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Autor: Dawson, Christopher

Buch: Gestaltungskräfte der Weltgeschichte

Titel: Gestaltungskräfte der Weltgeschichte

Stichwort: Europa; Zivilisation des Abendlandes: Verkörperung einer doppelten Tradition; christlichen Tradition: Impulse für die moderne Welt (Humanismus, Wissenschaft usw.)

Kurzinhalt: Beide Elemente bestehen in jeder Entwicklungsphase der abendländischen Kultur nebeneinander, sei es in einer gegenseitigen Spannung, sei es im Gleichgewicht zueinander. Es gibt Zeiten, wo das eine Element dominiert und das andere fast ...

Textausschnitt: 397a Nun ist die Zivilisation des Abendlandes die Verkörperung einer doppelten Tradition. Einerseits erbt sie die Tradition der klassischen Kultur Roms und des Hellenismus, andererseits ist sie die Erbin des Christentums und einer religiösen Tradition, die über die antike Welt hinaus in den alten Osten zurückreicht. Von der einen Seite hat Europa die Tradition der griechischen Philosophie und Wissenschaft, des römischen Rechtes und der römischen Literatur übernommen, von der anderen hat es seine sittlichen Werte und geistigen Ideale, seine Begriffe von Gott und dem Menschen, der göttlichen Vorsehung und der menschlichen Verantwortung empfangen. Beide Elemente bestehen in jeder Entwicklungsphase der abendländischen Kultur nebeneinander, sei es in einer gegenseitigen Spannung, sei es im Gleichgewicht zueinander. Es gibt Zeiten, wo das eine Element dominiert und das andere fast ausschließt, so wie im frühen Mittelalter die christliche Tradition vorherrscht und wie im Zeitalter der Renaissance die klassische Tradition vorherrscht. Um einen Ausdruck aus der Biologie zu verwenden: Es gibt in jeder Kultur dominante und rezessive Elemente, und ein Element, das während eines ganzen Zivilisationszeitalters rezessiv war, kann später wieder auftauchen und in der künftigen Zivilisation dominieren. Aber das zweite, rezessive Element ist immer vorhanden und trägt Wesentliches zu der Leistung des dominanten Partners bei. So wäre das Werk des heiligen Thomas von Aquin nie möglich gewesen ohne den griechischen Beitrag Aristoteles', und das Drama der Renaissancezeit in England und Spanien verdankt der christlichen Vergangenheit ebensoviel wie der klassischen Überlieferung. (Fs) (notabene)

398a Dagegen kann man einwenden, daß dies für die jetzige Zeit nicht mehr zutrifft, daß die Leistungen der modernen abendländischen Zivilisation auf dem Gebiet der Wissenschaft und Technik und der politischen und sozialen Reform eine revolutionäre Veränderung der menschlichen Geschichte bilden, die mit der Vergangenheit nichts zu tun hat. Jedenfalls ist es richtig, daß die weltliche Ideologie, die in den letzten zwei Jahrhunderten die öffentliche Meinung des Westens so stark geformt hat, diese Anschauung einprägte und die traditionellen Elemente in der abendländischen Kultur herabsetzte oder verurteilte. (Fs)

398b Nichtsdestoweniger war diese Haltung eine einseitige und durch die jeweiligen Bedürfnisse der Parteien und Klassen bedingt, die mit dem alten Regime in Konflikt standen. Vom streng historischen Gesichtspunkt aus kann kein Zweifel darüber herrschen, daß die neueren Entwicklungen der abendländischen Kultur tief in der europäischen Vergangenheit verwurzelt sind. (Fs) (notabene)

398b Selbst die liberale Bewegung mit ihrem humanitären Idealismus und ihrem Glauben an das Naturgesetz und die Menschenrechte verdankt ihren Ursprung einer außergewöhnlichen Verbindung zwischen der humanistischen Tradition und einem von christlichen Moralbegriffen, wenn auch nicht vom christlichen Glauben getragenen religiösen Ideal. Wie ich in meinem Buch "Religion and Progress" dargelegt habe, erhielt die ganze Entwicklung des Liberalismus und des Humanitätsprinzips, die in der Geschichte der modernen Welt eine so ungeheure Rolle gespielt hat, ihren geistigen Impuls von der christlichen Tradition, an deren Stelle sie treten wollte. Aber wenn diese Tradition verschwindet, geht dieser geistige Impuls verloren und an die Stelle des Liberalismus tritt die Primitivität und amoralische Ideologie des totalitären Staates. (Fs)

398c Ebenso war die moderne wissenschaftliche Bewegung ein Ergebnis der abendländischen humanistischen Kultur, und auch heute noch enthält sie Spuren ihrer Herkunft. Gewiß kann die moderne Technik von der humanistischen Kultur losgelöst und als reines Werkzeug irgendeiner Macht verwendet werden, die sich ihrer zu einem beliebigen Zweck bedienen will. Sie kann daher ebenso zur Vernichtung wie im Dienst des Menschen verwendet werden, wie wir es an dem Ausbau der Atomkraft zum Bau von Waffen für dessen Massenvernichtung sehen. Aber das gilt nicht für die Wissenschaft als solche; viele Gelehrte sind sich des tragischen Widerspruches zwischen den humanistischen Idealen, aus denen die abendländische Wissenschaft hervorgegangen ist, und den unmenschlichen Folgen einer Wissenschaft, die als Werkzeug einer Macht verwendet wird und zum Zerrbild wird, voll bewußt. (Fs)

399a Dies ist überdies nur eine Seite der modernen Wissenschaft. Der gleiche Geist, der den Menschen dazu trieb, die Natur durch die Wissenschaft zu besiegen, und der zu der äußeren Vereinheitlichung der Welt führte, hat auch ein neues Verständnis der Welt und die Entdeckung und das Studium der menschlichen Kultur mit sich gebracht. (Fs)

399b Eines der fruchtbarsten Ergebnisse dieses Studiums der Kultur durch die abendländische Wissenschaft sind die neuen Kenntnisse über die alten Zivilisationen des Ostens. Die meisten Berichte über die Geschichte der abendländischen Zivilisation widmen diesen außereuropäischen Aspekten des europäischen Erbes nicht genug Aufmerksamkeit. Wenn wir unsere eigene Kultur mit jener der römisch-hellenistischen Welt vergleichen, sehen wir, daß nicht das am bedeutsamsten ist, was in Europa selbst geschieht, sondern die Veränderungen am Rand der abendländischen Expansionszone. Denn die späteren Phasen der kulturellen Durchdringung Asiens durch Europa bilden einen Prozeß von ebensolcher Bedeutung wie die Durchdringung des Ostens im Altertum durch den Hellenismus. Aber in den meisten Werken über die moderne europäische Geschichte findet man nichts oder nur sehr wenig über diesen Vorgang und seine Auswirkungen in Gestalt der großen Ausbreitung der christlichen Missionen im Osten oder die Leistungen der großen europäischen Archäologen, Philologen und Orientalisten, die die Literatur und Kultur der Länder des Ostens erschlossen und gedeutet haben. Trotzdem ist dieses große Werk, das im 16. Jahrhundert begann, als Matteo Ricci zuerst abendländische Wissenschaft nach China brachte und Europa die chinesische Kultur erschloß, nicht weniger bedeutsam als das der Eroberer und Politiker. Es erweiterte nicht nur die Grenzen der abendländischen Zivilisation in ungeheurer Weise und legte das Fundament für ein neues Verständnis zwischen Ost und West, sondern es gab auch den außereuropäischen Völkern ein neues Verständnis für ihre eigene Vergangenheit. Ohne dieses Verständnis wäre dem Osten die Größe seines Erbgutes nicht zum Bewußtsein gekommen und die Erinnerungen an die ältesten Zivilisationen Asiens lägen weiter im Staub begraben. (Fs)

400a Das ist ein bleibendes Erbe für die ganze östliche und westliche Welt, das die politischen Ideologien und die Wirtschaftsreiche überdauern wird. Heute ist es Sitte, die Beziehungen zwischen Ost und West im Licht kolonialer Ausbeutung und nationalistischer Reaktion zu betrachten, und wenn das europäische Erbe weiter nichts wäre, so könnte man es abschreiben wie die Ölkonzessionen und investierten Kapitalien, die enteignet werden. Aber das kulturelle Erbe Europas ist nicht auf Europa beschränkt, so wie das der klassischen Welt nicht auf den Mittelmeerraum beschränkt war. Wenn auch die politische Vormachtstellung Europas verloren ging, übernehmen Amerika und Asien noch weiter die Tradition der europäischen Kultur, so wie Westeuropa und der Mittlere Osten auch nach dem Untergang des Römischen Reiches die Traditionen der römischen und hellenistischen Kultur übernahmen. Das bleibende Erbe Europas ist, wie das des Hellenismus, ein geistiges. Es hat die Welt verändert, weil es den Geist der Menschen verändert hat. Verlust an Macht bedeutet nicht Verlust an Wissen, und selbst wenn Europa aufhört, ein Machtzentrum der Welt zu sein, werden die in Europa entstandenen geistigen Mächte auch weiterhin die Welt beeinflussen, ob nun die neuen Herren der Welt ihre Dankesschuld erkennen oder nicht. Der Einfluß des Hellenismus erlosch nicht mit der Eroberung Griechenlands durch die Römer und auch nicht mit dem Untergang Roms oder des Byzantinischen Reiches, und so muß es auch mit dem europäischen Erbe geschehen. (Fs)

400b Die schöpferische Weiterentwicklung dieses Erbes hängt von der Lebenskraft der geistigen Mächte ab, die die Leistungen der europäischen Kultur ausgelöst haben - der religiösen Tradition des Christentums und der geistigen Tradition des Humanismus. Diese aber leben auch heute noch. Sie leben innerhalb und außerhalb Europas, einerseits in der katholischen Kirche und andererseits in der abendländischen Tradition der Wissenschaft, Forschung und Literatur. Auf diese beiden Kräfte müssen wir unsere Hoffnungen setzen für die Entstehung einer neuen Weltzivilisation, die die Völker und Kontinente in einer allumfassenden geistigen Gemeinschaft einigen wird. (Fs)

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