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Autor: Biffi, Giacomo

Buch: Sehnsucht nach dem Heil

Titel: Sehnsucht nach dem Heil

Stichwort: Gewissen, Norm; syllogistischer Erkenntnisprozess - G.; Erfordernis der "Wahrheit"; ignorantia iuris, i. facti

Kurzinhalt: Das Gewissen ist das verinnerlichte Urteil des handelnden Subjekts über die Sittlichkeit der Handlungen, die als eigene betrachtet werden.

Textausschnitt: III. DAS GEWISSEN

263b Wir wollen jetzt einige Fragen beantworten, die entscheidend sind für eine rechte Lösung der moralischen Frage: Was versteht man eigentlich in diesem Zusammenhang unter "Gewissen"? Welche Wesensmerkmale muß das Gewissen besitzen, damit es das Handeln erleuchten kann? Wie bildet man sein rechtes Gewissen?

1. Das moralische Gewissen

Die verinnerlichte Norm

Das Gesetz ist - wie wir gesehen haben - die objektive Norm des Handelns; objektiv, weil sie außerhalb des ihr unterstellten Subjekts besteht; sie ist unabhängig vom Subjekt; sie hat ihren Ursprung im Absoluten Gottes und in seinem Plan (ewiges Gesetz). (Fs)

264b Weil aber die Freiheit der menschlichen Akte, die vom Gesetz geregelt werden müssen, in der Möglichkeit wurzelt, das Handeln unterschiedlich zu beurteilen, ist die objektive Norm der freien Akte nur dann wirklich Richtschnur, wenn sie im persönlichen Urteil des handelnden Subjektes deutlich wird. (Fs)

264a Mit anderen Worten, das Gesetz des Handelns wird wirklich Gesetz, wenn es von einem Subjekt angewandt wird; zugleich wird das Gesetz, das bisher ein von der Natur der Dinge oder der Absicht des Gesetzgebers her gegebenes Urteil war, subjektives Urteil dessen, von dem es angewandt wird. (Fs)

Das heißt, das, was das Handeln an das Gesetz des Handelns bindet, ist die Kenntnis des Gesetzes seitens des Handelnden. Die dem Handeln nächststehende Norm ist das Gesetz, welches vom Subjekt im Inneren wahrgenommen wird. Und das Gesetz, das vom Subjekt im Innern wahrgenommen wird, ist das moralische Gewissen. (Fs)

Mißverständnisse vermeiden

Es gilt hier genau zu unterscheiden zwischen der Bedeutung, die hier der Terminus "Gewissen" hat, und allen übrigen Bedeutungen des Wortes. Es handelt sich hier nicht um das Selbstbewußtsein oder das Sich-seiner-Handlungen-bewußt-Sein (psychologisches Bewußtsein): Das psychologische Bewußtsein wird vom moralischen Bewußtsein (dem Gewissen) vorausgesetzt, aber es ist nicht identisch mit ihm. Manchmal verwendet man das Wort "Gewissen", um rechtes Verhalten zu bezeichnen; so sprechen wir zum Beispiel von einem "gewissenlosen" Geschäftsmann. (Fs)

Wir wollen damit sagen, daß hier das Gewissen - weil es Handlungsmaßstab ist - wie das Gesetz im wesentlichen eine "ratio" ist, ein Akt der Vernunft, das heißt ein Urteil. Aber weil es eine subjektive Norm ist - und deshalb offensichtlich individuell und konkret - unterscheidet es sich vom Gesetz und von den allgemeinen Schlußfolgerungen der Morallehre: Mein Gewissen spricht nur in Bezug auf meine eigenen Handlungen. (Fs)

Begriff des moralischen Gewissens

264b Jetzt können wir den Begriff des Gewissens formulieren, der für unsere Reflexion wichtig ist. (Fs)

265a Das Gewissen ist das verinnerlichte Urteil des handelnden Subjekts über die Sittlichkeit der Handlungen, die als eigene betrachtet werden. (Fs)

Weil es ein Urteil ist, erwächst es aus einem syllogistischen Erkenntnisprozeß, der von den absoluten Prinzipien ausgehen und bis zu den konkreten und persönlichen Schlußfolgerungen gelangen muß. (Fs)

Beispiel:
I. Das Böse ist zu meiden; Diebstahl ist böse; also ist der Diebstahl zu meiden (wir befinden uns hier noch innerhalb der Morallehre, die zu einem abstrakten und unpersönlichen Schluß kommt). (Fs)

II. Diebstahl muß vermieden werden; Busfahren ohne Fahrschein ist Diebstahl; also darf man ohne Fahrschein nicht Bus fahren (wir befinden uns innerhalb der angewandten oder kasuistischen Moral, die zu einem konkreten und unpersönlichen Schluß führt). (Fs)
III. Ohne Fahrschein darf man nicht Bus fahren; ich darf das nicht tun, was man nicht tun soll; also darf ich ohne Fahrschein nicht Bus fahren (konkretes und persönliches Urteil des Gewissens). (Fs)

Klarstellungen

265b Einige nützliche Hinweise
1. Der Gewissenspruch ist nicht identisch mit dem praktischen Urteil, das die konkrete Entscheidung bestimmt, so daß Widersprüche auftreten können wie im Fall dessen, der eine sündhafte Handlung begeht und sie als solche erkennt. Beispiel: Nachdem mir mein Gewissen gesagt hatte, daß ich den Fahrschein lösen muß, beschließe ich, trotzdem keinen Fahrschein zu lösen. (Fs)

2. Das Gewissen ist niemals ein Urteil über die Taten anderer, sondern über die eigenen. Ein Mensch mit tiefem Gewissen ist nicht derjenige, der sehr empfindsam ist für das Unbehagen, das aus den von anderen begangenen Ungerechtigkeiten entstanden ist, sondern der Mensch, der deutlich das Unbehagen der eigenen Ungerechtigkeiten spürt. Der Wahrhaftigkeit des Gewissens nützt es nichts, dem Nachbarn das "mea culpa" an die Brust zu klopfen. (Fs)
266a

3. Es ist unwahrscheinlich, daß das letzte Urteil der apersonalen allgemeinen Vernunft (theoretische oder angewandte Morallehre) vom Gewissenspruch abweicht. Aber es nicht nicht auszuschließen: Man begegnet manchmal seltsamen Spaltungen, so daß ein Mensch eine Situation klar beurteilt, wenn sie sich auf andere bezieht, aber jedes ojektive Urteilsvermögen verliert, wenn er die eigene Lebensführung prüft. Beispiel: Wenn jemand theoretisch (und als Arbeitnehmer) das Problem der gleichen Behandlung der Arbeitnehmer prüft, und wenn er (als Arbeitgeber) die eigene Behandlungsweise der Untergebenen beurteilt. (Fs)

2. Wesensmerkmale des Gewissens

266b Die Wahrheit und die Sicherheit sind notwendige Voraussetzungen dazu, daß das Gewissen die Rolle als inneres Gesetz recht wahrnehmen kann. (Fs)

Erfordernis der "Wahrheit"

Weil es der "Maßstab" der Akte ist, scheint das Grunderfordernis des Gewissens die "Wahrheit" zu sein, das heißt seine Übereinstimmung mit der objektiven Norm, deren innere Umsetzung es ist. Wie ein Metermaß, das sich nicht vom Richtmaß unterscheiden darf, wenn es recht messen will. (Fs)

266c Weil aber der Gewissenspruch, wie wir gesehen haben, die Schlußfolgerung einer Reihe zusammenhängender Syllogismen ist, läuft er wie alle Gedankengänge Gefahr, einem Irrtum zu unterliegen, auf Grund unrichtiger Voraussetzungen oder ungeordneter Folgerungen. (Fs)
Beispiel: Muß ich, wenn ich in gutem Glaubem eine falsche Banknote erhalten habe, den Schaden selbst tragen, oder kann ich sie meinerseits jemandem andern zustecken? Häufig ist in diesem Fall die Überlegung durch Unwissenheit getrübt: entweder durch die ignorantia iuris, so daß man die Unmoral nicht wahrnimmt, wenn man den erlittenen eigenen Schaden auf Kosten eines Unschuldigen wiedergutzumachen versucht; oder durch die ignorantia facti, wenn man nicht weiß, daß es Falschgeld ist. (Fs)

267a Dann ergibt sich das Problem: Bleibt ein Gewissen, das im Widerspruch zur objektiven Norm steht, noch rechtmäßige Handlungsnorm? Um diese Frage gut zu beantworten, sind zwei mögliche Fälle zu unterscheiden, je nachdem, ob sich der Irrtum in den Gedankengang mit voller Verantwortung des Subjekts oder völlig unfreiwillig eingeschlichen hat. (Fs)

Zu verantwortender Irrtum

Wenn der Irrtum auf Grund mangelnder aufrichtiger Wahrheitssuche entstanden ist, durch Trägheit oder Leichtfertigkeit oder unter dem Einfluß egoistischer Neigungen hervorgerufen
wurde, die das Denkvermögen trüben, kann das sich daraus resultierende Gewissen nicht als dem Handeln nächststehende Norm betrachtet werden, denn ein irrtümliches durch einen freiwilligen Fehler bestimmtes Urteil kann keinesfalls "wahr" genannt werden. (Fs)

Beispiel: Im Fall der falschen Banknote verändert die ignorantia iuris das Gewissen, wenn es die Frucht eines gewollten Versäumnisses ist, die Frage ehrlich und gelassen zu prüfen. In gleicher Weise ändert die ignorantia facti das Gewissen, wenn ein Bankkassierer aus Trägheit sich nicht über die Merkmale von Falschgeld unterrichtet hat und es nicht erkennen kann. (Fs)

Nicht zu verantwortender Irrtum

267b Wenn der Irrtum völlig unfreiwillig ist, muß der Gewissensspruch als Norm des Handelns betrachtet werden, auch wenn er mit der objektiven Norm nicht überstimmt, in gewissem Sinn ein "wahres" Urteil ist. (Fs)

268a Denn wir können das objektive moralische Handeln nur beurteilen, indem wir uns auf die subjektive Erkenntnis, die wir davon haben, stützen. Deshalb lautet der konkrete Ausgangspunkt der Überlegung, die zum Gewissenspruch gelangt, nicht so sehr: "Ich muß das Böse meiden", sondern: "Ich muß das meiden, was mir nach ernsthafter Prüfung böse zu sein scheint." Also macht die "ernsthafte Prüfung", wenn es sie gibt, den ganzen Syllogismus auch in dem Fall korrekt, wo bedauernswerterweise die Schlußfolgerung mit der Norm der Moralität nicht übereinstimmt. (Fs)

Die erforderliche Eigenschaft, die ein Gewissen als rechtmäßige Handlungsnorm besitzen muß, ist die "Wahrheit", aber nicht so sehr im Sinn der absoluten Übereinstimmung mit der objektiven Norm, sondern im Sinn ehrlicher subjektiver Zustimmung zur objektiven Norm, so weit sie erkannt wird; einer Zustimmung, die das Bemühen einschließt, die Norm entsprechend den eigenen konkreten Möglichkeiten zu erkennen. (Fs)

268b Weil diese Art von "Wahrheit" im allgemeinen "Rechtschaffenheit" genannt wird, können wir sagen, daß die erste Grundbedingung des Gewissens darin besteht, daß es rechtschaffen ist. (Fs)

Notwendige Sicherheit

Die aufrichtige Liebe zur objektiven Norm — das heißt zur Rechtschaffenheit — verhindert es, daß man Gefahr läuft, sie zu verletzen. Denn wenn man aus guten Gründen Zweifel hegt über die Rechtmäßigkeit einer durchzuführenden Handlung, bei der man höchstwahrscheinlich die objektive Norm verletzt, darf man nicht im Zustand begründeten Zweifels handeln, wenn man das rechtschaffene Gewissen bewahren will. (Fs)

268c Mit anderen Worten, das Gewissen muß, um Richtschnur des Handelns zu sein, nicht nur rechtschaffen, sondern auch sicher sein; oder besser, es muß auch sicher sein, damit es rechtschaffen bleibt.

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