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Autor: Biffi, Giacomo

Buch: Sehnsucht nach dem Heil

Titel: Sehnsucht nach dem Heil

Stichwort: Eschatologie - Kritik an Mythen (Antinomien, Notwendigkeit einer Offenbarung); Mythos d. Kreises, Fortschritts (Flucht), Todes (Nichts, Summen vieler Nullen)

Kurzinhalt: Der Mythos des Fortschritts: Der unbegrenzte Fortschritt ist ein Fortschritt ohne Ziel. Und wenn er ohne Ziel ist, sind Fortschritt und Rückschritt Begriffe, die verschwimmen ... [Tod ] Wenn das Ziel das Nichts ist, dann ist die Substanz des Daseins ...

Textausschnitt: 3. Kritik an den "Mythen". Notwendigkeit einer Offenbarung

183b Keiner dieser Mythen darf erwarten, von uns angenommen und verehrt zu werden. (Fs)

Der Grund dafür liegt in der widersprüchlichen Natur des Mythos, der sich nicht als Gabe einer Offenbarung von oben, sondern als Produkt des Menschen präsentiert und verkaufen möchte. Der Mensch ist scheinbar dazu in der Lage, ihn sich auszudenken, aber unfähig, ihn zu beweisen oder zu überprüfen. Hier liegt also von Grund auf ein methodologischer Widerspruch vor. (Fs)

Antinomie der Mythen

184a Jeder der eschatologischen Mythen zeigt dann in seinem Kern unlösliche Antinomien. (Fs)

Der Mythos des Kreises: Wenn es kein Ziel gibt, sondern nur eine ständige Kreisbewegung, warum hat sich dann die Geschichte der Welt in Bewegung gesetzt? Es sei denn, das Universum ist ein Spielzeug, wie die Eisenbahnzüge unserer Kinder, das von einer irrsinnigen und grausamen Gottheit zu ihrem Vergnügen erdacht und gewollt ist. (Fs)

Der Mythos des Fortschritts: Der unbegrenzte Fortschritt ist ein Fortschritt ohne Ziel. Und wenn er ohne Ziel ist, sind Fortschritt und Rückschritt Begriffe, die verschwimmen und ruhig ausgewechselt werden können. Wenn ich in einem Zug sitze, kann ich auf die Frage "Fährt der Zug vorwärts oder rückwärts?" nur dann antworten, wenn ich weiß, wo der Ausgangspunkt und wo die Endstation ist. Weiß ich das nicht, kann ich auch nicht sagen, ob der Zug vorwärts oder rückwärts fährt. Wenn es kein absolutes Gutes und keine absolute Glückseligkeit gibt, wo die Fahrt und der Fortschritt enden, wie weiß man dann, daß man "fortschreitet"? Es wäre dann weniger ein Fortschreiten als vielmehr eine Flucht vor dem augenblicklichen Zustand, der in seiner Endlichkeit wahrgenommen wird. Das scheint gerade das Los des Menschen zu sein. Der Mensch braucht die Veränderung. Auch wenn es ihm gut geht, will er die Abwechslung. Die sich ständig wiederholendenden Dinge langweilen ihn. Das ist eine Flucht. Aber der Ausweg aus dieser Situation garantiert uns noch nicht, daß wir unsere Lage wirklich verbessern. (Fs) (notabene)

184b Ehrlich gesagt, dieser "Fortschrittsglaube", der vielleicht noch unter den Leuten fortlebt, die weniger zum selbständigen Denken fähig sind, wird heute in allen Bereichen erschüttert. Viele Menschen fürchten heute die Übel, die uns in Bezug auf Sicherheit, Ökologie, soziales Zusammenleben und von Seiten der unkontrollierten Entwicklung von Wissenschaft und Technik auferlegt werden. In der Tat war die Fortschrittsidee mit großem Optimismus hinsichtlich der Errungenschaften von Wissenschaft und Technik verbunden. Heute sind es gerade diese Errungenschaften, die in uns solche Befürchtungen wecken, daß man den Untergang heraufbeschwört. (Fs)

185a Viele zweifeln auch daran, daß wir in nächster Zukunft eine Gesellschaft mit besserer Lebensqualität zu erwarten haben. Nicht nur ältere, auch junge Menschen sind unsicher geworden. Das ist eine der Wahrnehmungen, die in der heutigen Welt am stärksten zu spüren sind. (Fs)

Der Mythos des Todes ist der schrecklichste, aber von der Vernunft her auch der zäheste. Um weiterzuleben, muß er die vollkommene Sinnlosigkeit von allem predigen. Der einfache Mensch mag sich angesichts der hellsichtigen Folgerung Leopardis fragen: Wenn die Dinge das Sterben zum Ziel haben und sie dazu aus dem Nichts hervorgegangen sind, warum sind sie dann nicht im Nichts geblieben? Wer an diesen Mythos glaubt, muß daraus schließen, daß alles sinnlos ist: Wenn das Ziel das Nichts ist, dann ist die Substanz des Daseins schon jetzt das Nichts. Das ist entscheidend: Wenn ich davon überzeugt bin, daß für mich nach dem Tod das Nichts ist, ist das nicht nur eine Antwort auf das, was nach dem Tod kommen wird, sondern eine Antwort auf die Lebensweise. Das heißt, daß ich schon jetzt für das Nichts lebe. Wenn ich im Nichts enden soll, lebe ich für das Nichts. Und das ist eine vollkommene Sinnlosigkeit. Was die Bestimmung des Einzelnen betrifft, meine ich ganz klar sagen zu dürfen, daß diese Mythen, wenn sie zu meiner Beruhigung erdacht sein sollten, ihren Zweck völlig verfehlt haben. Wenn wir uns nichts vormachen wollen, müssen wir sagen, daß jede Hypothese, die mein persönliches und bewußtes Weiterleben ausschließt, für mich unannehmbar ist. Daß sich jemand für das zukünftige Wohl meiner Mitmenschen opfert, kann ich zwar für schön und gut halten, (was den Vorzug des Edelmuts hat, und es hat solche Märtyrer gegeben, z.B. Märtyrer des Kommunismus), aber im letzten doch nur unter der Voraussetzung, daß meine Mitmenschen, für die mich hingebe und für die ich mich zunichte mache, nicht selber Geschöpfe sind, die persönlich doch nur wieder zum Untergang bestimmt sind. Andernfalls scheinen mir alle Verbrüderungen, von denen es hieß, sie seien der Selbstlosigkeit und Hingabe fähig, wie die "Klasse", das "Vaterland", die "Menschheit" eine riesengroße Summe von Nullen, die es nicht wert sind, daß man sich für sie opfert. (Fs)

185a Wenn ich als Mensch im Nichts ende und alle anderen im Nichts enden, dann sind diese Verbrüderungen null, weil sie die Summen vieler Nullen sind. Sie haben theoretisch nur dann Wert, wenn sie nicht doch zunichte werden. (Fs)

186a Infolgedessen könnte ich den Mythos des Todes für mich nur dann akzeptieren, wenn er der unanfechtbaren Wahrheit entspräche. Wenn er Frucht einer logischen, ernsthaften, überzeugenden Beweisführung wäre, könnte ich sagen: Er ist eine unangenehme Sache, aber ich akzeptiere ihn. Aber ohne stichhaltige Beweise könnte ich ihn mir nie selbst vortäuschen. Wenn schon ein Märchen, dann würde ich mir etwas Besseres ausdenken. Wenn sich die Menschheit eine unvernünftige Antwort auf die eschatologische Frage ausdenken soll, dann ist es besser, eine tröstlichere Fabel zu erfinden. Vorausgesetzt, wiederhole ich, daß dieser Mythos nicht unanfechtbar nachgewiesen wurde, was tatsächlich nicht der Fall ist. (Weiß jemand, was im Jenseits ist?)

Wenn der Mensch allein und von sich aus eine Antwort auf das eschatologische Problem geben wollte, hat er am Ende immer Behauptungen aufgestellt, die manchmal widersprüchlich, gewöhnlich unschön, in jedem Fall aber willkürlich waren. (Fs)

Der Ruf um Hilfe von oben

186b Nachdem alle unsere Möglichkeiten erschöpft sind, bleibt uns nichts anderes übrig, als Hilfe von oben zu erhoffen. Platon hatte bereits mit prophetischem Weitblick festgestellt, daß "im Hinblick auf dieses Problem nur eines zu tun bleibt: Entweder sich von den anderen sagen lassen, wie die Dinge stehen, oder es von allein entdecken, oder, wenn das nicht möglich ist, die beste und am wenigsten anfechtbare menschliche Idee akzeptieren und sich auf dieser wie auf einem Floß treiben lassen. Dabei riskiert man auf der Überfahrt das Leben. Außer man macht die sicherere und weniger gefährliche Überfahrt auf einem festeren Boot, das heißt auf dem der göttlichen Offenbarung" (Phaidon, c. 35). (Fs)

186c Ich glaube, daß das ein sehr vernünftiger und klarer Ansatz ist und das beste, was der Mensch zu erwarten hat. Nun haben wir, wenn auch ziemlich oberflächlich, nachgeforscht und den Untergang aller "Flöße" festgestellt. Jetzt wollen wir sehen, ob tatsächlich ein "sichereres Boot" existiert und ob es uns gegeben ist. (Fs)

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