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Autor: Biffi, Giacomo

Buch: Sehnsucht nach dem Heil

Titel: Sehnsucht nach dem Heil

Stichwort: Eschatologie - Gericht (zu richten die Lebenden und die Toten); skandalöses Schweigen (Gerechtigkeit); Gericht (Druck der Absurdität); Richter (At: Gott, NT: Christus); Universalität des Gerichts

Kurzinhalt: Diese Unstimmigkeit zwischen Wahrheit und Schein erreichte in dem Augenblick den Höhepunkt ... als der Sohn Gottes getötet wurde... Die Mauern des Scheins stürzen ein, und jeder wird sichtbar in seiner Wahrheit - nicht vor Gott, denn vor Gott steht er ...

Textausschnitt: 2. ... zu richten die Lebenden und die Toten

194a Unsere Begegnung mit Christus hat grundlegende Bedeutung für uns, denn sie wird unser Richterspruch sein. "Und er hat uns geboten, dem Volk zu verkündigen und zu bezeugen: "Das ist der von Gott eingesetzte Richter der Lebenden und der Toten" (Apg 10,42). Petrus spricht mit diesen Worten eine Grundwahrheit der christlichen Botschaft aus: Wir wissen nicht nur, daß der Herr Jesus die Geschichte der Welt und die Geschichte jedes einzelnen Menschen abschließen wird, sondern wir wissen auch, daß seine "Parusie" ein Gericht sein wird und daß er als Richter kommen wird. Am Ende von allem wird jeder von uns unweigerlich mit dem Auferstandenen zusammentreffen, und in dieser Begegnung wird jeder von uns nach seinem wahren Wert beurteilt und offenbar werden. (Fs)

Ein skandalöses Schweigen

194b Das Thema des Gerichtes — das ist zu beachten — kommt einem tiefen Bestreben des Menschen entgegen. Denn eine der tiefsten Ursachen des Mißbehagens, das auf dem menschlichen Dasein lastet, ist die Abwesenheit eines transzendenten Gerichts. Der Mensch kann gut oder böse handeln; er kann hochherzig oder grausam, barmherzig oder egoistisch sein, er kann die Wahrheit und Gerechtigkeit hochhalten oder Zyniker und Lügner sein. So gesehen scheint negatives Verhalten keine schwerwiegenden Konsequenzen zu haben. Deshalb überzeugt keine der moralisierenden Darstellungen, am wenigsten übrigens jene ohne Gott, weil sie alle dadurch widerlegt werden. Gutes oder böses Handeln scheint in dieser Welt keine signifikant unterschiedlichen Folgen zu haben. Der Tod ist eine Katastrophe, der "den ganzen Rasen gleichmacht" (um mit Manzoni zu sprechen), das heißt, daß es angesichts des Ereignisses "Tod", menschlich gesprochen, unerheblich ist, ob man gut oder böse war. Wenn man vor allem schlau genug war und sich nicht in den weiten und oft launischen Maschen des menschlichen Gesetzes verstrickt hat, ergeben sich meist keine allzu großen Nachteile für den Fall, daß man vom Weg der Rechtschaffenheit abgewichen ist. (Fs)

195a Es ist schon wahr, daß Diebe bestraft werden, aber eben nur in geringem Maß. (Die menschliche Gerichtsbarkeit hat nämlich einige wahrhaft christliche Überzeugungen übernommen, wie die Achtung des Schuldigen und seine Wiedereingliederung, vernachlässigt aber darüber zwei wesentliche Aspekte: die Würde des Unschuldigen und die Solidarität mit dem Opfer. In unserer Gesellschaft gibt es keine Solidarität mit den Opfern, keinen sozialen Mechanismus, der sie entschädigen würde. Aber das ist ein Problem, das vom hier behandelten Thema abweicht.) Die Schlauen kommen im allgemeinen gut davon. Und das ist schon etwas Bestürzendes. Aber das Bestürzendste auf religiöser Ebene ist, daß Gott angesichts des gesetzwidrigen Verhaltens der Menschen meist schweigt, und sein Schweigen - seine scheinbare Gleichgültigkeit dem Guten und dem Bösen gegenüber - empört uns: "Warum siehst du also den Treulosen zu und schweigst, wenn der Ruchlose den Gerechten verschlingt?" (Hab 1,13). (Fs) (notabene)

Dann gibt es noch die unredlichen Augen der Welt, weshalb die Menschen selten für das gehalten werden, was sie sind. Die Werte sind gleichsam verkleidet, so daß man schwerlich sagen kann, wo wahrhaftig das Gute und wo das Böse ist. Es gibt herausragende Personen, die Bösewichte zu sein scheinen. Oder Personen, die wir zu meiden suchen, die aber vielleicht Fürsten im Himmelreich sind. Warum das? Warum dieser Betrug?
Simonides sagte: "Der äußere Anschein der Dinge vergewaltigt auch die Wahrheit."
195b In einer Welt, in der das Gute und das Böse, das Wahre und das Falsche, das Volle und das Leere scheinbar nicht voneinander zu unterscheiden sind, wird der Zustand des Menschen zur Absurdität. (Fs) (notabene)

Das Gericht

195b Die göttliche Offenbarung löst diesen Druck der Absurdität und befreit uns davon, indem es gerade von einem "Gericht" spricht, durch das die Wahrheit und die Gerechtigkeit wiederhergestellt werden. Ein Gericht, das es offenbar in der weltlichen Wirklichkeit nicht geben kann, weil sie, für sich allein betrachtet, ohne Hoffnung ist, die ihr aber dann von oben geschenkt wird. (Fs)

196a Wer in dieser Welt Gerechtigkeit sucht, wird enttäuscht werden. Gewiß, man muß sie suchen, aber in dem Bewußtsein, daß wir sie in dieser Welt nicht finden werden. (Fs)
Wer erinnert sich nicht an die ironische und bittere Bemerkung Manzonis, als Renzo angesichts der Pflichtverletzung von Don Rodrigo beabsichtigt, diesen zu töten? Renzo war so aufgebracht, daß er im Haus umherging und sagte: "Endlich gibt es auf dieser Welt Gerechtigkeit." Und Manzoni bemerkt: "Wahrhaftig, wenn einer außer sich ist, weiß er nicht mehr, was er spricht." (Fs)

Das Gericht wird deshalb ein Eingreifen in die Geschichte sein, ein Eingreifen Gottes, der gerecht ist und Gerechtigkeit erheischt, der auf diese Weise endlich sein Schweigen brechen und seine scheinbare, aber zugleich bestürzende Neutralität ablegen wird. Das ist eine Überzeugung, die in der jüdischen Welt schon seit der Zeit der großen prophetischen Schriftsteller (Amos, Hosea, Jesaja, Jeremia, Zefanja) lebendig ist und nach dem Exil (Joel, Daniel) immer deutlicher und verständlicher zutage tritt. (Fs)

Das Neue Testament hat die Neuheit gebracht, daß der Richter mit dem gekreuzigten und auferstandenen Jesus identisch ist, der die Welt schon durch das Osterereignis gerichtet hat und seinen Richterspruch durch seine "Parusie" verkünden wird. (Fs)
196b Das ist nach Meinung der christlichen Urgemeinde einer der deutlichsten Beweise der Gottheit Christi. Der Richter, der im Alten Testament der Gott Israels ist, ist im Neuen Testament Christus. Und so sprechen die ersten Christen von einem "Gericht Christi", vor das wir alle gerufen werden, um unser ganzes Verhalten zu verantworten: "Denn wir alle müssen vor dem Richterstuhl Christi offenbar werden, damit jeder seinen Lohn empfängt für das Gute oder Böse, das er im irdischen Leben getan hat" (2 Kor 5,10). (Fs)

Universalität des Gerichts

196c Wir haben gesehen, daß Petrus, wenn er vom Gericht spricht, dieselben Worte verwendet, die wir im Credo wiederholen: "Er wird kommen, zu richten die Lebenden und die Toten". Diese älteste christliche Formel wurde in der Urgemeinde allgemein verwendet. Was bedeutet diese Formel? Sie ist wörtlich zu verstehen: Man will damit sagen, daß Jesus nicht nur diejenigen richten wird, die er bei seinem Kommen lebend antreffen wird, sondern auch alle Menschen, die in der Vergangenheit schon gestorben sind. Man will ganz einfach sagen, daß die ganze Menschheit ohne Ausnahme gerichtet werden wird, und verwendet deshalb jenen semitischen Doppelbegriff für Gesamtheit, der durch die getrennte Aufzählung der einzelnen Teile das Ganze angibt (z. B. "Himmel und Erde", um zu sagen "alles"). (Fs)

197a Die Offenbarung sagt uns, daß neben der Universalität der Personen auch eine Universalität der menschlichen Handlungen besteht: Nichts von dem, was menschlich ist, wird dem Urteil des Richters entgehen. Man wird keine leeren Phrasen vorbringen dürfen ("nicht derjenige, der sagt: Herr, Herr ...", Mt 7,21-23), sondern die vollbrachten Werke vorstellen müssen (Mt l6,27; Röm 2,6; 2 Kor 5,10). Aber wir werden nicht nur auf Grund der Werke, sondern auch auf Grund der Worte gerichtet (Mt 12,36), ebenso auf Grund der Unterlassungen (in Mt 25,35-46: "Ich war hungrig, und ihr habt mir nicht zu essen gegeben", usw. werden die Unterlassungen verurteilt) und der geheimen Gedanken (J Kor 4,5). (Fs)

Die Natur des Gerichts

197b Wie wird dieses Gericht vor sich gehen? Was sagt die Offenbarung darüber? In der Bibel finden wir einige Hinweise, die das Bild des Gerichts in einen Rahmen stellen, der schon immer die Phantasie angeregt hat, aber um seines wahren Inhalts willen auch in jenen pittoresken Einzelheiten gedeutet werden muß. (Fs)

Der Prophet Joel legt das Gericht in ein geheimnisvolles "Tal Jochafat" (Joel 4,2), das später - vom 4. Jh. n. Chr. an - mit dem Kidrontal südostlich des Tempelberges identifiziert wurde. Araber und Juden wollen auch heute auf der einen und anderen Seite des Tales beerdigt werden, um für den jüngsten Tag gerüstet zu sein. Aus der Zusammensetzung der Bezeichnung geht ganz klar ihr Symbolcharakter hervor: "Joschafat" bedeutet: Jahwe richtet. Übrigens verwendet derselbe Prophet später im Text eine andere bedeutsame Bezeichnung: "Tal der Entscheidung" (Joel 4,14). Das ist keine geographische Angabe. Das Tal Joschafat ist das Gericht. (Fs)

197a Daniel beschreibt eine wahre Gerichtsverhandlung mit einem Richter, einem Gerichtshof und Aktenbündeln (Dan 7,9-10). (Fs)

198a Diese Vorstellung wird bis zur Verkündigung Jesu beibehalten, auch wenn sie von anderen Sinnbildern überlagert wird. Das heißt, daß es sich um bildhafte Vorstellungen handelt, wie die des Hirten, der am Abend seine Herde überprüft und die Schafe von den Böcken scheidet (Mt 25,31-46). (Fs)

Ist es abgesehen von phantasievollen Einzelheiten möglich, nachzuweisen, wie unser Gericht tatsächlich verlaufen wird? Wir meinen ja, wenn wir unsere anfänglichen Überlegungen zu diesem Thema berücksichtigen. (Fs)

In unserer Welt stimmen ja die wirklichen Werte keinesfalls mit ihrem Anschein überein, so daß es meist nicht möglich ist, Menschen und Dingen den Wert beizumessen, den sie vor Gott haben. Diese Unstimmigkeit zwischen Wahrheit und Schein erreichte in dem Augenblick den Höhepunkt - und wurde angeprangert -, als der Sohn Gottes getötet wurde, als er, der unsere "Gerechtigkeit, Heiligung und Erlösung" (1 Kor 1,30) war, "sich unter die Verbrecher rechnen ließ" (Jes 53,12). Die Hinrichtung Jesu außerhalb des Jerusalemer Tores, das heißt "außerhalb des Weinbergs", der sein Erbteil war (vgl. Mk 12,8; in dem Gleichnis wird der Sohn außerhalb vom Weinberg getötet), stellt die Niederlage Gottes dar, der heute scheinbar aus der Welt, die sein ist, ausgeschlossen wird. Tatsächlich ist die Tötung des Sohnes Gottes außerhalb der Stadt tragisches Bild und Wirklichkeit des Ausschlusses Gottes aus der Welt — gerade heute: Die Menschen versuchen Gott auszuschließen. (Fs) (notabene)

Gott ist unterlegen, und das nicht so sehr dem Menschen gegenüber, der sündigt, sondern vielmehr dem Menschen gegenüber, der sündigt und zugleich schön, stark, glücklich und zufrieden zu sein scheint. Hingegen begegnet derjenige, der versucht, sich dem Willen des Vaters entsprechend formen zu lassen, Spott, Leiden, Verfolgung und Tod und hat dadurch am Geheimnis der Niederlage seines Schöpfers teil. Wir sind Augenzeugen dieser Tragödie der Niederlage Gottes, und haben als Christen an dieser Tragödie teil. Das für den endgültigen Zustand zu halten, wäre völlig absurd und unannehmbar. (Fs) (notabene)
198b Der Augenblick des Gerichts ist gerade das Ende dieses unsinnigen und blasphemischen Zustandes. Das Gericht wird deshalb hauptsächlich in dem plötzlichen Zerreißen des äußerlichen Schleiers bestehen, so daß die ganze Schöpfung so "nackt und bloß" vor aller Augen liegt, wie sie schon immer nackt und bloß vor den Augen Gottes liegt (Hebr 4,13). (Fs) (notabene)

199a Der Posaunenschall am Ende - eine Besonderheit, die in allen biblischen Beschreibungen des Endgerichts erscheint (Mt 24,31; 1 Kor 15,22; l Thess 4,15; Offb 11,15) -wird die Bühne dieser Welt einstürzen lassen, wie Josuas Hörnerklang die Mauern von Jericho einstürzen ließ (Jos 6,20), und jeder wird sichtbar werden mit seinem inneren Reichtum und seiner inneren Armut. (Fs)

Die Mauern des Scheins stürzen ein, und jeder wird sichtbar in seiner Wahrheit - nicht vor Gott, denn vor Gott steht er schon in seiner Wahrheit, sondern vor allen andern. Und vor sich selbst, denn niemand von uns kann sich wirklich ernsthaft beurteilen. Im Matthäusevangelium, Kap. 25, ist hauptsächlich vom Staunen, von der Verwunderung die Rede. Alle staunen, sowohl die guten, die nicht gemerkt hatten, das sie gut waren, als auch die Bösen, die nicht gemerkt hatten, daß sie böse waren. Das Staunen erwächst aus dem Zusammensturz der Mauern des Scheins, die das wahre Gesicht der Dinge verhüllten. Und was wird beim Einsturz der Mauern erscheinen?

Der Erste, der "offenbar" werden wird, ist Christus, das Haupt des Universums und die Mitte der Menschheitsgeschichte, der bis dahin verborgen und von der Nichtigkeit der Welt beinahe überwältigt worden war. Und jeder Mensch wird plötzlich ohne die Maske, die jede wahre Prüfung verhinderte, in seiner Nähe zu ihm oder in seiner Ferne zu ihm erscheinen: Das wird das Gericht sein. Jesus wird also der einzige Bezugspunkt sein, nach dem alles gemessen wird. Deshalb wird er der "Richter" sein. (Fs)

"Der Mensch ist das Maß aller Dinge", sagte Protagoras; (ein Satz, der durch die letzte Rede Mussolinis berühmt geworden ist, der sie Anaxagoras zuschrieb mit den Worten: "Verzeiht meine Gelehrsamkeit"); wohingegen Platon sagt: "Nein, Gott ist das Maß aller Dinge." Das Christentum sagt: "Christus ist das Maß aller Dinge." Thesen, die stets unvereinbar schienen. (Fs)

199b Wenn also Christus das Maß aller Dinge ist, wenn er dann endlich vor allen erscheinen wird, wird alles beurteilt werden. Christus wird der einzige Bezugspunkt sein, nach dem alles bemessen wird. Wir werden sehen, ob wir ihm nah oder fern stehen. Das wird das Gericht sein. Es wird keiner Fragen bedürfen, denn es wird ganz einfach sein. (Fs)

200a Dann wird endlich die Kehrseite unserer Lebensgeschichte sichtbar werden, und man wird die Güte, die Harmonie, die Weisheit des Planes in seiner ganzen Fülle betrachten, den Gott zur Vollendung geführt hat; den Plan, den wir heute in den Wechselfällen der Geschichte ohne einen festen Glauben schwerlich wahrnehmen können. (Fs)

Wahr bleibt auch Shakespeares Intuition, wonach die menschliche Geschichte "ein Märchen ist, das von einem Irren erzählt wird". Im Menschenschicksal scheint es keine Logik zu geben, aber die Logik ist da. Wir können sie nicht sehen, weil wir gewissermaßen auf der anderen Seite der Stickerei stehen: Die Fäden scheinen ins Absurde zu laufen. (Fs)

Wodurch wird in Wirklichkeit die Nähe oder die Ferne von Christus bestimmt? Mit anderen Worten, nach welchem Gesetz werden wir gerichtet?
Wir werden sicher nicht nach unserer Stellung beurteilt. Es ist uninteressant, ob wir im Welttheater den König oder den Bettler, den Kardinal oder den Meßdiener gespielt haben. Entscheidend ist, daß wir unsere Rolle gut gespielt haben. Wie in den Komödien, wenn einer in der Rolle des Bettlers gut war, bekommt er mehr Applaus als derjenige, der die Rolle des Königs schlecht gespielt hat. Wonach werden wir also gerichtet werden? (Fs)

200b Gewiß werden wir nach unserer Treue gegenüber dem Gesetz Gottes gerichtet werden, denn Jesus hat den Dekalog nicht abgeschafft. Er bleibt die Verhaltensregel für die Menschen aller Zeiten. Aber weil der Herr selbst gesagt hat, daß Gottes Gesetz als Vervollständigung, als Wesenskern die Liebe Gottes über jede andere Liebe und als konkrete Verwirklichung der Liebe zu Gott die Liebe zum Nächsten hat, können wir wohl sagen, daß "wir am letzten Tag - so der hl. Johannes vom Kreuz - nach der Liebe gerichtet werden" (vgl. Mt 25,31-46). (Fs)

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