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Autor: Biffi, Giacomo

Buch: Sehnsucht nach dem Heil

Titel: Sehnsucht nach dem Heil

Stichwort: Moral, menschliche Handlungen (Analyse); Ziel, Mittel; Freiheit, Verstand, Wille; nihil volitum quin praecognitum; Wille - Glück (keine Wahl); universales Gut, Ersturteil, freier Wille

Kurzinhalt: Wenn man eine endgültige Bestimmung des menschlichen Daseins und die Freiheit des Menschen ausschließt und verneint, ist Moral nicht möglich... Der Wille ist für das universale Gute (das "Glück") gemacht. Deshalb hat der menschliche Wille angesichts ...

Textausschnitt: I. DIE MENSCHLICHEN HANDLUNGEN

246a Als "menschliche" Handlungen bezeichnet man jene Akte, die vom Menschen absichtlich ausgehen, das heißt, die im Verstand und freien Willen ihren Ursprung haben. (Fs)

1. Analyse der menschlichen Handlung

Der menschliche Akt und die Freiheit
Das moralische Problem betrifft das Handeln, das selbst Ergebnis einer Entscheidung und einer Wahl ist. (Fs)

Stellen wir uns einen Autofahrer vor, der in einer ihm unbekannten Gegend fährt. Er hat darauf zu achten, welchen Weg er nehmen muß und folglich darauf, daß er die Wegweiser und Verkehrsschilder lesen muß, aber nur in dem Fall, daß sich gleichzeitig zwei Bedingungen ergeben, das heißt, daß er ein ganz bestimmtes Ziel hat und daß es mehrere befahrbare Straßen gibt. Wenn der Fahrer spazierenfährt oder wenn er weder eine Kreuzung noch Abzweigung antrifft, ergibt sich das Problem, daß er auf die Wegweiser achten muß, nicht. (Fs)

Abgesehen vom bisher Gesagten und vorausgesetzt, das Leben des Menschen hätte kein Ziel, das heißt keine endgültige Bestimmung, die durch ein rechtes Verhalten zu erreichen ist, dann bestünde das moralische Problem, das heißt das Problem, was man tun soll, nicht. Das moralische Problem ergibt sich auch nur in Bezug auf freie Handlungen. Die lebensnotwendigen Handlungen (z. B. der Kreislauf des Blutes) schließen jede Wahl aus und erlauben die Fragestellung nicht: Für was muß ich mich entscheiden? Aber die freien Handlungen (z. B. in die Schule oder ins Kino gehen?) bringen die Wahl und die Frage mit sich: Was muß ich tun? Und das ist die moralische Frage. (Fs)

Widerstände gegen moralisches Handeln

246b Wenn man eine endgültige Bestimmung des menschlichen Daseins und die Freiheit des Menschen ausschließt und verneint, ist Moral nicht möglich. (Fs)

247a Heute ist die Moral allerseits gefährdet: Es wird kein Ziel mehr anerkannt, und oft wird dem Menschen, der handelt, keine wahre Freiheit mehr zuerkannt. Daraus ergibt sich die Bedeutungslosigkeit allen menschlichen Handelns, der Mangel an Lebenslust (wie man keine Lust hat, ohne Regeln und ohne Gewinn zu spielen), und am Ende steht die Verzweiflung. (Fs)

"Wenn es Gott nicht gibt, ist alles erlaubt." Aber wenn alles erlaubt ist, wird alles banal, sowohl die Verneinung der Freiheit als auch die Bekräftigung der ziel- und regellosen Freiheit, so daß das moralische Problem zunichte gemacht wird. (Fs)

Der Mechanismus des menschlichen Handelns

247b Wer "menschlich" handelt, betrachtet das Ziel des Handelns, dann die Mittel, um das Ziel zu erreichen. (Fs)

Dabei sind grundsätzlich drei psychologische Vorgänge im Hinblick auf das Ziel zu unterscheiden:
- das Ziel ist bekannt;
- inwieweit das Ziel erstrebenswert ist, wird geprüft;
- der Entschluß wird gefaßt, es zu erreichen. (Fs)

Und drei psychologische Vorgänge, die die Mittel betreffen: . (Fs)

- unterschiedliche Mittel zur Erreichung des Ziels sind bekannt;
- die Mittel werden überprüft, inwiefern sie erstrebenswert sind;
- die Entscheidung für die entsprechende Auswahl. (Fs)

Wir stellen fest, daß Ziele und Mittel gewöhnlich vielfach verknüpft sind, und das, was Mittel ist für das, was nachher kommt, Ziel ist für das, was vorausgeht. Zum Beispiel: Nach Florenz fahren, mit dem Zug fahren, den Fahrschein kaufen, mit dem Bus zum Bahnhof fahren, die Fahrkarte für den Bus kaufen. (Fs)

Wir stellen auch fest, daß das, was in der Absicht an erster Stelle kommt, das letzte in der Durchführung ist. (Fs)

Beziehung zwischen Verstand und Willen

247b Der "menschliche" Akt entsteht aus dem Zusammenwirken zweier Fähigkeiten, die das Leben des Geistes wesentlich gestalten: Verstand und Wille. Ihre Interaktion und ihre Beziehungen sind weitgehend unbekannt. Wir halten uns bei unserer Reflexion an das Grundprinzip, daß der Wille im Verstand gründet: Man kann nichts wollen, was man nicht zuvor erkannt hat ("nihil volitum quin praecognitum", sagten die Scholastiker). Und wir sind der Überzeugung, daß die Verstehbarkeit eines Gegenstandes nicht auszuschöpfen ist, wenn er nicht zugleich geliebt wird. (Fs)

248a Die verstandesmäßige Erkenntnis hat das Universale (die Wahrheit) zum Ziel. Infolgedessen ist das vom Verstand (Willen) angestrebte Ziel das universale Gute. Der Wille ist für das universale Gute (das "Glück") gemacht. Deshalb hat der menschliche Wille angesichts des Glücks nicht die Freiheit, zu wollen oder nicht zu wollen. Philosophisch wird hier das ausgedrückt, was Augustinus zu Beginn seiner Bekenntnisse in frommen Worten schreibt: "Du hast uns zu dir geschaffen, und ruhelos ist unser Herz, bis daß es Ruhe findet in dir" ("Fecisti nos, Domine, ad te; et inquietum est cor nostrum do-nec requiescat in te"). (Fs)

Das universale Gute ist das Ziel. Deshalb erlaubt es keine unentschiedene Beurteilung, sondern drängt sich mit Notwendigkeit dem Verstand auf. Es erlaubt auch keine freie Wahl, sondern drängt sich mit Notwendigkeit dem Willen auf. Zum Beispiel ist die beseligende Anschauung Gottes für die Himmelsgeschöpfe zwar ein "verstandesmäßiger" und "willensmäßiger", aber kein freier Akt, weil es die Anschauung des universalen Guten ist. Deshalb können die Seligen nicht sündigen. (Fs)

Aber in diesem Leben werden die menschlichen Handlungen, die auszuführen sind, nie als universal gut empfunden: Sie sind immer endliche Wirklichkeiten und erscheinen immer als einerseits gut und anderseits böse. Zum Beispiel: Viele Süßigkeiten essen kann gleichzeitig als etwas Gutes (weil Süßigkeiten angenehm sind) und als etwas Böses erscheinen (weil Bauchschmerzen danach unange-nehm sind). (Fs)

Deshalb wird das unmittelbare erste Urteil, das in Bezug auf diese Handlungen durch die fühlbare Erkenntnis erwächst, seinerseits in Bezug auf ein umfassenderes Gutes und letztlich auf das universale Gute beurteilt werden müssen. Und es wird bekräftigt oder korrigiert, je nach dem, ob der Wille seine Aufmerksamkeit auf die positiven oder negativen Aspekte richtet. (Fs)

248b In dieser Möglichkeit, das Ersturteil zu beurteilen, das aus einer vorhandenen universalen Erkenntnis erwächst (die deshalb die erfahrbare Erkenntnis übersteigt, die für sich auschließlich mit der machbaren Einzelheit verknüpft ist), wurzelt der freie Wille. (Fs)

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