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Autor: Biffi, Giacomo

Buch: Sehnsucht nach dem Heil

Titel: Sehnsucht nach dem Heil

Stichwort: Gewissen: Grundregeln, Bildung (2 Gefahren); Liebe zu: Wahrheit, Gerechtigkeit; Sicherheiten (metaphysische, moralische), Zweifel, Meinung; Anwendung der sogenannten "Rechtsprinzipien"; Prinzipien in der Moral

Kurzinhalt: Mit anderen sollte man über das eigene Gewissen und über das, was es uns sagt, nie sprechen ... Die moralische Wahrheit zu suchen ist also die erste Voraussetzung für ein moralisches Leben

Textausschnitt: 3. Grundregeln für das Gewissen

269a Aus den Eigenschaften des Gewissens, die wir untersucht haben, erwachsen Grundsätze, die es regeln. (Fs)

1. Der Mangel an rechtschaffenem Gewissen untergräbt das moralische Leben. (Fs)

2. Der Mangel an sicherem Gewissen untersagt normalerweise das Handeln; wer deshalb im Zweifel handelt, lädt dieselbe Schuld auf sich wie bei der objektiven Verletzung des Gesetzes, das Objekt des Zweifels ist. (Fs)

3. Dem rechtschaffenen und sicheren Gewissen ist immer Folge zu leisten, was immer es befiehlt oder verbietet, und es darf immer befolgt werden, was immer es anregt oder erlaubt. (Fs)

4. Die Verletzung des Gewissens ruft gleiche Schuldhaftigkeit hervor: sowohl im Falle, daß sie tatsächlich auch gegen die objektive Norm verstößt, als auch in dem Falle, daß sie in Wirklichkeit keine Verletzung der objektiven Norm ist. (Fs)

5. Die Rechtschaffenheit des Gewissens wird durch volle Fügsamkeit gegenüber der objektiven Norm bewahrt, die ständig zu suchen und sich anzueignen ist. (Fs)

6. Mit anderen sollte man über das eigene Gewissen und über das, was es uns sagt, nie sprechen, weil seine Befehle von den anderen nicht wahrzunehmen sind und weil es nur für den Betroffenen die höchste Autorität darstellt, aber keinerlei Autorität gegenüber Dritten besitzt. (Fs) (notabene)

4. Bildung des rechtschaffenen Gewissens

269b Weil die Grundeigenschaft, die das Gewissen zur rechtmäßigen Handlungsnorm macht, seine Rechtschaffenheit ist, muß sich der Mensch, der ein wahrhaftes moralisches Leben führen will, sich um eine rechte Gewissensbildung bemühen. (Fs)

270a Dabei sind zwei Gefahren zu nennen:

- Trägheit bei der Wahrheitssuche;
- schlechtes Verhalten, das immer ein wenig den Verstand trübt, während Jesus sagt: "Wer aber die Wahrheit tut, kommt zum Licht" (M 3,21). (Fs)

Notwendige Voraussetzungen für eine rechte Gewissensbildung sind:
- tätige und selbstlose Wahrheitsliebe;
- die ehrliche Absicht, das Gute zu tun. (Fs)

Liebe zur Wahrheit

270b Die tätige Liebe zur Wahrheit leitet dazu an, diese ständig zu suchen. Die moralische Wahrheit zu suchen ist also die erste Voraussetzung für ein moralisches Leben. Diese Suche soll mit den gewohnten Mitteln durchgeführt werden, die man verwendet, um zur Wahrheit zu gelangen, und die den konkreten Möglichkeiten des Suchenden entsprechen. (Fs)
Weil es sich um moralische Wahrheit handelt - einen Bereich, wo einem, wenn man allein über die Probleme nachdenkt, so mancher Aspekt leicht entgehen kann -, ist neben der vernünftigen Überlegung und Reflexion aufmerksam auf die Meinung ehrbarer, weiser und erfahrener Menschen (kluges Urteil) zu achten. (Fs)

Selbstverständlich können Meinungen von mehreren Personen und Autoren eingeholt werden, solange man es in der Absicht tut, zur Wahrheit zu gelangen, und nicht in der Hoffnung, die Meinungsvielfalt erlaube uns, das zu tun, was uns beliebt. (Fs)

Liebe zur Gerechtigkeit

Die Liebe zur Gerechtigkeit ist notwendig, damit der Verstand in einer Suche unterstützt wird, die manchmal zu unbequemen Schlußfolgerungen für den Suchenden führen kann. (Fs)
270c Zu beachten ist auch, daß die Erkenntnis der lebendigen Wahrheiten - und das sind die moralischen Wahrheiten - vor allem eine natürliche innere Erfahrung ist. Zum Beispiel wird ein Dieb schwerlich die Vernünftigkeit der Ehrbarkeit verstehen; ein Lügner hält die Wahheit nicht einmal für möglich; usw. Wo diese innere Erfahrung des Guten nicht gegeben ist, kann kein Urteil von Natur aus gebildet werden, und das Gewissen kann nur mit Mühe "recht" gebildet werden. (Fs)

271a Zu bedenken ist auch, daß die Psychologie des Menschen von Natur aus dazu tendiert, den inneren Zwiespalt zu überwinden und ein so weit wie möglich integrales Dasein zu führen. Deshalb gilt: Entweder man bildet die Handlungen entsprechend den Überzeugungen oder man bildet die Überzeugungen nach dem Verhalten. Wer häufig und lange Zeit im Widerspruch zu seinen Überzeugungen handelt, denkt am Ende in Übereinstimmung mit seinen Handlungen. Wer schlecht handelt, urteilt am Ende ohne Wahrheit und bildet sich ein falsches Gewissen. (Fs) (notabene)

5. Bildung des sicheren Gewissens

Sicherheiten, Zweifel, Meinungen

271b Zur Einleitung ist es gut, einige Begriffsinhalte zu klären.
Sicherheit: Sie ist die feste innere Zustimmung des Menschen zu einer Wahrheit, die als solche erkannt wurde. Ein Mensch in dieser Verfassung wird kaum ernsthaft zweifeln oder befürchten, sich zu täuschen. Es gibt verschiedene Sicherheiten:

- Metaphysische (oder mathematische) Sicherheit: Sie betrifft in jedem Fall absolut gültige Wahrheiten und duldet nicht einmal die theoretische Möglichkeit des Gegenteils. Besispiel: die philosophischen Grundprinzipien und die mathematischen Axiome. (Fs)

- Physische Sicherheit: Sie hat zum Gegenstand die physikalischen Gesetze, die immer gültig sind, außer im Fall eines hypothetischen, umwälzenden Naturereignisses. Beispiel: Ich bin sicher, daß morgen früh die Sonne aufgehen wird. (Fs)

- Moralische (oder statistische) Sicherheit: Sie schließt nicht unbedingt das Gegenteil aus, aber mit einer ganz geringen nicht besorgniserregenden Wahrscheinlichkeit. Auf dieser Sicherheit beruht das ganze Dasein der Menschen und damit auch das moralische Leben. (Fs)

272a Beispiele: Ich habe die moralische (nicht physische oder metaphysische) Sicherheit,
- daß diese Zimmerdecke innerhalb der nächsten fünf Minuten nicht einstürzen wird;
- daß der Espresso, den ich an der Bar trinke, kein Strichnin enthält;
- daß der Busfahrer im nächsten Augenblick nicht irrsinnig wird;
- daß meine Eltern wirklich meine Eltern sind;
- daß ich gültig getauft wurde;
- daß der Barbier mich rasiert und mir nicht die Kehle durchschneidet; usw. (Fs)

Absolute Unsicherheit (oder negativer Zweifel): Es ist die innere Verfassung des Menschen, der angesichts einer Nachricht oder eines Vorschlags keinen wahren Grund hat, zuzustimmen oder abzulehnen. (Fs)

Zweifel (oder positiver Zweifel): Es ist der Zustand des Menschen, der angesichts einer Nachricht oder eines Vorschlags nicht imstande ist, ein Urteil für oder dagegen zu bilden, weil die Gründe für die Zustimmung ungefähr die Gründe zur Ablehnung ausgleichen. Auch das ist ein Zustand der Unsicherheit wie der vorhergehende mit dem Unterschied, daß er nicht durch die Abwesenheit gegensätzlicher Beweggründe, sondern durch ihr Gleichgewicht hervorgerufen wird. (Fs)

Meinungen: Darunter versteht man heute (wie im Altertum Aristoteles und im Mittelalter Albertus Magnus und Thomas von Aquin) den geistigen Zustand, der einer Aussage völlig zustimmt, aber mit der begründeten Furcht, sich zu irren. Bei diesem Begriff wird die Wahrscheinlichkeit der Überzeugung von den Beweisgründen bestimmt, die sie stützen; diese müssen ernsthaft und stärker sein als die gegenteiligen Beweisgründe, obwohl sie nicht zur Sicherheit führen können. (Fs) (notabene)

272b Hingegen halten die Moraltheologen nach dem Konzil von Trient eine Überzeugung für wahrscheinlich, die auf ernsthaften Gründen beruht, auch wenn ebenso ernsthafte Gründe für die gegenteilige Meinung sprechen. Nach dieser letzteren Auffassung kann man zwei verschiedene Urteile für die einzelnen Argumente, die sie stützen, für sehr wahrscheinlich halten (auch wenn sie von den "Autoren" abgeleitet sind), obwohl man persönlich dazu neigt, eine der beiden für wahr zu halten. (Fs)

Wie man die Zweifel beheben kann

273a Um rechtschaffen zu handeln, ist die moralische Sicherheit der Rechtmäßigkeit der Handlung erforderlich. Wie soll sich dann jemand verhalten, der nicht zu dieser Sicherheit gelangen kann? Die Antwort liegt nach dem bereits Gesagten auf der Hand: Erste Pflicht eines Menschen, der nicht die moralische Sicherheit der Rechtmäßigkeit einer Handlung hat, ist es, sie sich zu verschaffen, bevor er handelt; er muß sich entsprechend der Schwere des Problems und seiner konkreten Möglichkeiten darum bemühen, die Sicherheit zu gewinnen. (Fs)
Wenn er die Sicherheit erlangt hat (oder zumindest wenn er sich wenigstens eine "Meinung" bilden konnte gemäß der mittelalterlichen Bedeutung des Wortes), dann kann er im Einklang mit der gewonnenen Überzeugung handeln. (Fs)

273b Wenn aber trotz aller Mühe Zweifel bestehen bleiben, was ist dann zu tun? Man muß auf alle Fälle einen Weg finden, so daß man nach Überwindung der theoretischen Unsicherheit eine Sicherheit im Handeln erlangt, die die Haltung moralisch rechtfertigt, die man einnehmen soll. Dieser Weg besteht in der Anwendung der sogenannten "Rechtsprinzipien". (Fs)
Beispiel: Ein Richter weiß genau, daß für ein bestimmtes Verbrechen eine bestimmte Strafe zu verhängen ist; aber er ist sich nicht sicher, ob das Verbrechen tatsächlich von dem Angeklagten begangen wurde. Infolgedessen hegt er gewisse Zweifel, ob er die Strafe verhängen soll oder nicht. Ein Richter darf aber keine Zweifel hinterlassen, weil das Gerichtsverfahren in jedem Fall mit einem Urteil enden muß. Er nimmt also ein allgemein anerkanntes juristisches Prinzip zu Hilfe, das lautet: Wenn Zweifel an der Schuldhaftigkeit bestehen, ist der Angeklagte freizusprechen. (Fs)

Der Richter hat weiterhin Zweifel an der Schuldhaftigkeit, aber der Zweifel wird durch dieses Prinzip sozusagen umgangen. Es ist ein Rechtsprinzip ["In dubio pro reo" - "Im Zweifel für den Angeklagten"], das es dem Richter erlaubt, eine "Sicherheit im Handeln" zu erlangen. (Fs)
Oder: Der Richter weiß genau, daß der Angeklagte eine bestimmte Tat begangen hat; aber er ist sich nicht sicher, ob das Gesetz diese Tat verbietet. Was ist zu tun? Er wendet auch hier ein allgemein anerkanntes Prinzip an, das lautet: "Lex dubia non obligat" ("Das Gesetz verpflichtet nicht im Zweifelsfall"). Und durch dieses Rechtsprinzip kann er zur ausführenden Sicherheit über den Freispruch gelangen, obwohl ihm der theoretische Zweifel über die Gesetzesauslegung bleibt. (Fs)

Die Prinzipien in der Moral

274a Wir haben einige Prinzipien juristischer Natur betrachtet. Sind im moralischen Leben vergleichbare Prinzipien anzuwenden? Es gibt zwei grundlegende Prinzipien, die in entsprechenden Situationen anzuwenden sind. (Fs)

Erste Situation

Wenn das objektive Gute auf dem Spiel steht (das nicht von der subjektiven Moralität des Handelnden abhängt), lautet das moraltheologische Prinzip: "pars tutior est sequenda". Das heißt: Besteht tatsächlich Zweifel, ob ein objektiver Wert gefährdet ist, muß man sich an eine wahrscheinliche Lösung halten, wobei die sicherste Möglichkeit gewählt wird, um das betreffende Gute zu schützen. (Fs)

Beispiele: Ich darf keine schweren Gegenstände aus dem Fenster werfen und so tun, als ob "unten sowieso niemand vorbeiginge". Diese Tat ist unmoralisch, denn es genügt die Möglichkeit, daß jemand getroffen werden könnte.
Ein Chirurg hält einen bestimmten Eingriff für notwendig, um den Patienten zu retten, aber er kann das Risiko des negativen Ausgangs nicht ausschließen; der Chirurg darf diesen Eingriff nicht vornehmen, wenn es einen andern mit sichererem Ausgang gibt. (Fs)

Zweite Situation

275a Wenn kein objektiver Wert (im vorgenannten Sinn) auf dem Spiel steht, lautet das moraltheologische Prinzip: Wenn eine Verpflichtung nicht sicher feststeht, bedeutet das, daß sie nicht existiert. Das heißt, daß das juridische Prinzip: "Lex dubia non obligat", auch im moralischen Bereich anwendbar ist. Wenn der Zweifel trotz aller Suche nicht geschwunden und man sich über über die moralische Unerlaubtheit einer Tat nicht im klaren ist, steht es frei, zu handeln, wie man will. (Fs)

Es bleibt eine letzte Frage.

Darf ich mich, wenn über eine unsichere Frage zwei Meinungen (das heißt zwei verschiedene Ansichten von "auctores probati") vorliegen, und ich mir kein sicheres persönliches Urteil bilden kann, an die eine halten, auch wenn mir die Beweisgründe der anderen einsichtiger erscheinen?

275b Die Antwort lautet: Wenn ich anhand der unterschiedlichen Wahrscheinlichkeit zu einer moralischen Sicherheit (oder wenigstens zu einer im mittelalterlichen Sinn festen "Meinung") gelangt bin, darf ich ehrlicherweise dem gegenteiligen Urteil nicht Folge leisten, auch wenn es von "erfahrenen" Leuten unterstützt wird. Wenn ich aber zu keiner persönlichen begründeten Meinung gelangt bin, wird die Unsicherheit der Verpflichtung durch das moralische Prinzip in die Sicherheit der Nichtverpflichtung übersetzt, und ich darf auch der Meinung der Leute folgen, die in meinen Augen weniger wahrscheinlich ist. (Fs)

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