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Autor: Thomas von Aquin

Buch: Erschaffung und Urzustand des Menschen

Titel: Anmerkung zu den Fragen 90-102

Stichwort: Geist: stofflich oder nicht; Franziskaner - Dominikaner; Roland von Cremona, Ibn Gebirol (Avencebrolis); Thomas von Aquin; materia: Substanz - Potenz; Zerstörung der Grundlage des Denkens (Substanz als Akzidens)

Kurzinhalt: Sobald aber die Form als Beiwesen erscheine, würde der Stoff, der doch eine reine Möglichkeit bilde, aufgehoben und die Logik gefährdet, da nur mehr Aussagen von akzidentellen Prädikaten möglich seien...

Textausschnitt: [5 ] Zu S. 9.

190c Thomas berührt hier die zu seiner Zeit die Geister stark bewegende Frage nach der stofflichen Zusammensetzung der geistigen Wesenheiten, der Engel und der Menschenseelen. Schon oben 50, 2 fragte er: "Besteht der Engel aus Stoff und Form?" Hier bei der Menschenseele stellt er diese Frage nicht ausdrücklich, löst sie aber nebenher bei Erweis ihrer Erschaffung. (Fs)

Unser Problem ist schon alt. Die älteren Väterschriften nehmen bei den geistigen Selbstandwesen eine feingestaltete Körperlichkeit, einen ätherischen Licht- oder Luftleib an. Noch Augustinus (+ 430), Faustus von Reji (um 432), Cassian, Gennadius von Massilia (+ 492), Claudianus Mamertus (+ 474), Basilius (+ 379) und andern ist diese Vorstellung vertraut. Platonische Gedankengänge von außergöttlichen rein geistigen Wesen, die weder in sich ein stoffliches Element bergen, noch an einen sie umgebenden Körper gebunden sind, bedingen bei Gregor von Nyssa und vielleicht Gregor von Nazianz eine Umstellung. Pseudo-Dionysius, der eigentliche Vater der christlichmittelalterlichen Engellehre, tritt mit allem Nachdruck für die Engel als völlig stofflose Wesen ein. Der von ihm beeinflußte Gregor der Große bezeichnet zwar die Natur der Engel im Verhältnis zu Gott als Körper und Johannes Damascenus als gröbere Wesenheiten, aber die mittelalterlichen Theologen haben diese Ausdrücke als das hingenommen, was sie sein sollten, als bildhafte Formen zur Wahrung der absoluten Einfachheit Gottes. Trotz der Unklarheiten einiger Autoren, insbesondere Bernards von Clairvaux (+ 1153), Rupperts von Deutz und des Petrus Lombardus (+ 1160) vertreten die Gottesgelehrten des 12. Jahrhunderts, soweit sie unsere Frage berühren, die Einfachheit der Engel. Allerdings fordert um 1150 Dominikus Gundissalinus, der Verarbeiter und Übersetzer neuplatonisch-arabischen Gedankengutes, unter dem Einfluß Ibn Gebirols ausdrücklich für Engel und Menschenseele eine geistige Materie. Da er aber in Segovia schrieb, blieben seine Ideen vorläufig ohne Einfluß auf die abendländische Geisteswelt. Die Summa eines Praepositinus von Cremona zeigt noch keinen diesbezüglichen Niederschlag, die Summa eines Wilhelm von Auxerre nur einen leisen Anflug. Zum eigentlichen Problem wird unsere Frage um 1230. Soweit wir wissen, ist Roland von Cremona, ein Dominikaner, der erste, der die Frage nach der stofflichen Zusammensetzung der Engel und Menschenseelen ausdrücklich stellt und bejaht. Dem christlichen Mittelalter war diese Lehre aus Augustinus' echten und ihm unterschobenen Schriften schon bekannt. Roland beruft sich aber neben Augustinus auch auf die "Philosophen". Damit eröffnet er uns die geistesgeschichtlichen Hintergründe, warum gerade damals dieses Problem in den Vordergrund trat. Kurz vorher war das christliche Abendland mit den Liber de Causis (vgl. Bd. 1 Anm. [53]) und dem Fons vitae Ibn Gebirols (50, 2: Bd. 4, S. 128 und 562) bekannt geworden. Roland ist der erste uns bekannte Schriftsteller, der diese beiden Quellen erwähnt, die beide die stoffliche Zusammensetzung der geistigen Substanzen vertreten, Ibn Gebirol sogar in langen, bestechenden Beweisführungen. (Fs)

191a Seit Roland setzt sich fast jeder Gottesgelehrte mit dieser Theorie auseinander, wobei ihren Anhängern, wenigstens in den ersten Jahrzehnten, nicht Augustinus, sondern Ibn Gebirol die Hauptbeweise liefert. Die beiden Schulen der Franziskaner und Dominikaner, die eigentlichen Träger des theologischen Lebens im dreizehnten Jahrhundert, zeigen keine einheitliche Haltung. Johannes von Rupella (+ 1245), der erste Franziskaner, lehnt den geistigen Stoff ab; seine Mitbrüder, Alexander von Hales (+ 1245) und vor allem Bonaventura und Wilhelm de la Mare (+ 1298) sind begeisterte Anhänger. Von den Dominikanern treten Roland von Cremona (um 1230), Vinzenz von Beauvais und Richard Fischacre (+ 1248 )für sie ein; Hugo von St. Cher (+ 1264), Albertus Magnus und Thomas verneinen sie, während Petrus von Tarantasia (+ 1276) beide Ansichten für gleich wahrscheinlich hält, die verneinende als die leichter verständliche, die bejahende als die scharfsinnigere bezeichnet. (Fs)

191b Uns interessiert hier vor allem die Auffassung des hl. Thomas und ihre Begründung. Als Hauptfundstellen kommen in Frage: De Ente et Essentia c. 5; 2 Sent., d. 3, q. 1, a. 1; CG., II, 2 n. 50; Quaest. Disp. de spir. Creat. a. 1 und de Anima; de Substantiis separatis 5—8; Summa Theol. I 50 2; 90, 2. (Fs)

192a Für Thomas ergibt sich die Unstofflichkeit der geistigen Wesenheiten notwendig aus ihrer geistigen Betätigung. Wo ihm die gegnerische Lehre entgegentritt, bezeichnet er meistens und auch mit Recht Ibn Gebirol als ihren eigentlichen Urheber und ihre Vertreter gelten ihm als dessen Anhänger. Seine Polemik richtet sich aber auch gegen Augustinus, vor allem, als seine Gegner, welche die streng kirchliche Richtung zu vertreten vorgaben, sich nunmehr und mit Recht auf Augustinus stützten. (Fs)

Ibn Gebirols Hauptgründe für das Dasein des geistigen Stoffes sind kurz diese: Dort ist Stoff vorhanden, wo sich seine Merkmale zeigen; es gehört aber zu seinen Merkmalen, Formen aufzunehmen; da auch die geistigen Wesenheiten Formenempfänger sind, so bergen sie in sich ein stoffliches Element. — Bestehen die Geister nicht aus Stoff und Form, so ist ihre Vielheit oder Verschiedenheit ausgeschlossen, die sie beide nur auf Grund des stofflichen Wesensbestandteiles besitzen. — Schöpfer und Geschöpf müssen verschieden sein. Der Schöpfer ist aber einfach. Also darf das Geschöpf nicht einfach und muß aus Stoff und Form zusammengesetzt sein. Jedes geschaffene Selbstandwesen hat seine Grenzen. Der Grund dieser Begrenztheit ist die Form, denn ein formloses Sein ist unbegrenzt. Also müssen auch die geistigen Substanzen aus Stoff und Form bestehen. (Fs) (notabene)
Alle diese Beweisgründe tauchen bei den Vertretern des geistigen Stoffes wie Dominikus Gundissalinus, Alexander von Hales und Bonaventura in irgendeiner Form wieder auf. (Fs)

192b Die Widerlegung des hl. Thomas geht von folgenden Grundgedanken aus:
Ibn Gebirol trage die begriffliche Verschiedenheit in die Dingwelt hinein; da unser Verstand bei den körperlichen und geistigen Wesenheiten etwas Gemeinsames und Verschiedenes erfasse, wolle er das Unterschiedene als Form und das Gemeinsame als Stoff bezeichnen, so daß Körper und Geist ein gemeinsamer Stoff zugrunde liege. — Ein solcher gemeinsamer Stoff sei unmöglich; denn sonst müßten Geist und Körperform denselben Stoffteilen oder verschiedenen Teilen verhaftet sein; ersteres sei deshalb abzulehnen, weil sonst ein und dasselbe Wesen zugleich Geist und Körper sei, letzteres, weil der Stoff erst durch die Ausdehnung, die dem Geistwesen fremd sei, in Teile zerlegt würde. (Fs)

Weiter betont Thomas mit Albert, der Geist sei in einem anderen Sinne Träger der Formen als der Stoff. Dort habe die Form als Erkenntnisform allgemeinen Charakter, hier sei sie individualisiert; dort werde die Form ohne Ortsbewegung aufgenommen, hier zeige sie sich mit einer Ortsbewegung verbunden; bei den geistigen Selbstandwesen sei die Form Erkenntnisgrund, bei den körperlichen Dingen Seinsgrund. (Fs) (notabene)

192c In seiner Schrift De Substantiis separatis sucht Thomas, auf breiter Grundlage und von den geschichtlichen Voraussetzungen aus, Ibn Gebirol zu widerlegen. Ibn Gebirol finde seinen Stoff, indem er vom Niederen zum Höheren vordringe, der Stoff sei aber als reine Möglichkeit nur ein unvollkommenes Sein, je weiter man also im Suchen nach dem Stoff voranschreite, um so näher aber komme man dem Nichtsein, und darin sieht Thomas einen folgenschweren methodischen Mißgriff. Ihn Gebirol setze die Gattung dem Stoff, den Artunterschied der Form gleich; der Körper sei nach ihm der Stoff aller körperlichen, die Substanz der Stoff aller substanziellen Wesen; so würden alle zur Substanz hinzutretenden Unterschiede zu eigenschaftlichen Bestimmungen. Sobald aber die Form als Beiwesen erscheine, würde der Stoff, der doch eine reine Möglichkeit bilde, aufgehoben und die Logik gefährdet, da nur mehr Aussagen von akzidentellen Prädikaten möglich seien; so würden auch die Begriffe Gattung, Art, Differenz zerstört. Die Naturphilosophie würde unmöglich, da ein Entstehen und Vergehen der Dinge ausgeschlossen sei; ja die Grundlagen der ganzen Philosophie brächen zusammen, weil die Einheit und das Sein der Einzeldinge in ihrer Verschiedenheit zueinander hinfällig würden. Ibn Gebirol käme gemäß seiner Grundhaltung zu einer unendlichen Reihe von Stoffen und zu einem allgemeinen einfachen Stoff, die beide abzulehnen seien. Das bisher vom hl. Thomas Gesagte richtet sich gegen die Methode Ibn Gebirols, gegen die Unhaltbarkeit seiner Folgerungen und die Unzulässigkeit seiner Stoffauffassung. Aber er nimmt auch im Einzelnen Stellung zu seinen Beweisen: Da verneint er zunächst den Satz, daß ohne Stoff eine Vielheit von Geistwesen unmöglich sei. Man dürfe nicht jeder Vollkommenheit einen Stoff als Träger zuweisen. Eine Vollkommenheit sei nicht immer von dem Sein, dem sie angehöre, real verschieden; der Träger einer Form könne nicht allgemein als Materie gekennzeichnet werden. Das Verhältnis zwischen Substanz und Körperlichkeit oder Substanz und Geistigkeit sei nicht das von Stoff und Form oder Träger und Eigenschaft, sondern das von Gattung und Artunterschied. Der Seinsbegriff finde sich in den verschiedenen Klassen der Dinge in verschiedener Weise verwirklicht. Die Verschiedenheit der geistigen Wesenheiten vom höchsten Wesen gründe nicht in dem Vorhandensein von Stoff und Form, sondern im Verhältnis von Wesensanlage und Erfüllung, Wesenheit und Dasein, die allen endlichen Wesen, auch den geistigen zukäme. Die Begrenztheit der endlichen Wesenheiten sei darin zu suchen, daß ihr Sein auf ein bestimmtes Maß beschränkt bleibe. (Fs)

193a Wie wir aus der Erwiderung des hl. Thomas sehen, geht es in der ganzen Kontroverse im Grunde genommen um den Begriff des Stoffes. Nach Ibn Gebirol ist er der Substanz der Dinge nahezu gleich, jenes Sein, das aus dem göttlichen Wesen unmittelbar hervorgeht und Wesensgrund und Ausgangspunkt aller endlichen Selbstandwesen darstellt, also bereits etwas, wenn er auch hier und da ihren Möglichkeitscharakter betont. Der ganz im Banne Ibn Gebirols stehende Dominikus Gundissalinus bezeichnet den Stoff als erste in sich existierende Substanz, als Träger der Verschiedenheit, als der Zahl nach einen, der da ist die alle Formen aufnehmende Substanz, die die Wesenheit aller Formen konstituierende Substanz. (Fs)

193b Die übrigen Vertreter der Zusammensetzung der geistigen Wesenheiten gehen freilich nicht so weit. Sie sprechen bei den Geistwesen von einem geistigen Stoff, der ohne Ausdehnung und vom Stoff des Feuers verschieden sei. Freilich bezeichnet ihn Bonaventura auch als feingestalteten Körper, den er aber näherhin als Träger der Veränderung, nicht aber der Ausdehnung beschreibt. Bei ihm ist dieser Stoff, in sich betrachtet, weder körperlich noch geistig, fähig, körperliche und geistige Formen aufzunehmen. Ist er aber einmal von einer dieser Formen gestaltet, dann ist damit die andere ausgeschlossen. Tritt die geistige Form ein, dann gibt sie dem Stoff ihren verschiedenen geistigen Gehalt, macht sie jeder Ausdehnung unfähig und zum Träger der geistigen Gehaben. Wird der Stoff von der körperlichen Form gestaltet, dann ist damit seine Geistigkeit ausgeschlossen und es erfolgt seine Ausdehnung auf einzelne Teile. (Fs)

194a Bei den Gegnern der Zusammensetzung der geistigen Wesenheiten, besonders bei Thomas von Aquin, gilt der Stoff als reine Anlage, als etwas noch nicht Seiendes und den Dingen noch nicht vorauf Existierendes. Thomas sieht im Stoff einen nur den körperlichen Dingen zukommenden Wesensbestandteil, der in sich ohne jede Form ist und keine artliche Körpernatur besitzt. Allerdings bezeichnet er auch einmal die Empfänglichkeit, die Potenz in der geistigen Substanz als Stoff, betont aber zugleich, es sei eine uneigentliche Redeweise. Diese Verschiedenheit der Stoffauffassung bei beiden Richtungen liegt in den grundverschiedenen philosophischen Voraussetzungen. Die Vertreter des geistigen Stoffes stehen auf augustinisch-neuplatonisch-arabisch-jüdischer Grundlage. Thomas dagegen auf aristotelischer. Neuplatonisch-augustinische und aristotelische Denkweise messen sich hier. Der ersteren entspricht die Betonung der absoluten Einfachheit Gottes, indem sie ihr die stoffliche Bestimmtheit alles Geschaffenen, auch der Geistwesen entgegensetzen. Ihr ist der Urstoff etwas bereits Erfülltes, wenigstens mit einer allgemeinen Form Behaftetes, aus dem dann durch Hinzutreten der Elementarformen die Einzelkörper entstehen. Für die letztere Denkweise ist der Stoff etwas rein Anlagehaftes, noch nicht Seiendes, das Schwächste, Unvollkommenste, nahe beim Nichts liegende, den Dingen nicht vorausexistierende Sein, das sich unmittelbar mit der Wesensform verbindet. (Fs)

194b Bei aller Verschiedenheit der philosophischen Grundlagen und der Annahme bzw. Ablehnung des geistigen Stoffes sind beide Richtungen in der dogmatischen Stellung einig. Beiden gelten Engel und Menschenseele einfach, geistig und unsterblich. Allerdings ist diese Einfachheit keine absolute; eine solche kommt nur Gott zu. Bei der näheren Deutung dieser relativen Einfachheit gehen beide auseinander. Während Thomas und seine Anhänger in der Wesensordnung der geistigen Substanzen nur die Zusammensetzung aus Wesenheit und Dasein, höchstens noch aus Wesenheit und Selbständigkeit zulassen, vertreten die Freunde des geistigen Stoffes noch eine Zusammensetzung aus Stoff und Form. Die Auffassung vom geistigen Stoff im Wesensaufbau der geistigen Substanzen hielt sich in der katholischen Theologie bis zum Beginn der Neuzeit. Seither ist sie aufgegeben und die Lehre des hl. Thomas die allein maßgebende. (Fs)

Kommentar (21.03.11): Zu den Absätzen oben; nicht uninteressant, obwohl der Verfasser eine Thomas nicht adäquate Auffassung von Sein vertritt, etwa wenn er von der Zusammensetzung aus Wesenheit und Dasein spricht.

195a Vgl.: E. Filthaut, Roland von Cremona etc., Vechta 1936, 97; g. Kledneidam, Das Problem der hylomorphen Zusammensetzung der geistigen Substanzen im dreizehnten Jahrhundert, behandelt bis Thomas von Aquin, Breslau 1930; M. Wittmann, Die Stellung des hl. Thomas von Aquin zu Avencebrol, Bäumker, Beiträge, Münster 1930. (Fs)

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