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Autor: Biffi, Giacomo

Buch: Sehnsucht nach dem Heil

Titel: Sehnsucht nach dem Heil

Stichwort: Gesetz (als ratio); ewiges G. - Naturgesetz - positives G.; Norm d. Handelns: Vernunft; Gemeinwohl; Epikie, Dispens

Kurzinhalt: ... ist das Gesetz wesentlich eine "ratio" und hilft dem Subjekt, das [in seiner Vernunft] ein Maß hat, sich in seiner Wahrheit zu erkennen ...

Textausschnitt: II. DAS GESETZ

1. Gesetzesbegriff

256a Wir versuchen, uns eine Vorstellung vom Gesetz zu machen, die einfach, umfassend, allgemeingültig ist und auch über den juridischen Rahmen hinausgeht. (Fs)

Maßstab des Handelns

Weil das Gesetz etwas ist, das das gebietet, was zu tun ist, stellt man sich in erster Linie einen Befehl darunter vor. Das heißt, das Gesetz scheint hauptsächlich ein Befehl, ein Gebot zu sein, etwas zu tun oder nicht zu tun. Es hat also den Anschein, daß das Gesetz hauptsächlich ein Akt in Bezug auf den Willen ist. Und das ist eine weitverbreitete Meinung. (Fs)

Wenn wir eingehender nachdenken, ändern wir diese Meinung. Durch das Gesetz ist uns eine Norm, das heißt eine "Regel" gegeben. Und eine Regel ist hauptsächlich ein "Maßstab" für die Akte: Jeder Akt, gemessen an dem "Maßstab", erscheint angemessen oder unangemessen, das heißt "recht" oder "unrecht". (Fs)

Das Steuergesetz zum Beispiel sagt uns, wie die Steuern zu zahlen sind. Der Vergleich des Steuerbescheids mit dem zugrundeliegenden Gesetz zeigt, ob Berechnung und Steuersatz überzogen oder zu niedrig sind. (Fs)

Der einzig mögliche Maßstab menschlicher Handlungen ist die Vernunft, weil nur sie die Handlungen des Menschen zu ihrem Ziel in Beziehung setzen und folglich ihrer wahren Natur nach beurteilen kann. Deshalb ist das Gesetz hauptsächlich und formal ein Akt der Vernunft; zweifellos ein Akt der praktischen Vernunft, der die Mitwirkung des Willens voraussetzt. Aber wo es kein vernünftiger Akt mehr ist, dort ist es kein Gesetz mehr, sondern Willkür (vgl. Thomas v. Aquin, Summa Theologiae I—II, q. 90, a. 1, ad 3). (Fs)

256b Dieses Verständnis von Gesetz steht im Widerspruch zur nominalistischen Auffassung, die in die ganze moderne juridische Mentalität und mehr oder weniger unbewußt in viele kirchliche und nichtkirchliche Haltungen unserer Zeit eingedrungen ist. Nach der nominalistischen Auffassung ist das Gesetz hauptsächlich ein Willensakt: Es erwächst aus einem Entschluß, der zur Natur der Dinge und Situationen hinzukommt und von außen auferlegt wird. Das so verstandene Gesetz kann leicht den Anschein von etwas Einschränkendem und Abtötendem haben, auch wenn es ein gutes Gesetz ist. Daher die Geringschätzung dessen, was "Juridismus" genannt wird. (Fs) (notabene)

257a In dem Begriff jedoch, den wir in Abwandlung des hl. Thomas vorlegen, ist das Gesetz wesentlich eine "ratio" und hilft dem Subjekt, das [in seiner Vernunft] ein Maß hat, sich in seiner Wahrheit zu erkennen und sich seiner Natur entsprechend zu verhalten. (Fs)

Wie zum Beispiel die Gebrauchsanweisung für ein Auto, die von der Autofirma geliefert wird, nicht als ein Übergriff und eine Freiheitsbeschränkung gewertet werden kann: Die Gebrauchsanweisung ist ein Mittel, damit wir die wahre Natur des Autos kennenlernen und achten. (Fs) (notabene)

Das Gemeinwohl

257b Zweck des Gesetzes ist, den Menschen zum Ziel zu führen, das heißt zur Vollkommenheit, die seiner wahren Natur entspricht. Und weil der Mensch wesentlich ein "Gemeinschaftswesen" ist, ist auch das Ziel des Menschen ein gemeinschaftliches. Mit anderen Worten, der Mensch erscheint wirklich so, wie er ist, wenn er in seiner sozialen Dimension berücksichtigt wird. Deshalb kann das tatsächliche Wohl des Menschen nur das soziale Wohl sein, das heißt das "Gemeinwohl". Das Gesetz muß also seiner Natur nach das Gemeinwohl betreffen. (Fs)

257c Das Gesetz kann nicht darauf abzielen, das Wohl des Einzelnen zu verwirklichen oder ein gelegentliches Übel zu verhindern, sondern auf das, was im Durchschnitt geschieht: "ut in pluribus". (Fs)

Zum Beispiel können die Gehsteige, weil eine alte Frau dort gestürzt ist und sich das Bein gebrochen hat, nicht abgeschafft werden; dagegen müssen Regelungen für die Diskotheken eingerührt werden, weil am Wochenende viele Jugendliche unter den Verkehrstoten sind. (Fs)
Wem steht es zu, Gesetze zu erlassen?

258a Die Akte müssen auf ein Ziel hingeordnet werden. Weil das Gesetz Hinordnung der Akte auf das Gemeinwohl bedeutet, ist der natürliche Gesetzgeber der Sitz des Gemeinwohls, das heißt:
- Gott für das Gesetz, das die Geschöpfe als solche betrifft;
— die menschliche Gemeinschaft (unmittelbar oder durch ihren rechtmäßigen Vertreter) für die Gesetze, die das Gemeinwohl im menschlichen Zusammenleben auf Erden betrifft. (Fs)

Das Inkraftsetzen

Ein Maß ist nur konkret, wenn es tatsächlich auf das zu messende Objekt angewandt wird. Das Gesetz - das Maß des Menschen, insofern er als Mensch handelt - hat also nur gesetzmäßigen Wert, wenn es wirklich auf den handelnden Menschen angewandt wird. Diese "Anwendung" geschieht im Grunde genommen durch die Kenntnis des Gesetzes bei denjenigen, die ihm unterstellt sind. Sie erlangen Kenntnis durch den "Erlaß" des Gesetzes, der insofern auch zu dessen wesentlichen Grundlagen gehört. (Fs)

Das Naturgesetz wird vom Gewissen erlassen, mit dem wir uns noch befassen werden. (Fs)

Eine feste Norm

258b Aus seiner Natur als "Maßstab", die dem Gesetz eigen ist, erwächst die Notwendigkeit, daß sich das Gesetz nicht nur auf einzelne, sondern auf eine Vielzahl von Subjekten bezieht, und daß es möglichst konkrete Stabilität besitzt. Denn ein ständig veränderlicher Maßstab würde seinen Zweck nicht erfüllen und nur ein großes Durcheinander hervorrufen. (Fs)

Was ist das Gesetz?

259a Wir können jetzt versuchen, das Ergebnis unserer Reflexion zusammenzufassen:
Das Gesetz ist eine vernünftige, dauerhafte, vom Vertreter der Gemeinschaft festgelegte und erlassene Norm, die die menschlichen Handlungen im Hinblick auf das Gemeinwohl regelt. (Fs)

2. Das Gesetz und die Gesetze

259b Wir müssen zugeben, daß der Begriff des Gesetzes, bei dem wir gelandet sind, sich in univokem Sinn nur auf das "positive menschliche Gesetz" bezieht. Aber die Verstehbarkeit des positiven menschlichen Gesetzes ist noch nicht erschöpft und auch nicht wahrhaft zu rechtfertigen, wenn wir in den Diskurs nicht andere Gesetze miteinbeziehen, die ihm vorausgehen und auf die das bisher Gesagte nur annähernd anwendbar ist. (Fs)

Das ewige Gesetz

In der gesamten Wirklichkeit sind zwei Seinsweisen zu unterscheiden:
- auf der einen Seite gibt es das ungeschaffene und erschaffende Absolute;
— auf der anderen Seite alles, was nicht absolut ist, das heißt die relativen Lebewesen, die Geschöpfe. (Fs)

Weil aber letztere nur reine Abhängigkeiten vom Absoluten sind, sowohl in Bezug auf ihr Dasein als auch in bezug auf ihren Wesenskern, wird das Absolute als einzige und immerwährende Quelle alles Wirklichen sowohl statisch als auch dynamisch verstanden. Mit anderen Worten, Gott hält das Universum am Leben und lenkt es in seiner Geschichte. (Fs)

259b Diese Herrschaft Gottes ist nicht blind und zufällig; in ihr gibt es eine "ratio" - das heißt einen Plan -, durch den Gott alles zu einem letzten Ziel führt. (Fs)

260a Diese "ratio" ist die Norm aller Dinge und fällt mit dem Begriff der "Vorsehung" zusammen, so wie auf ontologischer Ebene mit der Wesenheit Gottes selbst. Sie ist ewig, weil alles, was in Gott ist, ewig ist. So kommen wir zur Idee des ewigen Gesetzes, des "Regierungsprogrammes", wie es Gott für das ganze Universum im Sinn hat (vgl. Summa Theologiae I—II, q. 51, a. 11: "ratio gubernativa totius universi in mente divina existens"). (Fs)

Es ist natürlich das oberste Gesetz, das für alle Geschöpfe zu allen Zeiten und an allen Orten gilt. Alle anderen Gesetze sind es tatsächlich nur in dem Maß, in dem sie von dem obersten Gesetz abhängen und es sozusagen inkarnieren. Aber dieses Gesetz, Ur- und Vorbild jedes anderen, das sich mit der göttlichen Wesenheit als Norm und Ziel von allem identifiziert, kann selbst nicht erkannt werden, solange wir hier auf Erden leben (vgl. Summa Theologiae I—II, q. 93, a. 2). (Fs)

Die Situation ist ungewohnt: Der menschliche Gesetzgeber soll sich das göttliche Gesetz vor Augen halten, sonst läuft er Gefahr, von der rechten Ordnung der Dinge abzuweichen; aber sein Inspirationsmodell ist unsichtbar. (Fs)

Das Naturgesetz

Der Stand der Dinge würde ans Absurde grenzen, gäbe es das Naturgesetz nicht, um gleichsam zwischen dem ewigen Gesetz und dem positiven menschlichen Gesetz zu vermitteln. Weil alle Dinge dem ewigen Gesetz unterstellt sind und von ihm geregelt werden, findet sich im Wesenskern von allem eine Inkarnation des ewigen Gesetzes, das heißt eine Norm; gemäß dieser Norm ist jedem Geschöpf, seiner Natur entsprechend, eine Neigung zu seinem Ziel und zu den besonderen Akten, mit denen das Ziel zu erreichen ist, zugewiesen. Diese Norm ist die Natur selbst, sofern sie am ewigen Gesetz gemessen wird, das heißt, insofern sie dem Plan Gottes entspricht. (Fs)

260b In den vernunftbegabten Lebewesen wird die Natur, die ihr Selbstbewußtsein erlangt hat, nicht mehr am Gestz bemessen, sondern selbst zum Maßstab, das heißt zur Richtschnur der Handlungen. Und so hat man das Naturgesetz, das jedem vernunftbegabten Geschöpf als Teilhabe am ewigen Gesetz eingeschrieben ist. (Fs)

Das positive Gesetz

261a Aber das Naturgesetz bietet nicht alle Mittel und Bedingungen, um seine eigenen Gebote zu erfüllen. Deshalb ist es notwendig, daß es näher definiert wird. So entsteht die Grundlage für das positive Gesetz, d.h. das Gesetz, das vom göttlichen und menschlichen Gesetzgeber zusätzlich zur Anwendung des Naturgesetzes festgelegt wird. Wir beobachten, daß es in der Hierarchie der Gesetze sozusagen eine fortschreitende Inkarnation des ewigen Gesetzes gibt. Die Norm verzweigt sich allmählich immer mehr ins Einzelne und Zufällige; sie wird zugleich weniger absolut und Variationen unterworfen. Das ewige Gesetz gilt für alle Geschöpfe. Das Naturgesetz gilt nur für die Natur, auf die es sich bezieht. Das positive Gesetz kann der Zeit und dem Ort entsprechend verschieden sein. Seine Veränderbarkeit ist um so größer, je weiter entfernt vom ewigen Gesetz seine Anordnungen sind. (Fs)

Erstes Beispiel: Das Geschöpf soll den Schöpfer (das ewige Gesetz) anbeten; der Mensch soll den Schöpfer auch in äußerer und gemeinschaftlicher Kultform verehren (Naturgesetz); der Mensch soll den Sabbat dem Gottesdienst widmen (positives jüdisches Gesetz). (Fs)
Zweites Beispiel: Man soll das Böse meiden (ewiges Gesetz); der Inzest ist böse und zu vermeiden (Naturgesetz); die Eheschließung zwischen Cousin und Cousine ist unerlaubt (positives Gesetz). (Fs)

261b Wie zu sehen ist, geht die Handlungsnorm in den verschiedenen Gesetzen vom Allgemeinen ins einzelne über nach einer syllogistischen Methode, die das grundlegende Instrument zur Ausübung der menschlichen Vernunft ist. (Fs)

Beispiel: Man soll das Böse meiden (ewiges Gesetz), töten ist böse, also darf man nicht töten (Naturgesetz); man vermeidet es, zu töten, wenn man sich im Straßenverkehr auf der rechten Seite hält (positives Gesetz, das auch wie z. B. in England anders sein kann). (Fs)
262a Das positive menschliche Gesetz deckt sich nicht unbedingt mit dem Naturgesetz, darf aber deshalb nicht für unbegründet und willkürlich gehalten werden. Obwohl es oft durchaus diskutierbar ist, wurzelt es im ewigen Gesetz, weil es die konkrete Spezifizierung des Naturgesetzes ist, das seinerseits den ewigen Plan Gottes spezifiziert. (Fs)

3. Endlichkeit des Gesetzes

262b Das ewige Gesetz hat natürlich kein Ende, und das Naturrecht endet mit dem Ende der Natur, auf die es sich bezieht. Anders ist es beim positiven Gesetz, das sich ändern kann und, auch wenn es unverändert bleibt, nicht unbedingt zur Pflicht gemacht werden kann. (Fs)

Änderung des Gesetzes

Das positive Gesetz darf in zwei Fällen verändert werden: Wenn man eine weitere Vertiefung der "ratio" erreicht hat, die sich in ihm ausdrückt, ober weil sich die konkreten Bedingungen des menschlichen Handelns, die das Gesetz regeln sollte, geändert haben. Es ist gut, festzuhalten, daß die Änderung angebracht und vernünftig ist, wenn das von der größeren Vernünftigkeit und der größeren Angemessenheit des menschlichen Gesetzes beigetragene Gute den unweigerlich durch die Veränderung hervorgerufenen Nachteil dementsprechend ausgleicht (eine Änderung bedeutet immer eine Verletzung des Ansehens der Norm). Der beste Gesetzgeber ist nicht derjenige, der ständig seine Gesetze ändert in der Hoffnung, sie zu vervollkommnen, sondern derjenige, der sie so klug aufbaut, daß sie dem Zeitenwandel auf Dauer standhalten. (Fs)

Keine dringende Notwendigkeit des Gesetzs

262c Wir zählen hier drei Fälle auf, in denen das Gesetz im Einzelfall nicht verpflichtend sein muß. Alle drei Fälle gehören zum Kirchenrecht, das im allgemeinen flexibler und menschlicher als das Zivilrecht ist. (Fs)

- die Epikie: die Auslegung des Gesetzes gegen dessen klare Textaussage, aber nach dem plausiblen Sinn des Gesetzgebers und die Übertragung des Gesetzes mit klugem Urteil auf die jeweiligen Umstände; unerläßliche Bedingungen: es besteht eine wahre Notwendigkeit; es ist schwierig, den Gesetzgeber direkt zu konsultieren; es handelt sich um ein positives menschliches Gesetz. (Fs)

263a
- die Entschuldigung: Aussetzung der Pflicht, das Gesetz zu befolgen, auf Grund eines schweren Schadens oder einer ernsthaften Beschwerlichkeit, die in diesem Fall mit seiner Beachtung verbunden ist;
- die Dispens: eine vom Gesetzgeber oder seinem Delegierten bewilligte momentane Enthebung von der Pflicht, ein bestimmtes Gesetz zu befolgen, dem man aber weiterhin unterstellt bleibt. (Fs)

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