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Autor: Biffi, Giacomo

Buch: Sehnsucht nach dem Heil

Titel: Sehnsucht nach dem Heil

Stichwort: Das Böse; theologische Reflexion; das Böse als Nicht-Sein, Mangel am Sein (Plotin, Augustinus); "beste aller möglichen Welten" (Leibniz); Hoffnung: Gott

Kurzinhalt: Plotin faßt ganz klar das Böse als "Nichtsein" auf... Deshalb wird die angemessene Frage nicht lauten: Warum existiert das Böse in der Welt Gottes?, sondern: Welchen Sinn hat das Böse im göttlichen Heilsplan?

Textausschnitt: IV. REFLEXION ÜBER DAS, WAS BISHER DER SCHRIFT ENTNOMMEN WURDE

Notwendigkeit persönlichen Nachdenkens

224b Hier könnten unsere Überlegungen auch enden. Wenn die theologische Betrachtung hauptsächlich ein "Hören" ist auf den, der allein weiß, wie die Dinge im Himmel und auf Erden sind, haben wir jetzt "gehört"; und wir könnten uns damit auch zufrieden geben. In Wirklichkeit besteht sowieso keine Hoffnung, daß unser spekulatives Denkvermögen dem aus der göttlichen Offenbarung Entnommenen noch etwas hinzufügen kann. (Fs)

Aber gerade weil unser Interesse groß und aufrichtig ist, ist es notwendig, daß wir den Fragen, die das Wort Gottes natürlich in unserem Herzen geweckt hat, freien Lauf lassen. (Fs)

224b Als erwachsene Menschen können wir die Stimme von oben nicht so hören, wie irgendein Lebewesen in der Welt das Donnern oder das Blätterrascheln des Windes vernimmt. Wir müssen sie in unser Denken eindringen lassen: Die Offenbarung will unsere Vernunft nicht überwältigen, sondern erhellen. Sie will überzeugen und den transzendenten Gedanken Gottes in die Formen des geschaffenen Verstandes einsenken. Wir müssen Gottes Denken in uns arbeiten lassen, aber gleichzeitig unsere Neigung zum unverbesserlichen Forschen nach letzten Ursachen achten. (Fs)

225a Gott hat uns so geschaffen, und es ist recht, daß wir uns so verhalten, wie wir sind. Das unersättliche Forschen, sagt Kohelet, ist "ein schlechtes Geschäft, für das die einzelnen Menschen durch Gottes Auftrag sich abgemüht haben" (Koh 1,13); die lateinische Version klingt noch besser: "... quaerere et investigare sapienter de omnibus quae fiunt sub sole: hanc occupationem pessimam dedit Deus filiis hominum, ut occuparentur in ea."

Hören, was der Herr sagt: Das ist der Glaubensakt.

Aber der Glaubensakt setzt als unerläßliche Grundlage auch die Anstrengung des Verstandes voraus. Im Gegensatz zu der durch die Aufklärung verbreiteten vorgefaßten Meinung muß der Gläubige immer eine vernünftige Denkarbeit leisten. Ja, in gewisser Hinsicht kann man sogar sagen, daß der Mensch seine eigene Vernünftigkeit nur durch das Wagnis des Glaubens retten und dem Absurden ausweichen kann. Der beste Beweis dafür scheint gerade die Herausforderung zu sein, vor die unser Geist durch die Existenz des Bösen gestellt ist. (Fs)

Wir können der uns von Gott angebotenen Wahrheit am meisten Ehre erweisen, wenn wir versuchen, sie ihren Inhalten, ihren inneren Zusammenhängen und ihren Implikationen entsprechend zu verstehen. Und das wollen wir hier anhand einiger systematischer Überlegungen tun. (Fs)

225b Natürlich ist dieses Forschen, auch wenn es ganz objektiv sein will, weitgehend persönlich. Jeder von uns hat seine eigenen Fragen und Forschungsmethoden. Jeder von uns spürt im Innern seine Dunkelheiten und seine Erleuchtungen. Deshalb sind diese Schwerpunkte nur als Beispiel und Anregung zur Denkarbeit des einzelnen zu betrachten, ohne jemanden unbedingt überzeugen zu wollen, aber mit der leisen Hoffnung, daß vielleicht manchem brüderlich geholfen wird. (Fs)

Das Böse als Nicht-Sein

225c Zu Beginn eine in der Geschichte des menschlichen Denkens klassische metaphysische Überlegung, die nicht zu vergessen ist: Es ist die Unmöglichkeit, sich das Böse als positiv existierende Wirklichkeit vorzustellen (als "Wesenheit", um mit den Alten zu sprechen). (Fs)

226a Das war die definitive Errungenschaft des Neuplatonismus, der auf diese Weise die primitiven und phantasievollen Auffassungen von Gut und Böse als zwei gleichzeitig miteinander vermischte und in ständigem Kampf befindliche Wesen überwunden hat. Plotin faßt ganz klar das Böse als "Nichtsein" auf. Der griechischen Tradition entsprechend wird das Böse zwar als gebunden an Materie wahrgenommen; aber diese "Materie" wird von Plotin nicht als etwas Positives, sondern als Verlust, als reiner Mangel des Seins betrachtet: "Es bleibt also nichts anderes übrig, wenn es das Böse wirklich gibt, als daß es zu den Nichtseienden gehört und sozusagen eine bestimmte Form des Nichtseins ist..." (Enneaden 1,8,3). (Fs)

Das ist eine notwendige Vorbemerkung, um jede manichäische Denkweise zu vermeiden, die manchmal auf den menschlichen Geist sehr anziehend wirkt. (Fs)

Man denke nur an einen Geist wie den des Augustinus, der beinahe fünfzehn Jahre lang darin verstrickt war und gerade wegen dieser dualistischen Sichtweise so lange gebraucht hat, um Gott als Schöpfer recht zu erfassen. Es gelingt ihm erst nach der Lektüre der Neuplatoniker, durch die er erkennt, daß "alles, was da seiend ist, gut ist, und jenes Böse, dessen Ursprung ich suchte, ist nicht Wesenheit; denn wäre es Wesenheit, so wäre es gut" (Augustinus, Bekenntnisse VII.12.18). (Fs)

Wenn man das Böse einmal als Mangel an Sein verstanden hat, dann begreift man auch, daß eine bestimmte Art des "Bösen", die in der Endlichkeit und Begrenzung besteht, nicht nur möglich, sondern im Geschöpflichen unbedingt notwendig ist. Ein Sein ohne ontologische Mängel wäre nämlich unendlich, das heißt, es wäre kein Geschöpf mehr. (Fs)

Kommentar (18.02.11): zu oben: Endlichkeit als eine Art des Bösen?

226b Durch einen ähnlichen Gedankengang entleert man auch die optimistische Hypothese der "beste aller möglichen Welten", wie sie Leibniz vorgeschlagen hat. Die Welt, wie man sie sich auch vorstellen mag, würde immer nur einige göttliche Vollkommenheiten aufweisen, aber nicht alle, und könnte deshalb immer ein Mehr an Sein empfangen. Die "beste aller möglichen Welten" ist folglich ein widersprüchlicher Begriff, etwa wie der der "letzten ungleichen Zahl". Es ist interessant festzustellen, daß Leopardi zu Recht die gleiche Beweisführung anwendet, um auszuschließen, daß das die "beste aller möglichen Welten" sei. Und das schmälert nicht seinen Pessimismus, im Gegenteil: Es ist die Überzeugung, daß das Schlimmste nicht aufzuhalten ist. "Ich wagte nicht zu sagen, daß das vorhandene Universum das schlechtmöglichste von allen ist, indem ich so den Optimismus durch Pessimismus ersetze. Wer kennt denn die Grenzen des Möglichen?" (Zibaldone 4174). Diese schöne Rede über das Böse als Nichtsein ist meiner Meinung nach metaphysisch unanfechtbar, aber sie erhellt kaum das Rätsel des Bösen als menschliche Qual, das heißt das Leiden und die Schuld; ein Rätsel, mit dem wir einfach vom Leben her alle gezwungen sind, uns auseinanderzusetzen. (Fs)

Einzige Hoffnung: Gott

227a Angesichts des Drucks von Trauer und Mühsal, der auf der jetzigen Befindlichkeit und Geschichte des Menschen lastet, ist paradoxerweise nicht derjenige im Vorteil, der von Anfang an von Gottes Existenz überzeugt ist, sondern derjenige, der überhaupt nicht an Gott denkt. (Fs)

Es fällt nämlich sehr schwer, den anfänglichen Begriff eines Wesens, das das unendliche Gute ist, mit der Erfahrung der traurigen Situation auf Erden zu vereinbaren. (Fs)

Um dem Absurden zu entkommen, kann es eher passieren, daß wir — nach der Feststellung des Bösen — als einzigen uns gebotenen Lichtstrahl die Hypothese eines unbekannten Gottes annehmen, der imstande ist, im Verborgenen alle Ungerechtigkeiten auszugleichen. Wer von der Idee eines ewigen Urhebers aller Dinge ausgeht, neigt instinktiv dazu, den Schöpfer für jedes Unglück, das in der Welt geschieht, zur Rechenschaft zu ziehen. Die Tragik unseres Lebens wird dann zum Anklagepunkt, zum Hinderungsgrund, der theistischen Sicht treu zu bleiben. (Fs)

Letztlich also Gott auszugrenzen, um die Angriffe des Bösen zu vermeiden oder zumindest abzuschwächen, das muß das Ergebnis eines kuriosen psychologischen Vorgangs sein. Aber das ist natürlich eine Täuschung: Das Leiden - das furchtbare und unvermeidliche Leiden der Kreatur - ist eine von unserem Denken völlig unabhängige Tatsache: Man kann Atheist oder gläubig sein, der Wirklichkeit des menschlichen Leidens kann man auf keinen Fall entgehen. (Fs)

227b Wer aber nachzudenken beginnt und die leidende Menschheit mit ihrem tiefen Bedürfnis nach Trost im Blick hat, wird dann leichter an die Existenz Gottes als einzigen möglichen Weg denken, um Hoffnung schöpfen zu können. (Fs)

228a Nun können wir verstehen, daß die rechte Haltung in Bezug auf das Böse nicht die ist, sich vor Gott hinzustellen wie eine stirnrunzelnde Lehrerin, die den Schüler vorwurfsvoll anblickt, weil sie viele Kleckse in seinem Schulheft gefunden hat, oder wie der Untersuchungsrichter, der dem Angeklagten sein Verhalten vorhält, um seine Schuld festzustellen. Wir müssen Gott fragen, welche Rolle das Leiden und die Schuld in seinem transzendenten Plan spielen. (Fs)

Deshalb wird die angemessene Frage nicht lauten: Warum existiert das Böse in der Welt Gottes?, sondern: Welchen Sinn hat das Böse im göttlichen Heilsplan?

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