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Autor: Scheffczyk, Leo

Buch: Katholische Glaubenswelt

Titel: Katholische Glaubenswelt

Stichwort: Katholizität, katholisch; Suche nach der Identität; "Symboli"; Protestantismus (Ferd. Chr. Baur); Katholizismus (J. A. Möhler)

Kurzinhalt: Möhler ... Für ihn lag das Zentrum der Auseinandersetzung zwischen den christlichen Konfessionen in der "Art und Weise ..., in der sich der gefallene Mensch mit Christus in Gemeinschaft setzen, und der Früchte der Erlösung teilhaftig werden könne"...

Textausschnitt: b. Die Suche nach der Identität

13b Es ist nicht zu verkennen, dass das Christentum und die christlichen Gemeinschaften heute von einer Entwicklung betroffen werden, die man im kulturellen wie im anthropologischen Bereich als Identitätsverlust bezeichnet. Dieser Entwicklung ist nicht dadurch zu begegnen, dass man die Worte "Christentum", "Christlichkeit" und "Christsein" beschwörend wiederholt und sie mit dem Atem des Weltzugewandten, des Sozialen und Politischen erfüllt. So gerät das Christentum erst recht in die Gefahr, zu einem kontur- wie substanzlosen Gedankengebilde zu werden, das seine Eigenheit gegenüber menschlichen Programmen und Weltanschauungen nicht mehr ausweisen kann. Auf diese Gefahr hat schon früher H. Thielicke aufmerksam gemacht und besonders drastisch auf den sich hinter dem Wortgebrauch des "Christlichen" erhebenden "Christianismus vagus" hingewiesen; denn in dem "Sammelbegriff 'Christentum' ... ist schlechterdings alles vereinigt: von den Orthodoxen bis zu den liberalen Kulturprotestanten, von der römischen Kirche bis zu den Ernsten Bibelforschern, ... von der 'Bekennenden Kirche'... bis zum Metropolitan von Moskau. Das alles marschiert unter der Fahne des 'Christentums'. Dieser Begriff hat ein gigantisches, eben darin aber auch beängstigendes Fassungsvermögen. Schon bei einer Zusammenstellung dieser verschiedenen Kontraste merken wir, dass wir uns mit dem Schlagwort 'Christentum' auf eine gefährliche Ebene begeben haben: nämlich auf die Ebene des Menschlichen, vielleicht sogar des 'Allzu-Menschlichen'. Denn das 'Christentum' ist der Inbegriff dessen, was die Menschen aus dem Evangelium gemacht haben. ... Es kommt also alles darauf an, dass wir dieses wirre und verwüstete Vorfeld des Christentums möglichst schnell überqueren und ... möglichst unmittelbar der Botschaft der Kirche gegenübertreten. Die Botschaft der Kirche [aber] kristallisiert sich um das Dogma."1

14a Hier wird von einem protestantischen Theologen, der von Haus aus ein freieres Verhältnis zu konkreten Bindungen und sichtbaren Formen besitzt, anerkannt, dass das Befassen mit dem "Christentum" als solchem dem Denken nur ein religionsphilosophisches Phänomen darbietet, das sich zuletzt in die allgemeine Religionsgeschichte auflöst. Man kann also offensichtlich das Christentum nur als Konkretum fassen und verstehen, wozu zunächst als minimalstes Erfordernis die Hineinnahme des Bekenntnismomentes hinzugehört. So ist auch heute, wie unbefriedigend das zunächst auch erscheinen mag, nur vom "protestantischen", "orthodoxen" oder "katholischen" Christentum zu sprechen, selbst wenn dabei zunächst kein einheitliches Wesen zum Vorschein kommt. Aber ohne die Konkretion des Bekenntnismäßigen und Konfessionellen droht die Gefahr, dass sich das Wesen überhaupt verflüchtigt und man einem Schemen nachjagt. Nur vermittels dieses spezifischen Bekenntnisses ist auch die Identität der christlichen Gemeinschaften je für sich zu halten. (Fs)

14b Deshalb ist es bezeichnend, dass theologisch schöpferische Epochen, die durchaus auch ein Interesse an der Wiedervereinigung empfanden, doch eine sogenannte "Symbolik" entwickelten, das ist jene theologische Disziplin, die heute unter dem Namen "Konfessionskunde" bekannt ist. (Fs)

15a Die Ursprünge der "Symbolik" liegen, wenn man von den Vorstufen im Reformationszeitalter absieht, in der evangelischen Theologie des beginnenden 19. Jahrhunderts. Nach der Überwindung der Aufklärung und der neuen Hinwendung zur positiven Kirchlichkeit musste es der evangelischen Theologie als ein besonders dringliches Anliegen erscheinen, die spezifische Kirchlichkeit oder Konfession aus den eigenen Bekenntnisschriften zu erheben und lehrhaft zu begründen. (Fs)

Dabei war das Bemühen führend, die spezifische Eigentümlichkeit oder die grundlegende Idee des eigenen Bekenntnisses zu finden und sie dann auch von dem Spezifischen der anderen Konfession abzuheben. So kam zwar gelegentlich in diese "Symbolik" ein polemischer Ton hinein, der aber anderseits auch wieder von einer so irenischen Haltung gefolgt war, dass die Unterschiede an Bedeutung verloren. (Fs)

15b Bei D. Fr. Schleiermacher (+ 1834) war allerdings die Bestimmung des Eigenen und des Unterscheidenden sehr streng durchgeführt, wenn er auf die Andersartigkeit des christlich-frommen Gemütszustandes hinwies, in dem sich Protestantismus und Katholizismus unterschieden. Er sah im Protestantismus den ursprünglicheren, gottinnigeren und persönlicheren Gemütszustand ausgeprägt, während ihm der Katholizismus als die mittelbare, gesetzhafte und unpersönliche Religiosität und Christlichkeit galt.2 Für den "Symboliker" Ph. K. Marheineke (+ 1846) existierte die Idee des Christentums schon vom Ursprung her in der Doppelheit von "Katholizismus" und "Protestantismus". Der legitime und notwendige Unterschied zwischen diesen beiden Polen war nach Marheineke darin gelegen, dass sich im Katholizismus das Christliche im Medium des Gefühls, der sinnlichen Anschauung und der Phantasie auspräge, im Protestantismus dagegen im Medium des Denkens und der intellektuellen Anschauung. Deshalb sollten die Gegensätze zwar nicht künstlich unterdrückt, aber auch nicht vorschnell und oberflächlich harmonisiert werden. Sie sollten ganz im Gegenteil durch die Wissenschaft in voller Schärfe herausgebildet werden, damit sich früher oder später ihre Einheit herausstelle.3 Es ist das ein nicht uninteressanter Gedanke, der in der interkonfessionellen Diskussion auch der neueren Zeit immer wieder hervortrat, z. B. auch in der Abwandlung der sogenannten Branch- oder Zweigtheorie, die besonders im anglikanischen Bereich ausgebildet wurde. Sie besagt in der ihr zuletzt von Fr. Heiler gegebenen Form, dass die drei großen Kirchenbildungen der Christenheit - Katholizismus, Orthodoxie und "evangelische Katholizität"4 - wie drei Zweige aus derselben urkirchlichen Wurzel hervorgegangen seien, die innerlich eine "unitas" bildeten, obgleich sie äußerlich keine unio seien. Aber diese "unitas" genüge für die irdische Verfassung und das empirische Dasein der Kirche in der Zeit. Die vollkommene "unio" sei als eine eschatologische Größe zu sehen und als eschatologisches Ereignis zu erwarten. (Fs)

16a Wieder anders bestimmte der zeitweise von Hegel beeinflusste Ferd. Chr. Baur (+ 1860) das Prinzip des Protestantismus im Gegensatz zum Katholizismus. Nach ihm repräsentierten beide Kirchen eine verschiedene Entwicklungsstufe des religiösen Bewusstseins. Der Katholizismus werde vom Prinzip der objektiven Tradition bestimmt, der Protestantismus dagegen vertrete das an sich höhere Prinzip der subjektiven Geistwirksamkeit. Deshalb müsse er "in seiner ursprünglichen Opposition gegen das dogmatische System der katholischen Kirche... beharren".5 Aber schließlich würden diese beiden Prinzipien am Ende in der Geschichte des absoluten Geistes aufgehen und eine Einheit eingehen, die freilich von Baur begrifflich nicht bestimmt und in klare Konturen gefasst werden konnte. (Fs)

16b So trat in manchen Entwürfen der protestantischen "Symbolik" trotz des Strebens nach Erfassung des Eigentümlichen im Bekenntnis schließlich ein Zug zum Relativismus hervor, der weder der eigenen Konfession noch dem interkonfessionellen Anliegen nützte. Angesichts dieses Mangels entwickelten die katholischen Tübinger ein anderes Konzept einer "Symbolik", das besonders von J. A. Möhler (+ 1838) gedankenscharf ausgearbeitet wurde. Das zeigt seine Anweisung über das bei der "Symbolik" einzuhaltende Verfahren: "Die einzelnen Sätze eines Lehrgebäudes [müssen] in ihrer gegenseitigen Verknüpfung und in ihrem organischen Zusammenhange dargestellt werden.... Immer ... müssen die Teile eines Systems in ihrer Stellung zum Ganzen angeschaut und auf die Grundidee, die alles beherrscht, bezogen werden."6 Wie treffend und zukunftsträchtig dieses Programm war, zeigt sich u. a. auch daran, dass in einer neuartigen, dem Geist der Wissenschaftlichkeit des 20. Jhs. entsprungenen "Symbolik", nämlich in der "Morphologie des Luthertums" von W. Eiert, die ähnliche Forderung aufgenommen ist unter dem Begriff der "Dominante". Nach Elert muss bei jedem Bemühen um das Wesensverständnis einer Religion oder Konfession vor allem die Dominante gesucht und getroffen werden.7 Möhler leitete das Prinzip des Gegensatzes zwischen den Konfessionen in seiner Symbolik aus einem anthropologischen Befund ab, nämlich aus der verschiedenartigen Auffassung von der Stellung des Menschlichen zum Göttlichen. Für ihn lag das Zentrum der Auseinandersetzung zwischen den christlichen Konfessionen in der "Art und Weise ..., in der sich der gefallene Mensch mit Christus in Gemeinschaft setzen, und der Früchte der Erlösung teilhaftig werden könne".8 Entsprechend versteht er als das Prinzip des katholischen Systems das "gottmenschliche Werk",9 in dem sich "die göttliche und die menschliche [Tätigkeit] ... durchdringen",10 während ihm die Wurzel der reformatorischen Glaubensauffassung in dem Grundsatz gelegen schien, "dass in den wahren Christen der göttliche Geist ohne menschliche Mitwirkung eindringe".11 Im Anschluss an ihn sah Fr. A. Staudenmaier (+ 1856) den Grundunterschied in der verschiedenartigen Auffassung von der menschlichen Freiheit gelegen, die im Protestantismus seiner Meinung nach nicht vollauf gewahrt wurde.12 (Fs)

17a Gewiss kann man diese stark philosophischen, abstrakten und zeitbedingten Formulierungen des Grundprinzips wie der Gegensätzlichkeit der Konfessionen heute nicht mehr einfach übernehmen. Wohl aber kann man von ihnen lernen, dass das Verständnis des eigenen Bekenntnisses wie das des anderen nicht atomistisch an Einzelheiten gewonnen werden kann, sondern aus einem konstitutiven, ganzheitlichen Grund heraus gefunden werden muss, der das eigene Wesen wie die Unterschiedenheit gegenüber dem anderen erst vollauf verstehbar macht. Etwas vom "Salz" dieser "Symbolik", die nach dem Prinzip und dem Einheitsgrund des Ganzen fragt, muss auch eine Wesensschau des Katholischen bestimmen; denn das, was ein Wesen zu einem in sich geschlossenen Ganzen und zu einer anschaubaren Gestalt macht, ist eine innere Einigungskraft, welche die Teile durchdringt und belebt, so dass sie überhaupt erst Teile dieses Ganzen zu werden vermögen. Erst durch den Aufweis des letztlich Einigenden und Spezifischen vermag der Anspruch der Ganzheit legitimiert zu werden. Eine "Katholizität", welche ihr einigendes Prinzip nicht zu benennen vermag, ist vor dem Vorwurf nicht gefeit, doch nur ein Konglomerat oder ein Gemenge von Einzelheiten darzustellen, dem man aber ebenso beliebig auch Zusätze beigeben kann, ohne eine innere Hinzugehörigkeit oder eine Unverträglichkeit mit dem "Kern" feststellen zu können, weil das Wissen um diesen Kern entschwunden bzw. nicht mehr gefragt ist. Viele Erscheinungen in Lehre und Leben des heutigen Katholizismus entsprechen dem hier entworfenen Bilde. So wird heute vielfach in einem unbegrenzten Subtraktions- oder Additionsverfahren mit dem Glauben experimentiert, ohne dass die Frage nach dem verbindlichen Maßstab solcher Operationen noch gestellt wird. Die Fernwirkungen solchen Experimentierens, die sich z. T. schon in der Gegenwart abzeichnen, müssen zu einem Identitätsverlust der Catholica führen, die dann ihren Namen nicht mehr zu Recht tragen kann. (Fs)

18a Freilich ist, wie an der klassischen "Symbolik" schon zu ersehen war, mit der Bestimmung des Einigenden und spezifisch Eigenen auch die Notwendigkeit der Abgrenzung gegenüber dem Anderen gegeben. So könnte man gerade der Suche nach der eigenen Identität den Vorwurf machen, dass sie am ökumenischen Anliegen kein Interesse zeige, sondern es geradezu gefährde. (Fs)

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