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Autor: Johannes Paul II - Wojtyla, Karol Józef

Buch: Enzyklika Veritatis splendor

Titel: Johannes Paul II., Evangelium vitae

Stichwort: Verfinsterung des Sinns für Gott und Mensch 1; Mensch: ein Organismus unter andern; Technologie um die Planung, Kontrolle und Beherrschung von Geburt und Tod

Kurzinhalt: Wir müssen zum Herzen des Dramas vorstoßen, das der heutige Mensch erlebt: die Verfinsterung des Sinnes für Gott und den Menschen, wie sie für das vom Säkularismus beherrschte soziale und kulturelle Umfeld typisch ist ...

Textausschnitt: »Ich muß mich vor deinem Angesicht verbergen« (Gen 4, 14): die Verfinsterung des Sinnes für Gott und den Menschen

21. Auf der Suche nach den tiefsten Wurzeln des Kampfes zwischen der »Kultur des Lebens« und der »Kultur des Todes« dürfen wir nicht bei der oben erwähnten perversen Freiheitsvorstellung stehen bleiben. Wir müssen zum Herzen des Dramas vorstoßen, das der heutige Mensch erlebt: die Verfinsterung des Sinnes für Gott und den Menschen, wie sie für das vom Säkularismus beherrschte soziale und kulturelle Umfeld typisch ist, der mit seinen durchdringenden Fangarmen bisweilen sogar christliche Gemeinschaften auf die Probe stellt. Wer sich von dieser Atmosphäre anstecken läßt, gerät leicht in den Strudel eines furchtbaren Teufelskreises: wenn man den Sinn für Gott verliert, verliert man bald auch den Sinn für den Menschen, für seine Würde und für sein Leben; die systematische Verletzung des Moralgesetzes, besonders was die Achtung vor dem menschlichen Leben und seiner Würde betrifft, erzeugt ihrerseits eine Art fortschreitender Verdunkelung der Fähigkeit, die lebenspendende und rettende Gegenwart Gottes wahrzunehmen. (Fs)

Und wieder können wir dem Bericht von der Ermordung Abels durch seinen Bruder folgen. Nach dem von Gott über ihn verhängten Fluch wendet sich Kain mit den Worten an den Herrn: »Zu groß ist meine Schuld, als daß ich sie tragen könnte! Du hast mich heute vom Ackerland verjagt, und ich muß mich vor deinem Angesicht verbergen; rastlos und ruhelos werde ich auf der Erde sein, und wer mich findet, wird mich erschlagen« (Gen 4, 13-14). Kain glaubt, daß seine Sünde beim Herrn keine Vergebung erfahren kann und daß es sein unvermeidliches Schicksal sein wird, »sich vor seinem Angesicht verbergen« zu müssen. Wenn es Kain fertigbringt zu bekennen, daß seine Schuld »zu groß« ist, dann deshalb, weil er weiß, daß er Gott und seinem gerechten Richterspruch gegenübersteht. Tatsächlich vermag der Mensch nur vor dem Herrn seine Sünde zu erkennen und ihre ganze Schwere zu erfassen. Das ist die Erfahrung Davids, der, nachdem er »gegen den Herrn gesündigt hat«, auf die Vorwürfe des Propheten Natan (vgl. 2 Sam 11-12) ausruft: »Ich erkenne meine bösen Taten, meine Sünde steht mir immer vor Augen. Gegen dich allein habe ich gesündigt, ich habe getan, was dir mißfällt« (Ps 51 1, 5-6). (Fs)

22. Darum wird, wenn der Sinn für Gott schwindet, auch der Sinn für den Menschen bedroht und verdorben, wie das Zweite Vatikanische Konzil lapidar feststellt: »Denn das Geschöpf sinkt ohne den Schöpfer ins Nichts... Überdies wird das Geschöpf selbst durch das Vergessen Gottes unverständlich«.1 Der Mensch vermag sich nicht mehr als »in geheimnisvoller Weise anders« als die verschiedenen irdischen Lebewesen wahrzunehmen; er sieht sich als eines der vielen Lebewesen, als einen Organismus, der bestenfalls eine sehr hohe Vollkommenheitsstufe erreicht hat. In den engen Horizont seiner Körperlichkeit eingeschlossen, wird er gewissermaßen zu »einer Sache« und beachtet nicht mehr den »transzendenten« Charakter seines »Existierens als Mensch«. Er sieht das Leben nicht mehr als ein großartiges Geschenk Gottes an, als eine »heilige« Wirklichkeit, die seiner Verantwortung und damit seiner liebevollen Obhut, seiner »Verehrung« anvertraut ist. Es wird einfach zu »einer Sache«, die er als sein ausschließliches, total beherrschbares und manipulierbares Eigentum beansprucht. (Fs) (notabene)
Er ist daher nicht mehr in der Lage, sich angesichts des Lebens, das geboren wird, und des Lebens, das stirbt, nach dem wahren Sinn seines Daseins fragen zu lassen, indem er diese entscheidenden Augenblicke des eigenen »Seins« in echter Freiheit annimmt. Er kümmert sich nur um das »Machen« und bemüht sich unter Zuhilfenahme jeder Art von Technologie um die Planung, Kontrolle und Beherrschung von Geburt und Tod. Aus ursprünglichen Erfahrungen, die »gelebt« werden sollen, werden Geburt und Tod zu Dingen, die man sich einfach zu »besitzen« oder »abzulehnen« anmaßt. (Fs)

Wenn im übrigen einmal der Bezug zu Gott ausgeschlossen ist, überrascht es nicht, daß der Sinn aller Dinge tief entstellt zum Vorschein kommt, und die Natur selbst, nicht mehr »mater«, zu einem »Material« entwürdigt wird, das allen Manipulationen offensteht. Zu diesem Punkt scheint eine gewisse in der modernen Kultur vorherrschende technisch-wissenschaftliche Rationalität zu führen, die selbst die Vorstellung einer Wahrheit vom Schöpfer, der anzuerkennen ist, oder eines Planes Gottes vom Leben, das zu achten ist, leugnet. Und dies gilt genauso, wenn die Angst vor den Ergebnissen dieser »Freiheit ohne Gesetz« manche zur entgegengesetzten Vorstellung von einem »Gesetz ohne Freiheit« verleitet, wie es z.B. in den Ideologien der Fall ist, die die Rechtmäßigkeit eines jeden Eingriffes in die Natur gleichsam im Namen ihrer »Vergöttlichung« bestreiten; eine Vorstellung, die wiederum die Abhängigkeit vom Plan des Schöpfers mißachtet. (Fs) (notabene)

Wenn der Mensch wirklich lebt, »als ob es Gott nicht gäbe«, so kommt ihm nicht nur der Sinn für das Geheimnis Gottes, sondern auch für das Geheimnis der Welt und seines eigenen Seins abhanden. (Fs)

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