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Autor: Biffi, Giacomo

Buch: Sehnsucht nach dem Heil

Titel: Sehnsucht nach dem Heil

Stichwort: Eschatologie - Mythen; Begriff: Mythos; M. des ewigen Kreislaufs, der Seelenwanderung, des Fortschritts, des Untergangs (der Tod als Nichts)

Kurzinhalt: Sowohl der Marxismus als auch die Mentalität und Praxis der dem Kapitalismus zugrundeliegenden Philosophie stimmen in der Verehrung dieses Mythos überein, der das eschatologische Problem ebenfalls dadurch löst, daß er es verneint.

Textausschnitt: 2. Die eschatologischen "Mythen"

180b "Mythos" ist ein Modewort, das die zeitgenössische Kultur allerdings in einem anderen Sinn verwendet als gewöhnlich. Unter Mythos verstehen wir hier, um es klarzustellen, eine existentiell bedeutsame Überzeugung, die zwar keine ausreichende Vernunftgrundlage hat, aber doch von der Gemeinschaft einhellig akzeptiert wird, und dort die heilsame Rolle der Wahrheit übernommen hat. (Fs) (notabene)

Was das eschatologische Thema betrifft, können Mythen jede weitere Suche verhindern. Der Mensch tut sie dann als sinn- und hoffnungslos ab, selbst wenn sie ihm eigentlich angebracht erscheint. Insofern ist es klar, daß erst einmal alle Mythen aus dem Weg geräumt werden müssen, wenn man wirklich in der Erwartung leben und die eschatologische Frage wachhalten will.

180c
a) Der erste Mythos ist der des ewigen Kreislaufs. Er ist charakteristisch für die griechische Welt, die ganz von dem Gedanken der ewigen Wiederkehr beherrscht wird: Die Weltgeschichte verläuft in mehr oder weniger breiten, mehr oder weniger nachweisbaren Zyklen, die immer zu demselben Punkt zurückführen. Alles vergeht und alles kehrt wieder. Die Menschheit folgt denselben Gesetzen des Kosmos, in dem die Bewegungen der Sonne, des Mondes, der Sterne und der Jahreszeiten immer wieder von vorne anfangen. In dieser Weltsicht, in der kein wahres Ende der Welt Platz hat, gibt es natürlich gar kein eschatologisches Problem. Diese Hypothese scheint völlig unvernünftig, ist aber nicht ganz wirklichkeitsfremd. Wenn man davon ausgeht, daß die Naturphänomene (die Tage, Jahreszeiten usw.) einem bestimmten Zyklus folgen, dann ist es nicht unsinnig, an einen noch größeren Kreislauf zu denken, dessen volle Ausdehnung wir gar nicht erkennen, weil wir nur ein Segment von ihm erfassen. Aus dieser Erfahrung ist die Überzeugung vom ewigen Kreislauf entstanden. (Fs)

181a
b) Dem kosmischen Mythos des ewigen Kreislaufes ähnlich und geistesverwandt ist der Mythos der Seelenwanderung, der das Schicksal des einzelnen Menschen betrifft. Demnach wandert die Seele; das heißt, das geistige und ewige Prinzip des Menschen geht über in einen anderen Körper, in dem sie ein neues Dasein beginnt. Man kann sehen, daß auch hier alles wiederkehrt, zumindest solange das Gesetz der Seelenwanderung sich fortsetzt. (Fs)

Wenn man aus diesem Kreislauf ausscheidet, gelangt man an ein Ziel, und es bietet sich eine andere Möglichkeit, aber solange man im Bereich der Seelenwanderung bleibt, ist alles ständige Wiederkehr. (Fs)

c) In der westlichen Gesellschaft der letzten Jahrhunderte herrscht jedoch der Mythos des Fortschritts vor. "Man muß eine gewisse fortschreitende und im höchsten Sinn freie Entwicklung des ganzen Universums anerkennen", urteilte Leibniz. (Fs)

Nach ihm wurde die Idee, daß die Menschheitsgeschichte unter immer besseren Bedingungen und auf einen immer größeren, ja vollständigen Besitz des Wahren und Guten zugeht, ein außerkirchliches Dogma. Es fand Anhänger in allen Kreisen, auch in denen, die sich aus ganz anderen Gründen heftig dafür einsetzten, angefangen von der Französischen Revolution bis zum Ball im Excelsior, wo man das 20. Jahrhundert mit großen Erwartungen eröffnete, die aber später mehr oder weniger enttäuscht wurden. (Fs)

181b Im Rahmen des eschatologischen Problems wird dieser Fortschrittsglaube absolut gesetzt. Aber auch unter dem Volk war diese Überzeugung besonders im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts weit verbreitet. Man hielt nicht nur im Wissensbereich einen Fortschritt der menschlichen Gesellschaft für möglich. Schon Duns Scotus hatte gesagt, daß "die Erkenntnis der Wahrheit in den aufeinanderfolgenden menschlichen Generationen ständig zugenommen hat". Um ihre Situation gegenüber dem Altertum zu beschreiben, zogen die Menschen des Mittelalters einen herrlichen Vergleich (der anscheinend auf Bernhard von Chartres zurückgeht, aber so oft wiederholt wurde, daß man schon nicht mehr weiß, wem er ursprünglich zuzuschreiben ist): "Sie waren Riesen, wir sind Zwerge, aber wenn wir ihnen auf die Schulter steigen, können wir besser sehen als sie." Das bedeutet ein Fortschreiten in der Erkenntnis. Aufgrund dieser Befindlichkeit des Menschen und seines Strebens nach Glückseligkeit hat man der Fortschrittstheorie entsprechend an eine ständig zunehmende Verbesserung ohne Grenzen zu glauben. Sowohl der Marxismus als auch die Mentalität und Praxis der dem Kapitalismus zugrundeliegenden Philosophie stimmen in der Verehrung dieses Mythos überein, der das eschatologische Problem ebenfalls dadurch löst, daß er es verneint. Wenn der Fortschritt wirklich unbegrenzt ist, kann offenbar von einem Ende im wahren Sinn des Wortes keine Rede sein. (Fs)

182a
d) Auf individueller Ebene ist der Fortschrittsmythos oft mit dem des totalen Einsatzes für das Kollektiv verbunden. Danach wird dem Menschen, der nach seiner Bestimmung und dem Sinn seines Lebens fragt, als Antwort der Kult der künftigen Gesellschaft, der Sieg der Klasse oder das Wohlergehen der Menschheit angeboten. Hier hat der Fortschrittsmythos Eingang in eine materialistische oder zumindest diesseitige Mentalität gefunden. Aber das verträgt sich eigentlich nicht: Was soll das für ein Fortschritt sein, wenn alles in der Katastrophe des Todes endet? Das Hindernis umgeht man, indem man sagt: Für den einzelnen mag es die Katastrophe geben, aber sie dient dem Wohl der gesellschaftlichen Klasse und damit der zukünftigen Gesellschaft. Die Sonne der Zukunft tröstet und belohnt mich für meinen persönlichen Untergang, auch wenn sie mich nicht bescheinen kann. Wer diese Religion, auf die sich Millionen von Personen gestützt haben, begeistert annimmt, braucht sich nicht zu fragen, was nach ihm kommt. Für ihn als Person wird nichts da sein, und das soll ihn nicht ängstigen, denn wichtig ist nur der verbesserte Zustand der Gemeinschaft. (Fs)

182b Er hat deshalb keine Hoffnung auf ein Weiterleben als diese: daß sein Dasein, sein Denken, sein Tun, sein ganzer Wert in die schöne neue Welt von morgen eingeht. (Fs)

183a
e) Aber nicht alle aus den Gruppierungen, die gierig vom eisigen und berauschenden Wein der Aufklärung getrunken haben, ließen sich vom Fortschrittsglauben bezaubern. "Das großartige Fortschrittsglück des Menschengeschlechtes" - so Leopardi, der hier Terenzio Mamiani zitiert und belächelt, hat nicht alle berauscht. Einige haben sich sogar dem Mythos des Untergangs zugewandt (wenn man so sagen darf): Das Ende der Menschheit wird eine kosmische Katastrophe sein, die jede Lebensform und sogar jede Seinsform auslöscht. (Fs)

So betrachtet, wird der sogenannte Fortschritt nur zum beschleunigten Lauf in den Untergang. Und wenn das Ziel, der Untergang, auch der Zweck von allem ist, dann ist es der Zweck der Dinge, zugrundezugehen. "Es scheint, daß das Dasein der Dinge das Sterben zum Ziel hat. Weil das, was nicht war, auch nicht sterben konnte, sind die Dinge, die sind, aus dem Nichts hervorgegangen", schrieb Leopardi erschreckend hellsichtig (Il cantico del gallo Silvestre). Das Ziel, das uns und die Welt erwartet, ist schauerlich: "Nacktes Schweigen und tiefe Stille werden den unermeßlichen Raum füllen. So wird sich dieses wunderbare und erschreckende Geheimnis, noch bevor es offenbar und bekannt wurde, auflösen und verlieren" (ebd.). (Fs)

f) Auf individueller Ebene führt der Mythos des Untergangs offensichtlich zu der Überzeugung, daß der Tod das absolute Ende jeden persönlichen Schicksals ist: nach dem Tod das Nichts. Die eschatologische Frage wird klar und einhellig beantwortet: Die letzte Wirklichkeit, auf die mein Leben zugeht, ist das Nichts. Wohl gemerkt: nicht das Unbekannte oder Dunkle, sondern einfach das Nichts. Weil der Mythos eine dogmatische Überzeugung ist und deshalb unvereinbar mit der Unsicherheit, dem Zweifel oder der Enthaltung im Urteil, ist dieser Mythos wirklich ein fester Glaube an den Untergang. (Fs)

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