Datenbank/Lektüre


Autor: Biffi, Giacomo

Buch: Sehnsucht nach dem Heil

Titel: Sehnsucht nach dem Heil

Stichwort: Moral; Verantwortung, Wirkung, freier Entschluss; Anrechenbarkeit der unvorhergesehenen Wirkungen, der vorauszusehenden und nichtbeabsichtigten Wirkungen (Bedingungen); Prinzip der Doppelwirkung

Kurzinhalt: ... Prinzip der Handlung mit Doppelwirkung: Es ist erlaubt, eine Handlung auszuführen, aus der zwei getrennte Wirkungen hervorgehen, eine gute und eine schlechte, vorausgesetzt, das Ziel des Handelnden ist ehrenhaft und die schlechte Wirkung ist nicht ...

Textausschnitt: 2. Die Anrechenbarkeit

249a Kann ein Akt oder die Wirkung eines Aktes auf jemanden bezogen werden, der hier als Verantwortlicher gehandelt hat, ist er diesem zuzurechnen. (Fs)

Anrechenbarkeit der Akte und Wirkungen

Das Maß der Verantwortung ist der Entschluß. Ein Akt ist dem handelnden Subjekt zuzuschreiben in dem Maß, in dem er vom ihm frei ausgeht. (Fs)

Aber das Handeln ist nie etwas in sich Abgeschlossenes. Die Akte haben immer Folgen: Kaum entstehen sie, rufen sie selbst Wirkungen hervor, und diese Wirkungen haben andere Wirkungen und so fort. Das heißt: Eigentlich erzeugt jede Handlung von uns im Wirklichkeitssystem, an dem sie teilhat, eine Störung, die theoretisch ins Unendliche geht, wie die Kreise, die ein Stein erzeugt, wenn er ins Meer geworfen wird. Es ergibt sich also das Problem, wer für diese Wirkungen verantwortlich ist: Inwieweit hat der Handelnde die mehr oder weniger weitreichenden Wirkungen seiner Handlungen zu verantworten?

249b Dieses Problem hat eine einfache und offensichtliche Lösung in den Fällen von unmittelbar beabsichtigten Wirkungen: jede Wirkung, die nicht nur vorhergesehen, sondern auch von dem, der handelt, beabsichtigt ist, ist der Verantwortung des Handelnden zuzuschreiben, und zwar aus dem Grund, weil nach der genannten Grundregel auch die Wirkung, wenn beabsichtigt, zu verantworten ist. Zum Beispiel: Wenn jemand in das Boot ein Loch bohrt, um seine Ehefrau, die nicht schwimmen kann, zu ertränken, ist er nicht nur für den Schaden, der dem Boot zugefügt wurde, verantwortlich, sondern auch für den Tod seiner Frau. (Fs)

Anrechenbarkeit der unvorhergesehenen Wirkungen

250a Wenn die Wirkung eines Aktes nicht beabsichtigt und keineswegs vorauszusehen war, ist sie nicht anzurechnen, weil sie nicht auf einen freien Entschluß des Handelnden zurückzuführen ist. Zum Beispiel: Wenn der Lehrer den Schüler zurechtweist, und dieser sich aus dem Fenster stürzt, ist der Lehrer nicht für den Tod des Schülers verantwortlich zu machen, weil man nicht voraussehen konnte, daß die Zurechtweisung eine solche Wirkung haben würde. (Fs)

Anrechenbarkeit der vorauszusehenden und nichtbeabsichtigten Wirkungen
Schwieriger und komplizierter ist es, die Zurechenbarkeit festzustellen, wenn es sich um vorauszusehende, aber keineswegs beabsichtigte Wirkungen geht. Die moralische Problematik bezieht sich hauptsächlich auf die Frage der Verantwortlichkeit für diese Art von Wirkungen. (Fs)

Beispiel: Sieht man den wirtschaftlichen Ruin des Mitbewerbers voraus, wenn man ein Geschäft eröffnet? Sieht man die Unannehmlichkeiten, ja den Tod von Patienten voraus, wenn man einen Streik des Krankenhauspersonals ausruft?

Sieht man die Arbeitslosigkeit vieler Arbeitnehmer vorher, wenn aus Gründen einer Optimierung eigener Investitionen eine Werksniederlassung schließen muß?

250b Bei guten Wirkungen ist das Problem einfach: Eine gute Wirkung ist nur in dem Fall anrechenbar, wenn sie unmittelbar beabsichtigt ist: Die reine Voraussicht genügt nicht, weil das Gute, um konkret vom Handelnden als solches betrachtet zu werden, ausdrücklich gewollt sein muß. (Fs)

Beispiel: Ein Sozialarbeiter, der seine Arbeit gut macht und dem Nächsten große Hilfe und Erleichterung bringt, es aber nur um seines Monatsgehaltes wegen und nicht aus Liebe zum Nächsten tut, hat Anrecht auf den Monatslohn, aber kein Anrecht auf den Verdienst des vollbrachten Guten. (Fs)

251a Eine böse Wirkung ist hingegen anrechenbar, wenn gleichzeitig zwei Bedingungen vorliegen:
— wenn die Wirkung in irgendeiner Weise vorauszusehen war;
- wenn der hervorrufende Akt zu vermeiden ist oder - sollte er schon durchgeführt sein - wenigstens die schlechte Wirkung aufgehalten werden kann. (Fs)

Der Grund der ersten Bedingung ist, daß die fehlende Vorausschau dem Akt die "menschliche" Wirkung entzieht, weil jede Erkenntnis fehlt. Der Grund für die zweite Bedingung ist, daß das, was man nicht vermeiden kann, nicht anrechenbar ist; und das, was nicht Gegenstand der freien Entscheidung ist, kann nicht Gegenstand der Anrechenbarkeit sein. (Fs)

Das Prinzip der Doppelwirkung

251b Aber ist eine schlechte Wirkung immer anrechenbar, wenn sich die beiden obengenannten Bedingungen zusammen ergeben? Mit anderen Worten: Ist man verpflichtet, alle Handlungen zu vermeiden, bei denen vorauszusehen ist, daß sich schlechte Wirkungen ergeben?
Wäre die Antwort im absoluten Sinn bejahend, müßte man daraus schließen, daß es praktisch unmöglich ist, etwas zu tun, denn es gibt kaum eine Handlung, die unter vielen Wirkungen nicht auch eine vorhersehbare Wirkung hat, die nicht gut ist. Da fragt man sich: Wann ist man verpflichtet und wann nicht, von einem Akt abzusehen, der eine vorhersehbare, aber nicht beabsichtigte schlechte Wirkung hat?
Damit ein Akt dieser Art ausgeführt werden darf, ist es unerläßlich, folgende Bedingungen zu prüfen:

251c
1. Der Wille muß völlig getrennt vom Bösen der Wirkung bleiben. Das bedeutet, man darf die schlechte Wirkung keinesfalls anstreben, diese darf auch nicht der schlichten Befriedigung während der Durchführung des ursächlichen Aktes dienen; und auch nicht in dem Augenblick Zustimmung erfahren, wenn sie als Wirkung nachfolgt. (Fs)

252a
2. Der ursächliche Akt muß in sich selbst gut sein, andernfalls darf er nicht durchgeführt werden, auch wenn er eine gute Wirkung hätte, die vom Willen als Ziel beabsichtigt ist. (Fs)

3. Wenn der ursächliche Akt nur eine schlechte Wirkung hat, darf er nicht durchgeführt werden, weil in diesem Fall der Wille sich nicht als unbeteiligt an der schlechten Wirkung betrachten darf; die Handlung endet ja mit einer einzigen Wirkung. (Fs)

4. Wenn zwei verschiedene Wirkungen - eine gute und eine schlechte - vorausgesetzt werden, ist es für die erlaubte Durchführung des Aktes notwendig, daß die gute Wirkung, die zu spüren ist, nicht aus der schlechten erwächst, sondern von ihr unabhängig ist; sonst muß der Wille, um die gute Wirkung zu erlangen, in seine Absicht auch die schlechte Wirkung einschließen, weil derjenige, der ein Ziel anstrebt, auch alle Mittel will, die zum Ziel führen. (Fs)

5. Wird die Unabhängigkeit der Wirkungen vorausgesetzt, müssen sie zueinander im rechten Verhältnis stehen. Mit anderen Worten, es muß ein schwerwiegender Beweggrund vorliegen, damit der ursächliche Akt durchgeführt werden darf, trotz des vorauszusehenden Bösen, das daraus erwächst. Diese Bedingung ist die am schwersten abwägbare, weil eine konkrete Situation je nach Meinung unterschiedlich bewertet werden kann. (Fs)

252B Wir können nun eine sittliche Grundregel aufstellen, das bekannte Prinzip der Handlung mit Doppelwirkung:

Es ist erlaubt, eine Handlung auszuführen, aus der zwei getrennte Wirkungen hervorgehen, eine gute und eine schlechte, vorausgesetzt, das Ziel des Handelnden ist ehrenhaft und die schlechte Wirkung ist nicht beabsichtigt; die Handlung in sich selbst ist gut oder indifferent; die gute Wirkung erwächst nicht aus der schlechten Wirkung, und es besteht ein schwerwiegender Grund zu handeln. (Fs) (notabene)

252d Bei der praktischen Anwendung des Prinzips ist zu achten:

- auf die zwei Wirkungen selbst; je schwerer das vorauszusehende Übel ist, um so wichtiger muß das zu erwartende Gute sein;

253a
- auf die eventuelle Unterschiedlichkeit der beiden Wirkungen; eine gute, weniger wichtige, aber sichere Wirkung kann eine schwerere böse, aber unwahrscheinliche Wirkung ausgleichen;
- auf die Intensität der Verbindung zwischen den Wirkungen und dem ursächlichen Akt: eine schlechte Wirkung, die nur ganz entfernt mit dem Akt verbunden ist, erfordert einen weniger schwerwiegenden Grund als eine Wirkung, die beinahe Teil des Aktes ist. (Fs)

____________________________

Home Sitemap Lonergan/Literatur Grundkurs/Philosophie Artikel/Texte Datenbank/Lektüre Links/Aktuell/Galerie Impressum/Kontakt