilder der Phantasiebilder im möglichen Verstand sind" und der mögliche Vestand gleichsam außerhalb Sokrates' ist ...

Andere haben behaupten wollen, der Verstand sei als Beweger mit dem Körper vereint; und so entstehe aus dem Verstand und dem Körper eine Einheit, so daß man die Tätigkeit des Verstandes dem Ganzen beilegen könne. — Dies ist jedoch aus vielfachen Gründen hinfällig. Erstens, weil der Verstand den Körper nur durch das Strebevermögen bewegt, für dessen Bewegung die Tätigkeit des Verstandes vorausgesetzt wird [29]. Nicht deshalb also denkt Sokrates, weil er vom Verstand bewegt wird, sondern eher umgekehrt: weil er denkt, wird er vom Verstand bewegt. — Zweitens, Sokrates ist ein bestimmtes Einzelwesen in einer Natur, deren Wesen eins ist, zusammengesetzt aus Stoff und Form. Wenn nun der Verstand nicht seine [des Sokrates] Form ist, liegt er außerhalb seiner Wesenheit; und so verhält sich der Verstand zum ganzen Sokrates wie der Beweger zum Bewegten. Nun ist aber das Denken eine im Tätigen ruhende und nicht eine auf ein anderes übergehende Tätigkeit, wie z. B. das Erwärmen [30]. Also kann man das Denken dem Sokrates nicht deswegen zuschreiben, weil er vom Verstand bewegt wird. — Drittens, die Tätigkeit des Bewegers wird niemals dem Bewegten beigelegt, es sei denn als einem Werkzeug; so wie die Tätigkeit des Schreiners der Säge zugeschrieben wird. Wenn man also dem Sokrates das Denken zuspricht, weil es die Tätigkeit seines Bewegers ist, so folgt, daß man es ihm als einem Werkzeug beilegt. Dies widerspricht aber der Lehre des Philosophen, welcher will, daß das Denken nicht durch ein körperliches Werkzeug vor sich geht. — Viertens, wenn man auch die Tätigkeit eines Teiles dem Ganzen zuschreibt, wie die Tätigkeit des Auges dem Menschen, so schreibt man sie doch niemals einem andern Teile zu, es sei denn etwa nebenbei. Wir sagen nämlich nicht: die Hand sieht, deswegen weil das Auge sieht. Wenn also aus Verstand und Sokrates auf besagte Weise eine Einheit entsteht, so kann die Tätigkeit des Verstandes dem Sokrates nicht zugeschrieben werden. Ist aber Sokrates ein Ganzes, das sich aus der Vereinigung des Verstandes mit dem übrigen Sokrates zusammensetzt, und vereinigt sich der Verstand mit dem übrigen Sokrates dennoch nur als Beweger, so ist Sokrates keine Einheit schlechthin und folglich auch kein Seiendes schlechthin. Denn so ist etwas ein Seiendes, wie es eine Einheit ist. (Fs)

Es bleibt also einzig die von Aristoteles vertretene Auffassung übrig: daß dieser Mensch denkt [oder versteht], weil der Urgrund des Verstehens seine Form ist. So erhellt aus der Tätigkeit des Verstandes selbst, daß der Urgrund des Verstehens als Form mit dem Körper vereint ist. (Fs)
Dasselbe läßt sich aber auch vom Wesen der menschlichen Art her deutlich machen. Die Natur eines jeden Dinges offenbart sich nämlich in seiner Tätigkeit. Nun ist aber die eigentümliche Tätigkeit des Menschen, sofern er Mensch ist, das Denken; denn durch sie überragt er alle Sinnenwesen. Daher hat auch Aristoteles in diese Tätigkeit, als die dem Menschen eigentümliche, die Endseligkeit gesetzt [31]. Der Mensch muß also von demjenigen seine Artbestimmtheit erhalten, das der Urgrund dieser Tätigkeit ist. Jedes Ding erhält aber seine Artbestimmtheit durch die eigene Form. Es ergibt sich also, daß der Urgrund des Verstehens die dem Menschen eigentümliche Form ist. (Fs) (notabene)

Man muß jedoch in Betracht ziehen: je edler eine Form ist, desto mehr beherrscht sie den körperlichen Stoff, desto weniger ist sie ihm eingesenkt, und desto mehr überragt sie ihn mit ihrer Kraft. Daher sehen wir, daß die Form des gemischten Körpers eine Tätigkeit hat, die nicht von den grundstoffliehen Beschaffenheiten verursacht wird. Und je höher man steigt im Adel der Formen, desto mehr findet man, daß die Kraft der Form den Grundstoff überragt: so überragt ihn die Pflanzenseele mehr als die Form des Metalls, die sinnliche Seele mehr als die Pflanzenseele. Die menschliche Seele aber ist die höchste im Adel der Formen. Daher überragt sie mit ihrer Kraft so sehr den körperlichen Stoff, daß sie eine Tätigkeit und eine Kraft besitzt, an denen der körperliche Stoff in keiner Weise teilhat. Und diese Kraft wird Verstand genannt [32]. (Fs) (notabene)
Man muß aber beachten: wenn jemand behaupten wollte, die Seele sei aus Stoff und Form zusammengesetzt, so könnte er in keiner Weise die Seele Form des Leibes nennen. Denn da die Form Wirklichkeit, der Stoff aber ein nur in Möglichkeit Seiendes ist, kann in keiner Weise das, was aus Stoff und Form zusammengesetzt ist, seiner Ganzheit nach Form eines anderen sein. Ist dieses aber nur mit etwas von sich Form, so nennen wir das, was Form ist, Seele; und das, dessen Form es ist, nennen wir das "Erstbeseelte" (75, 5). (Fs)

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