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Autor: Johannes Paul II - Wojtyla, Karol Józef

Buch: Enzyklika Veritatis splendor

Titel: Johannes Paul II., Evangelium vitae

Stichwort: Staatliches Gesetzes - Sittengesetz; hebräische Hebammen (Moses); Gewissensproblem: Abgeordneter, Schadensbegrenzung, Abtreibung; Grundsatz: Mitwirkung an schlechter Handlung; Grundrecht bei Unrecht


Kurzinhalt: Die Gesetze, die Abtreibung und Euthanasie zulassen und begünstigen, stellen sich also nicht nur radikal gegen das Gut des einzelnen, sondern auch gegen das Gemeinwohl und sind daher ganz und gar ohne glaubwürdige Rechtsgültigkeit.

Textausschnitt: 72. In Kontinuität mit der gesamten Tradition der Kirche steht auch die Lehre über die notwendige Übereinstimmung des staatlichen Gesetzes mit dem Sittengesetz, wie sie gleichfalls aus der genannten Enzyklika Johannes' XXIII. hervorgeht: »Die Befehlsgewalt wird von der sittlichen Ordnung erfordert und geht von Gott aus. Falls daher Staatslenker entgegen dieser Ordnung und insofern entgegen dem Willen Gottes Gesetze erlassen oder etwas gebieten, dann können weder die erlassenen Gesetze noch die gewährten Vollmachten das Gewissen der Bürger verpflichten... Vielmehr bricht dann die Autorität selbst völlig zusammen, und es folgt scheußliches Unrecht«.8 Das ist die klare Lehre des hl. Thomas von Aquin, der unter anderem schreibt: »Das menschliche Gesetz hat nur insoweit den Charakter eines Gesetzes, insoweit es der rechten Vernunft gemäß ist; und insofern ist es offensichtlich, daß es vom ewigen Gesetz her abgeleitet wird. Wenn es aber von der Vernunft abweicht, wird es ungerechtes Gesetz genannt und hat nicht den Charakter eines Gesetzes, sondern vielmehr den einer Gewalttätigkeit«.9 Und weiter: »Jedes von Menschen erlassene Gesetz hat insoweit den Charakter eines Gesetzes, insoweit es vom Naturgesetz abgeleitet wird. Wenn es aber in irgend etwas von dem Naturgesetz abweicht, dann wird es nicht mehr Gesetz, sondern die Zersetzung des Gesetzes sein«.10

Die erste und unmittelbarste Anwendung dieser Lehre betrifft das menschliche Gesetz, welches das jedem Menschen eigene fundamentale Grundrecht auf Leben nicht anerkennt. Auf diese Weise befinden sich die Gesetze, die in Form der Abtreibung und der Euthanasie die unmittelbare Tötung unschuldiger Menschen für rechtmäßig erklären, in totalem und unversöhnlichem Widerspruch zu dem allen Menschen eigenen unverletzlichen Recht auf Leben und leugnen somit die Gleichheit aller vor dem Gesetz. Man könnte einwenden, daß das auf die Euthanasie dann nicht zutreffe, wenn der betreffende Mensch bei vollem Bewußtsein um sie gebeten hat. Aber ein Staat, der ein derartiges Ersuchen legitimieren und seine Durchführung gestatten würde, würde gegen die Grundprinzipien der Unverfügbarkeit des Lebens und des Schutzes jedes menschlichen Lebens einen Selbstmord- bzw. Mordfall legalisieren. Auf diese Weise wird dem Nachlassen der Achtung vor dem Leben Vorschuß geleistet und Haltungen der Weg geebnet, die das Vertrauen in die sozialen Beziehungen zerstören. (Fs)

Die Gesetze, die Abtreibung und Euthanasie zulassen und begünstigen, stellen sich also nicht nur radikal gegen das Gut des einzelnen, sondern auch gegen das Gemeinwohl und sind daher ganz und gar ohne glaubwürdige Rechtsgültigkeit. Tatsächlich ist es die Nicht-Anerkennung des Rechtes auf Leben, die sich, gerade weil sie zur Tötung des Menschen führt - in dessen Dienst zu stehen die Gesellschaft ja den Grund ihres Bestehens hat -, am frontalsten und irreparabel der Möglichkeit einer Verwirklichung des Gemeinwohls entgegenstellt. Daraus folgt, daß ein staatliches Gesetz, wenn es Abtreibung und Euthanasie billigt, eben darum kein wahres, sittlich verpflichtendes staatliches Gesetz mehr ist. (Fs)

73. Abtreibung und Euthanasie sind also Verbrechen, die für rechtmäßig zu erklären sich kein menschliches Gesetz anmaßen kann. Gesetze dieser Art rufen nicht nur keine Verpflichtung für das Gewissen hervor, sondern erheben vielmehr die schwere und klare Verpflichtung, sich ihnen mit Hilfe des Einspruchs aus Gewissensgründen zu widersetzen. Seit den Anfangszeiten der Kirche hat die Verkündigung der Apostel den Christen die Verpflichtung zum Gehorsam gegenüber den rechtmäßig eingesetzten staatlichen Autoritäten eingeschärft (vgl. Röm 13, 1-7; 1 Petr 2, 13-14), sie aber gleichzeitg entschlossen ermahnt, daß »man Gott mehr gehorchen muß als den Menschen« (Apg 5, 29). Schon im Alten Testament finden wir in bezug auf die Bedrohungen gegen das Leben ein gewichtiges Beispiel für den Widerstand gegen das ungerechte Gebot der staatlichen Autorität. Die hebräischen Hebammen widersetzten sich dem Pharao, der angeordnet hatte, jeden neugeborenen Knaben zu töten. Sie »taten nicht, was ihnen der König von Ägypten gesagt hatte, sondern liessen die Kinder am Leben« (Ex 1, 17). Wichtig ist aber, auf den tieferen Grund dieses ihres Verhaltens hinzuweisen: »Die Hebammen fürchteten Gott« (ebd.). Aus dem Gehorsam gegenüber Gott - dem allein jene Furcht gebührt, die Anerkennung seiner absoluten Souveränität ist - erwachsen die Kraft und der Mut, den ungerechten Gesetzen der Menschen zu widerstehen. Die Kraft und der Mut dessen, der bereit ist, auch ins Gefängnis zu gehen oder durch das Schwert umzukommen in der Gewißheit, daß »sich hier die Standhaftigkeit und die Glaubenstreue der Heiligen bewähren« muß (Offb 13, 10). (Fs)

Es ist daher niemals erlaubt, sich einem in sich ungerechten Gesetz, wie jenem, das Abtreibung und Euthanasie zuläßt, anzupassen, »weder durch Beteiligung an einer Meinungskampagne für ein solches Gesetz noch dadurch, daß man bei der Abstimmung dafür stimmt«.11
Ein besonderes Gewissensproblem könnte sich in den Fällen ergeben, in denen sich eine parlamentarische Abstimmung als entscheidend dafür herausstellen würde, in Alternative zu einem bereits geltenden oder zur Abstimmung gestellten ungleich freizügigeren Gesetz ein restriktiveres Gesetz zu begünstigen, das heißt ein Gesetz, das die Anzahl der erlaubten Abtreibungen begrenzt. Solche Fälle sind nicht selten. Man kann nämlich Folgendes feststellen: Während in manchen Teilen der Welt die nicht selten von mächtigen internationalen Organisationen unterstützten Kampagnen für die Einführung von Gesetzen zur Freigabe der Abtreibung weitergehen, werden dagegen in anderen Nationen - besonders in jenen, die bereits die bittere Erfahrung mit derartigen freizügigen Gesetzen hinter sich haben - Anzeichen eines Umdenkens sichtbar. In dem hypothetisch angenommenen Fall ist es einleuchtend, daß es einem Abgeordneten, dessen persönlicher absoluter Widerstand gegen die Abtreibung klargestellt und allen bekannt wäre, dann, wenn die Abwendung oder vollständige Aufhebung eines Abtreibungsgesetzes nicht möglich wäre, gestattet sein könnte, Gesetzesvorschläge zu unterstützen, die die Schadensbegrenzung eines solchen Gesetzes zum Ziel haben und die negativen Auswirkungen auf das Gebiet der Kultur und der öffentlichen Moral vermindern. Auf diese Weise ist nämlich nicht eine unerlaubte Mitwirkung an einem ungerechten Gesetz gegeben; vielmehr wird ein legitimer und gebührender Versuch unternommen, die ungerechten Aspekte zu begrenzen. (Fs)

74. Die Einführung ungerechter Gesetzgebungen stellt moralisch korrekte Menschen oft vor schwierige Gewissensprobleme, was die Mitwirkung im Verhältnis zur gebührenden Geltendmachung des eigenen Rechtes betrifft, nicht zur Teilnahme an sittlich schlechten Handlungen gezwungen zu sein. Manchmal sind die Entscheidungen, die nötig erscheinen, schmerzlich und können sogar das Opfer einer renommierten beruflichen Stellung oder den Verzicht auf berechtigte Aufstiegs- und Karriereaussichten erfordern. In anderen Fällen kann sich herausstellen, daß die Durchführung von an sich indifferenten oder sogar positiven Handlungen, die in den Artikeln von insgesamt ungerechten Gesetzgebungen vorgesehen sind, den Schutz bedrohter Menschenleben erlaubt. Andererseits darf man jedoch mit Recht befürchten, daß die Bereitschaft zur Durchführung solcher Handlungen nicht nur zu einem Stein des Anstoßes wird und dem Nachlassen des notwendigen Widerstandes gegen Anschläge gegen das Leben Vorschuß leistet, sondern unmerklich dazu verleitet, immer mehr einer permissiven Logik nachzugeben. (Fs)

Zur Erhellung dieses schwierigen sittlichen Problems muß an die allgemeinen Grundsätze über die Mitwirkung an schlechten Handlungen erinnert werden. Wie alle Menschen guten Willens sind die Christen aufgerufen, aus ernster Gewissenspflicht nicht an jenen Praktiken formell mitzuwirken, die, obgleich von der staatlichen Gesetzgebung zugelassen, im Gegensatz zum Gesetz Gottes stehen. Denn unter sittlichem Gesichtspunkt ist es niemals erlaubt, formell am Bösen mitzuwirken. Solcher Art ist die Mitwirkung dann, wenn die durchgeführte Handlung entweder auf Grund ihres Wesens oder wegen der Form, die sie in einem konkreten Rahmen annimmt, als direkte Beteiligung an einer gegen das unschuldige Menschenleben gerichteten Tat oder als Billigung der unmoralischen Absicht des Haupttäters bezeichnet werden muß. Diese Mitwirkung kann niemals gerechtfertigt werden, weder durch Berufung auf die Achtung der Freiheit des anderen, noch dadurch, daß man sich auf die Tatsache stützt, daß das staatliche Gesetz diese Mitwirkung vorsehe und fordere: denn für die Handlungen, die ein jeder persönlich vornimmt, gibt es eine sittliche Verantwortlichkeit, der sich niemand entziehen kann und nach der Gott selber einen jeden richten wird (vgl. Röm 2, 6; 14, 12). (Fs)

Die Beteiligung am Begehen eines Unrechts zu verweigern, ist nicht nur eine moralische Verpflichtung, sondern auch ein menschliches Grundrecht. Wenn es nicht so wäre, würde der Mensch gezwungen sein, eine mit seiner Würde an sich unvereinbare Handlung durchzuführen, und auf diese Weise würde seine Freiheit, deren glaubwürdiger Sinn und deren Ziel auf der Hinordnung zum Wahren und Guten beruhen, radikal gefährdet sein. Es handelt sich also um ein wesentliches Recht, das eben als solches vom staatlichen Gesetz selbst vorgesehen und geschützt werden müßte. In diesem Sinne müßte für die Ärzte, das Pflegepersonal und die verantwortlichen Träger von Krankenhäusern, Kliniken und Pflegeheimen die Möglichkeit sichergestellt sein, die Beteiligung an der Phase der Beratung, Vorbereitung und Durchführung solcher Handlungen gegen das Leben zu verweigern. Wer zum Mittel des Einspruchs aus Gewissensgründen greift, muß nicht nur vor Strafmaßnahmen, sondern auch vor jeglichem Schaden auf gesetzlicher, disziplinarischer, wirtschaftlicher und beruflicher Ebene geschützt sein. (Fs)

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