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Autor: Dawson, Christopher

Buch: Gestaltungskräfte der Weltgeschichte

Titel: Gestaltungskräfte der Weltgeschichte

Stichwort: Europa, 3 Zivilisationen: Griechenland, Rom - christlichen Mittelalter - europäischen Völkergemeinschaften (15. - 19 Jhdt.); Ausweitung Europas durch: Wirtschaft, Wissenschaft, politische, soziale Institutionen

Kurzinhalt: ... "Europa" eine spezifisch moderne, von den Gelehrten der Renaissance eingeführte Bezeichnung ... So wurden "Europa" und Zivilisation austauschbare Begriffe. Die Türken waren "Barbaren", aber die Moskowiter auch.

Textausschnitt: 5 EUROPA IM SCHATTEN

392b Seit dem Ende des Ersten Weltkrieges ist der Wunsch nach einer Weltgeschichte ständig gewachsen. Die alten Formen einer Geschichte der einzelnen Völker genügten einem Zeitalter nicht mehr, das historische Reiche wie faule Baumstämme stürzen und neue Staaten und Nationen wie Pilze aus dem Boden schießen gesehen hatte. Dabei ist es zweifelhaft, ob es heute schon möglich ist, eine Weltgeschichte im vollen Sinne des Wortes zu schreiben. Zu viele Spuren sind noch kaum aufgegriffen und noch mehr nur teilweise oder in einseitiger Weise verfolgt worden. Vor allem gibt es kein gebildetes Publikum, das die Geschichte verschiedener Zivilisationen miteinander vergleichen und gegenseitig abwägen kann. Die Geschichte des Ostens ist noch immer das Reservat einer verhältnismäßig kleinen Anzahl von Fachgelehrten, die die östlichen Sprachen beherrschen und die nur wenig Gemeinsames haben. (Fs)

392c Unter diesen Umständen können wir höchstens hoffen, zu der Geschichte einer einzelnen Zivilisation zu gelangen. Hier scheint die europäische Kultur den besten Ausgangspunkt für ein Herantreten an die Weltgeschichte zu bieten, denn ihr verwandelnder Einfluß auf die anderen Weltkulturen war weit größer als der irgendeiner Zivilisation des Ostens. Teilweise war dies, weil die geographischen Eigenheiten Europas es kulturellen Kontakten besonders zugänglich gemacht haben, wenn man auch den dynamischen Charakter nicht übersehen darf, den die europäischen Völker selbst an den Tag gelegt haben. Jedenfalls kann man "Europa" von vielen Gesichtspunkten aus betrachten und unter diesen ist der geographische keineswegs der wichtigste. Vom Gesichtspunkt des kulturellen Erbes aus gesehen, ist Europa ein Bindeglied zwischen dem alten Osten, der Wiege der höheren Zivilisation, und der neuen Welt der über die Meere reichenden, überstaatlichen Kultur. Selbst wenn wir das ganze Gebiet der prähistorischen Zeit und der überstaatlichen Kultur des gegenwärtigen Jahrhunderts ausscheiden, werden wir sehen, daß wir es nicht mit einer Zivilisation, sondern mit dreien zu tun haben: erstens der von den Griechen geschaffenen, von den Römern in ein System gebrachten und nach dem Westen getragenen Kultur des Mittelmeerraumes, zweitens der Kultur des christlichen Mittelalters und drittens der Kultur der europäischen Völkergemeinschaften, wie sie vom 15. bis zum 19. Jahrhundert bestanden. (Fs)

393a Nur diese dritte Kultur ist europäisch im vollen Sinne des Wortes. Trotz dem griechischen Ursprung des Wortes und seiner gelegentlichen Verwendung im Mittelalter ist "Europa" eine spezifisch moderne, von den Gelehrten der Renaissance eingeführte Bezeichnung, die das neue Orbis terrarum von dem alten unterscheiden sollte. Die Ursprungsländer der griechischen Kultur waren verloren gegangen, aber die Gelehrten träumten, zuerst in Italien und dann in den Ländern nördlich der Alpen, von einer neuen Blüte der klassischen Tradition. So war für sie "Europa" kein Kontinent, sondern die verhältnismäßig kleine Völkergemeinschaft, die dieselben Ideale einer literarischen Kultur und einer gesitteten Haltung besaß. So wurden "Europa" und Zivilisation austauschbare Begriffe. Die Türken waren "Barbaren", aber die Moskowiter auch. Thomas Morus und Kardinal Pole waren humanistische und gebildete Menschen, aber Bessarion, der Grieche aus Kleinasien, war es ebenfalls. (Fs)

394a Der ideologische Begriff "Europa" hat sich fast bis in unsere Zeit, erhalten, so daß mit der Ausdehnung des Einflußgebietes auch der Begriff "Europa" wuchs. Jetzt aber erlebt die moderne Welt eine Zeit der akuten kulturellen Krise, die alle Kontinente, Rassen und Völker in Mitleidenschaft zieht und die besonders schwerwiegend für jene Völker ist, welche die Tradition der abendländischen Kultur übernommen haben. In den letzten Jahrhunderten hat die Ausbreitung der europäischen Völker durch Eroberung und Kolonisation, Handel und Industrie, Wissenschaft und Technik die Welt vereinheitlicht wie nie zuvor und hat die Grundlage für eine Weltzivilisation geschaffen. Aber im Augenblick, wo dieser Prozeß sich seinem Höhepunkt näherte, wurden die politischen und wirtschaftlichen Kräfte Europas durch vier Jahrzehnte Krieg und Revolution erschüttert. Heute hat Europa seine politische Vormachtstellung verloren und die Großmächte des 19. Jahrhunderts haben entweder aufgehört zu bestehen oder sie wurden durch den Aufstieg der neuen Weltmächte, die ganze Kontinente beherrschen und deren Bevölkerung nach Hunderten von Millionen zählt, in den Schatten gestellt und zur Unbedeutendheit verurteilt. (Fs)

394b Dieses Ende des europäischen Zeitalters entstand nicht nur durch den Abstieg der politischen und wirtschaftlichen Macht der europäischen Völker; es ist auch die Folge des verlorengegangenen Glaubens an die Einmaligkeit der europäischen Kultur und der Forderung der östlichen und außereuropäischen Völker nach kultureller Gleichberechtigung. Das ist eine revolutionäre Veränderung, denn bis dahin, ja bis in unsere eigene Zeit, wurde die Identität der europäischen Kultur mit der Zivilisation fast nicht angezweifelt, nicht nur von dem einfachen Mann, sondern auch von dem Gelehrten und dem Mann der Wissenschaft. Heute hat sich dies alles geändert. Europa wurde nicht nur durch die ungeheuren Mächte, die aus seinem Schoß hervorgegangen sind, zur Unbedeutendheit verdammt, sondern es ist schwer, irgendein, wenn auch noch so schwaches und unterentwickeltes Volk zu finden, das den Anspruch Europas auf kulturelle Überlegenheit anerkennt. Selbst Völker, die erst gestern dem Dunkel der afrikanischen Barbarei entronnen sind, betrachten sich jetzt den alten abendländischen Herren der Erde gegenüber als kulturell ebenbürtig oder überlegen. (Fs)

395a Trotzdem ist auch diese neue Ordnung der kulturellen Gleichheit eine Schöpfung Europas und ein Teil des europäischen Erbes. Die Welle des Defaitismus, die Westeuropa ergriffen hat, und der aggressive Nationalismus der außereuropäischen Völker sind sekundäre Erscheinungen im Vergleich zu den großen Veränderungen, die das Leben der Menschheit verwandeln. Aber diese Veränderungen sind das Werk des abendländischen Menschen und der von ihm geschaffenen Wissenschaft und Technik, Institutionen und Ideen. Ob es gut oder schlecht ist, ist eine andere Frage. Wir wissen noch nicht, ob es die Grundlage einer neuen Weltordnung sein wird oder ob der abendländische Mensch, wie Frankenstein, ein Ungeheuer hervorgebracht hat, das ihn umbringen wird. (Fs)

395b Für den Christen muß die Antwort hauptsächlich von den geistigen Faktoren abhängen, vor allem davon, ob die neue Zivilisation dem Einfluß des Christentums zugänglich ist oder nicht. Denn das Christentum war der Mittelpunkt des gesamten Komplexes der europäischen Kultur, um den die anderen Elemente kreisten, und solange dieser Mittelpunkt besteht, ist die Kontinuität der Kultur und die Erhaltung ihres geistigen Erbes gesichert. Derzeit aber sind die Aussichten für eine solche Entwicklung ungünstig. Das große Zeitalter der abendländischen Expansion war auch das Zeitalter der Verweltlichung der abendländischen Kultur. Gegenstand dieser Ausbreitung waren erstens die abendländische politische und wirtschaftliche Macht, zweitens die abendländische Wissenschaft und Technik und drittens die abendländischen politischen Institutionen und sozialen Ideale. Auch das Christentum hat sich ausgebreitet, aber lange nicht so stark. (Fs)

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