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Autor: Biffi, Giacomo

Buch: Sehnsucht nach dem Heil

Titel: Sehnsucht nach dem Heil

Stichwort: Erlösung, Erlöser? Meinung der Welt: pessimistische (Leid ist nicht zu ändern) - optimistische: Aufklärung (konservative, radikale, marxistische); innere - äußere Erlösung

Kurzinhalt: Radikale Aufklärung ... Der Mensch ist gut. Um ihn zu retten, genügt es, daß man ihn vom ganzen bösen Erbe der Vergangenheit befreit: ... Wir wundern uns dann nicht mehr, wenn wir sehen, daß die Anhänger dieser drei "Bruderschaften" reibungslos darin ...

Textausschnitt: A) Was sagen die Leute über die Erlösung?

57a
1. Die erste Stimme, die unter den "Leuten" laut wird, erkennt das "Elend" des Menschen an, meint aber, es sei nicht zu ändern. (Fs)

Der Mensch ist im Grunde ein törichtes Geschöpf und wird es immer bleiben. Der Tod ist tatsächlich der Untergang jeder Hoffnung, unsere unwiderrufliche Niederlage, das absurde Ende eines sinnlosen Lebens, und da ist nichts zu machen. Wir alle werden vom Bösen unterjocht. Wir sind Egoisten, Bösewichte, Faulenzer, und nichts kann uns ändern. (Fs)

Also gibt es das immense und universelle Anliegen der Erlösung, aber keine Erlösung. Jede andere Hypothese ist eine Illusion. Es gibt keinen Loskauf für den Menschen. (Fs)

Diese bittere, pessimistische Erkenntnis hat auch in sehr bedeutenden, klaren und inhaltsreichen Werken der italienischen Literatur, z. B. bei Leopardi, Verga und Pirandello, Niederschlag gefunden. (Fs)

57b
2. Im Gegensatz dazu können wir eine Vielfalt von Stimmen vernehmen, die anfangs ein und derselben Meinung sind, das heißt der Überzeugung, daß der Mensch von sich aus schon gut, schön und erfolgreich ist und deshalb keine persönliche Erlösung braucht. (Fs)

Von diesem anfänglichen gemeinsamen "Dogma" ausgehend, das wir "aufklärerisch" nennen möchten und das größtenteils die zeitgenössische Gesellschaftspolitik beherrscht, haben sich verschiedene "Lehren" entwickelt, die wir sozusagen im Rohzustand erfassen und ganz schematisch und theoretisch aufzählen wollen.

a) "Konservative" Aufklärung.

Der Mensch ist in Ordnung, so wie er ist, ja, er könnte gar nicht besser sein: Es bedarf keiner Änderung, weder der Herzen noch der Gesellschaft. (Fs)

57c Diese Lehre hat unter den Reichen und Privilegierten besonders viele Anhänger, wenn auch niemand mehr den Mut hat, sie zu bekennen. Aber sie ist noch in vielen Herzen verwurzelt, obwohl sie merkwürdigerweise nach außen hin oft radikale und marxistisch verbrämte Verkleidungen annimmt. Der einzige, der sich nicht maskiert und sich nicht fürchtet, seinen kapitalistischen Konservatismus öffentlich zu erklären, ist, glaube ich, Dagobert Duck. (Fs)

b) Radikale Aufklärung.

58a Der Mensch ist gut. Um ihn zu retten, genügt es, daß man ihn vom ganzen bösen Erbe der Vergangenheit befreit:
- von den feudalistischen Überbleibseln in der Staatsstruktur;
- von den mittelalterlichen Verbänden der Arbeitnehmer;
- von der althergebrachten und verdunkelten Wirklichkeitssicht, und zwar mit Hilfe der "Aufklärung" durch den Enzyklopädismus, den Rationalismus und den Szientismus;
- von den vielen Tabus, die das Leben des Einzelnen trüben und vergiften. (Fs)

Um den Menschen vom Irrtum und der Unwahrheit der Dinge zu befreien - sagten die radikalen Aufklärer des 18. Jahrhunderts, aber die Rede hat sich seitdem nicht wesentlich geändert -, genüge es, ihn das kopemikanische, darwinistische System und das dezimalmetrische System zu lehren. Um ihn von der Sünde zu erlösen, genüge es, ihm zu sagen, daß es keine Sünde gibt, höchsten Schuldkomplexe, von denen man sich befreien kann und muß. Um ihn vor dem Tod zu retten, genüge es, ihn zu überzeugen, daß das Problem des Todes ein falsches Problem ist, das man überhaupt nicht in Betracht ziehen soll. (Fs)

c) Marxistische Aufklärung. (Fs)

58b Die Menschen sind gut, ausgenommen vielleicht die Vertreter der finsteren Mächte der Reaktion. Es genügt, die kapitalistischen Strukturen umzustürzen (die allein der Sitz des Bösen sind) und den Sozialismus aufzubauen, und der Mensch wird nichts anderes mehr brauchen, um gerecht, frei und glücklich zu sein. Bei den Fragen hinsichtlich der Flüchtigkeit und Unwahrheit der Dinge, der Sünde, des Todes werden die Antworten gewöhnlich bei der radikalen Aufklärung entlehnt, mit der die marxistische Lehre sehr leicht übereinstimmt. (Fs)

58c Es ist interessant, den gemeinsamen Ursprung und den gleichen Antrieb dieser drei verschiedenen "Aufklärungen" festzustellen. Wir wundern uns dann nicht mehr, wenn wir sehen, daß die Anhänger dieser drei "Bruderschaften" reibungslos darin übereinstimmen, wenn es sich um Fragen handelt, die das Dasein des Menschen und seinen Wesenskern betreffen, z. B. Ehescheidung, Abtreibung, Euthanasie, Homosexualität, Geburtenkontrolle usw. Das veranlaßt uns zu der Meinung, daß die einzige wirklich wahre und unverrückbare Sicht das christliche Menschenbild ist, so wie die christliche Tatsache das einzige wirklich neue Ereignis der Geschichte ist. (Fs)

59a
3. Eine dritte Gruppe "weltlicher" Meinungen über die Erlösung umfaßt diejenigen, die sich bemühen, jede der bisher dargestellten Haltungen christlich zu verbrämen oder, was ungefähr dasselbe ist, manche Inhalte und Begriffe aus dem Evangelium zu entnehmen und in das eine oder andere der verschiedenen Systeme einzubauen. (Fs)

a) Da gibt es zum Beispiel denjenigen, der ohne Hoffnung lebt, aber den Glauben als eine nicht zu unterschätzende heilsame Illusion betrachtet, als eine Lebenshilfe für die schwächeren Menschen, die ohne Abschirmung nicht imstande sind, dem "scheinbar Wahren", das heißt der tragischen Absurdität des Daseins ins Auge zu blicken. (Fs)

b) Dann gibt es denjenigen, der die christliche Tatsache in den Dienst des Konservatismus stellen möchte: Das Evangelium ist für die Gesellschaft von Nutzen, weil es durch den Ausblick auf das ewige Leben hilft, jede Forderung und jeden Antrieb zur Erneuerung im gegenwärtigen Leben zu unterdrücken. (Fs)

c) Manch einer meint, die christliche Botschaft als eine Botschaft der Freiheit gemäß der radikalen Sichtweise deuten zu können, oder er legt sie als eine Überwindung aller Beschränkungen und aller moralischen Verplichtungen und endgültigen Bindungen aus. (Fs)

d) So mancher meint, als Christ "für den Sozialismus" sein zu müssen und optiert dafür, daß der Klassenkampf und die Befreiung von den äußeren Zwängen die wahre Kernbotschaft des Evangeliums sei. Um es militärisch auszudrücken: Christus wird sozusagen "rekrutiert" und nicht objektiv - abgesehen von den subjektiven Absichten - als Herr betrachtet, auf den alles ausgerichtet ist, sondern als ein "Rekrut", dem jedes Prinzip dieser Welt die eigene Uniform anziehen und die eigene Fahne anstecken möchte: Jesus Christus wird also für tauglich befunden, eingezogen und gewöhnlich nach kurzer Dienstzeit wieder entlassen. (Fs)

Kommentar

59b Insgesamt können wir, abgesehen von den verschiedenen und divergierenden Formulierungen, sagen, daß die unter den "Leuten" in Bezug auf die Erlösung gesammelten Meinungen, die oft in ein und demselben Herzen laut werden, zwischen zwei Behauptungen schwanken: Entweder ist eine wahre und wirkliche Erlösung der menschlichen Person unmöglich, oder eine wahre und wirkliche Erlösung der menschlichen Person ist überflüssig. Viele halten jedoch eine "äußere" Erlösung für möglich und notwendig, die auf einer Änderung der Strukturen und der sozialen, gesellschaftspolitischen Bedingungen hinausläuft. (Fs)
60a Alle jene, die diese äußere Erlösung für möglich und notwendig halten, sind fest davon überzeugt, daß der Mensch der einzige Erlöser seiner selbst, und kein Eingriff von oben notwendig oder möglich und im Grunde auch nicht wünschenswert ist. (Fs) (notabene)

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