Datenbank/Lektüre


Autor: Hrsg. Brandmüller, Walter; Scheffczyk, Leo; Lochbrunner, Manfred

Buch: Das eigentlich Katholische

Titel: Das eigentlich Katholische

Stichwort: Papsttum; kirchenhistorisch dauernde Notwendigkeiten: Problem der Macht; "Kanon im Kanon"; Unmöglichkeit: absolute Klarheit der Tradition; Standort jenseits d. "Modernismus" und "Fundamentalismus"





Kurzinhalt: Gerade in Krisenzeiten ... gibt es gewöhnlich zwei entgegengesetzte Weisen, wie eine christliche Kirche sich ihrer Identität vergewissern kann: die (vereinfacht gesagt) "modernistische" und die "fundamentalistische".

Textausschnitt: 236a Ich möchte hier jedoch primär von bestimmten kirchenhistorischen Erfahrungen sprechen. Es sind wiederum solche, in denen sich mir nicht rein zeitbedingte, sondern dauernde Notwendigkeiten zu spiegeln scheinen. Ich nenne hier vier:

1. Im Primat hat die katholische Kirche das Problem der Macht nicht verdrängt, sondern auf es eine Antwort zu geben versucht, und zwar nicht nur eine rein pragmatisch-politische, sondern eine theologische aus Schrift und Tradition, vom neutestamentlichen Petrusbild und der römischen Petrustradition aus. Nun zeigt die geschichtliche Erfahrung, daß das Problem der Macht sich nicht verdrängen läßt. So oder so dringt es in den Raum der Kirche ein: Im ersten Jahrtausend in der Form der kaiserlichen Kirchenherrschaft, im zweiten im Nationalkirchentum der "autokephalen" orthodoxen Kirchen, in den Reformationskirchen im landesherrlichen Kirchenregiment, dann im neuzeitlichen Staatskirchentum, heute vielleicht in neuer Form in der Herrschaft einer säkularisierten Öffentlichkeit durch die Massenmedien. Wo man sich kirchlich-theologisch weigerte, in anderen Kategorien als denen des "Dienstes" oder der "Communio" zu denken, sind dafür andere geschichtliche Mächte eingebrochen. Sofort liegt dabei freilich der Einwand nahe, daß die Ausbildung dieses innerkirchlichen "Machtzentrums" oft in theologisch sehr fragwürdiger Weise in Analogie staatlicher Herrschaft, ja als Abbild des Staates erfolgt ist. Dies beginnt bereits in der Spätantike, und der zitierte Text der Leo-Predigt ist davon nicht ausgenommen: Rom als "Haupt der Welt" (Caput mundi), das der Welt die Gesetze gibt, prägt die überlieferte römische Petrusidee um; Gesetzgebung und Regierung lösen den Zentralbegriff des "Zeugnisses" ab. Aber selbst hier kann man sich fragen: Ist nicht vielleicht diese konkrete, zentralistische und mit Rechtsansprüchen überladene Gestalt des Primates innerhalb der konkreten "Kirche der Sünder" und auch der "sündigen Strukturen" ein notwendiger Preis für einen letztlich geistlichen Wert: daß nämlich die universale Kirche kein Abstraktum bildet, daß sie vielmehr eine konkrete, verbindliche und auch fordernde Wirklichkeit bleibt, die nicht in staatliche oder nationale Ordnungen eingefügt werden kann?

237a Wenn hier davon die Rede ist, daß das Problem der "Macht" nicht verdrängt wird, dann ist damit mehr gesagt, als daß es in der Kirche Ordnung, Recht und Vollmacht gibt. Macht hat mit realer Durchsetzbarkeit (wenn auch nicht unbedingt auf der Ebene der physischen Gewalt) zu tun. Es geht um die Frage, wie eine kirchliche Instanz beschaffen sein muß, um in den realen Belastungen der Geschichte und gegen starke Widerstände die kirchliche Einheit und den überlieferten Glauben zur Geltung zu bringen. Letzten Endes zeigt sich immer wieder in der Geschichte: Wenn es hart auf hart kommt, wenn aller Dialog und alles Diskutieren nicht weiterführt, wenn es gar darauf ankommt, Verfolgung und äußerem Druck standzuhalten, dann ist für die Kirche die elementare Frage, wo der Mittelpunkt der Einheit ist, an dem sie sich letztendlich orientiert, von dem sie um keinen Preis getrennt sein will und von dem her sie ihre Identität als Kirche Christi gewinnt: im Staat, in der eigenen Nation, in der Übereinstimmung mit einem bestimmten Zeitimpuls, oder in Rom. Natürlich ist diese Identität letzten Endes Christus selbst als der Gekreuzigte und Auferstandene. Aber es entspricht der sakramentalen Struktur der katholischen Kirche, daß dies auch in einem greifbaren kirchlichen Zeichen sichtbar wird, das nicht identisch ist mit den Mächten dieser Welt und von ihnen unabhängig ist. (Fs) (notabene)

238a
2. Durch die Primatsstruktur hat die katholische Kirche eine besondere Chance, Stabilität und Tradition einerseits, Dynamik und Innovation andererseits miteinander zu verbinden. Gerade in Krisenzeiten, in denen die Identität des überlieferten Glaubens nicht mehr selbstverständlich ist, gibt es gewöhnlich zwei entgegengesetzte Weisen, wie eine christliche Kirche sich ihrer Identität vergewissern kann: die (vereinfacht gesagt) "modernistische" und die "fundamentalistische". Entweder findet man sie in möglichst reibungsloser Harmonie und Übereinstimmung mit den Wertvorstellungen und Bedürfnissen der Zeit. Oder man findet sie alleine in der eigenen Überlieferung. Das Problem ist jedoch, daß letztere, ob als Schrift oder Tradition, gar nicht die gewünschte eindeutige und einheitliche Größe darstellt. Sie ist vielfältig und widersprüchlich und darum, gerade in Momenten der Krise, selbst interpretationsbedürftig. Zwangsläufig kommt es dann zur Verengung: der Punkt, mit dem die Kirche steht und fällt, wird die buchstäblich genommene Heilige Schrift oder ein bestimmter "Kanon im Kanon", die mehr oder weniger unveränderlich zu bewahrende Tradition des ersten Jahrtausends oder auch die mit der "Kirche aller Zeiten" identifizierte Lehrtradition der nach-tridentinischen Zeit. Typisch ist dabei, daß die Tradition, faktisch auf einen Ausschnitt verengt, als absolut eindeutige Größe verstanden wird, die nicht mehr der Interpretation und Normierung durch das Lehramt bedarf. Der Mainzer Bischof Ketteier, auf dem 1. Vatikanischen Konzil Gegner der Definition der päpstlichen Lehrunfehlbarkeit, nach der Konzilsentscheidung ihr Verteidiger, vermerkte Anfang 1871 gegen die "Altkatholiken", die unter Berufung auf die "Tradition" die päpstliche Unfehlbarkeit als "Neuerung" verwarfen, zu Recht: "Die Behauptung der absoluten Klarheit der Tradition... steht eigentlich auf derselben Linie mit der reformatorischen Behauptung der absoluten Klarheit des Wortes Gottes."1 (Fs)

239a Für die katholische Kirche ist nun im Zweifelsfall das lebendige kirchliche Lehramt und hier wieder besonders die päpstliche Autorität dieser Punkt der Selbstvergewisserung der Identität. Dies aber ermöglicht wenigstens, einen Standpunkt jenseits von "Modernismus" und "Fundamentalismus" zu gewinnen, bzw. Stabilität und Dynamik, Beweglichkeit und Einheit, neue geschichtliche Schritte und Tradition miteinander zu verbinden, die schon im religionsgeschichtlichen Vergleich einmalig ist. Es ermöglicht, ein Verhältnis zur eigenen Tradition zu gewinnen, jenseits sowohl beliebiger Auswahl, die dann letztlich von der Moderne diktiert ist, wie fundamentalistischer Verengung. (Fs)

239b Ein herausragendes Beispiel ist das Zweite Vatikanum und die ihm nachfolgende Reform. Bei allen Krisen und Mängeln im einzelnen ist ein solcher Reformprozeß, wie er durch und infolge des Konzils erfolgt ist, gerade in einer so delikaten und heiklen Sache wie der Liturgie, in einer großen Gemeinschaft ohne Bruch der Einheit nur möglich, weil es das Papsttum als Einheitszentrum gibt. Dabei ist durchaus nicht in erster Linie entscheidend, wie oft oder wie autoritativ in einem solchen Prozeß das Papsttum eingreift. Auch wenn es sich manchmal zurückhält und eher einen konziliaren gesamtkirchlichen Entscheidungsprozeß fördert, wirkt es einfach dadurch, daß es da ist und den Weg der Gesamtkirche als richtig bestätigt. Dadurch gibt es der Kirche Sicherheit, daß dieser Weg kein Irrweg ist. Daß letzten Endes traditionalistische Abspaltungen wie die von Lefebvre nur eine sehr kümmerliche Anhängerschaft um sich sammeln können, hat darin seinen Grund, daß die meisten Katholiken in Krisensituationen dem Prinzip folgen "Ubi Petrus, ibi Ecclesia" (Wo Petrus, da ist die Kirche) und daher im Zweiten Vatikanum und dem von der ganzen Kirche gegangenen nachkonziliaren Reformprozeß nicht einen Abfall der Kirche von ihrer Tradition sehen können. Und dies sicher zu Recht. Man vertritt sicher keinen exzessiven Unfehlbarkeitsbegriff, wenn man sagt, daß eine Liturgie, die von der zuständigen kirchlichen Autorität und von Rom legitimiert und mit moralisch einstimmigem Konsens von der Gesamtkirche angenommen ist, jedenfalls nicht glaubensgefährdend oder das Wesen der Liturgie verratend sein kann. Wäre so etwas möglich, gerade in der Meßliturgie als der Herzmitte und dem innersten Geheimnis der Kirche, wüßte ich nicht, welchen Sinn dann noch die Unfehlbarkeit der Kirche hat. Dies heißt sicher nicht, daß der neue Meß-Ordo jeder Kritik entzogen ist, genauso wenig wie der alte, der ja deshalb auch reformierbar war. Man kann sich subjektiv in der alten Messe mehr zu Hause fühlen und sie deshalb wünschen. Aber die neue Form kann nicht ungültig, glaubensgefährdend und objektiv minderwertig sein. (Fs)

240a Ein anderer Aspekt, wo der Primat die Verbindung von Stabilität und Ordnung einerseits, Innovation und Dynamik andererseits ermöglicht, ist die Existenz der zentralen Orden, von den Bettelorden des 13. Jahrhunderts bis zu den Jesuiten und den neuzeitlichen sozial-caritativen und seelsorglichen Orden. Solche Orden, die nicht an einen Ort, sondern an die Weltkirche gebunden sind, sind jedoch institutionell nur durch das Papsttum möglich. Hier ermöglicht der Primat charismatische Dynamik und Offenheit auf die Zeitnotwendigkeiten hin, und zwar einfach als Institution, unabhängig davon, wie weitsichtig oder kurzsichtig die einzelnen Päpste sind. (Fs)

____________________________

Home Sitemap Lonergan/Literatur Grundkurs/Philosophie Artikel/Texte Datenbank/Lektüre Links/Aktuell/Galerie Impressum/Kontakt