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Autor: Dawson, Christopher

Buch: Gestaltungskräfte der Weltgeschichte

Titel: Gestaltungskräfte der Weltgeschichte

Stichwort: Von d. protestantischen zur materialistischen Geschichtsdeutung; Neudeutung d. Dualismus v. Kirche u. Welt (Babylon = Rom); Stammbau des Marxismus; Marx - jüdische Wurzeln

Kurzinhalt: Sie ist einerseits ein Kind der Revolution, andererseits ein Kind des deutschen Idealismus, der selbst wieder der Sproß einer unerlaubten Verbindung zwischen der Philosophie der Aufklärung und dem und dem protestantischen Pietismus war.

Textausschnitt: 3 KARL MARX UND DIE DIALEKTIK DER GESCHICHTE

363a Zwischen dem Geist des Katholizismus und dem Geist der Geschichte besteht eine natürliche Affinität und Übereinstimmung, und nicht durch Zufall ist die moderne Geschichtstradition in der katholischen Kirche entstanden und entwickelt worden. Die Begründer der modernen Geschichtswissenschaft waren nicht die geistvollen Historiker der Renaissance, sondern Priester oder Mönche wie Tillemont, Muratori und Mabillon, deren Geschichtsstudium von der gleichen gewissenhaften und selbstlosen Frömmigkeit beseelt war wie ihre Religion. (Fs)

363b Die neue rationalistische und liberale Schule der Geschichte, die im 18. Jahrhundert entstand, hat eine große und nicht anerkannte Dankesschuld gegenüber dieser Tradition. Diese Schuld beschränkt sich nicht darauf, daß Gibbon der Schüler Tillemonts ist und daß Voltaire seine Abhandlung über die Universalgeschichte als Fortsetzung von Bossuets "Discours sur l'hi-stoire generale" schrieb. Der Einfluß geht viel tiefer. Er äußert sich in den neuen Lehren vom sozialen Fortschritt und der Erziehung der Menschlichkeit, die nichts anderes sind als eine Säkularisierung der katholischen Geschichtsdeutung und eine Verlagerung ihrer wesentlichen Motive in einen anderen Rahmen. "Was sind unsere Historien der Kultur, der Zivilisation, des Fortschrittes, der Menschheit, der Wahrheit anderes als die mit unserer Zeit in Einklang stehende Form der Kirchengeschichte, nämlich des Sieges und der Verbreitung des Glaubens, des Kampfes gegen die Mächte der Finsternis, der aufeinanderfolgenden Auffassungen des neuen Evangeliums, die in jeder Epoche andere sind", schreibt Croce, der selbst der letzte liberale Geschichtsphilosoph ist1. (Fs) (notabene)

364a In Wirklichkeit hat die liberale Geschichtsdeutung nicht nur den Universalismus und den Glauben an einen geistigen Zweck, der überall im Leben der Menschheit vorhanden ist, von der katholischen Tradition übernommen, sondern auch ihren Dualismus. Auch die liberale Geschichtsdeutung wird von dem Bild der zwei Städte beherrscht. Aber jetzt ist die Kirche die Verkörperung jener "reaktionären Kräfte", die das liberale Gegenstück zu den Mächten der Finsternis sind, und die Kinder der Welt sind die Kinder des Lichtes geworden. (Fs) (notabene)

364b Diese Umdeutung war jedoch nichts ganz Neues. Hinter ihr steht eine ähnliche gefühlsmäßige Haltung wie jene, die schon in der protestantischen Tradition zutage getreten war. Diese Tradition hatte in geschichtlicher Hinsicht nicht viel geleistet. Sie hatte keine Historiker hervorgebracht, die sich mit den großen Gelehrten der Gegenreformation und des Zeitalters Ludwigs XIV. vergleichen lassen. Aber sie führte etwas Neues in die christliche Geschichtsdeutung ein, das sofortige Folgen hatte. Das war ihre Identifizierung des päpstlichen Rom mit dem Babylon der Apokalypse, die praktisch ein Glaubensartikel - noch dazu ein sehr zentraler - aller reformierten Kirchen wurde. Es ist für uns heute schwer, uns das Bestehen dieser Überzeugung vorzustellen, die das protestantische Europa dreihundert Jahre lang beherrschte und die noch heute als unbewußte Strömung im protestantischen Denken fortlebt. Aber es ist leicht zu erkennen, daß sie das Wesen des christlichen Dualismus völlig veränderte, indem sie ihn aus dem Gegensatz zwischen Kirche und Welt in einen Konflikt zwischen den beiden Formen des Christentums verwandelte. Als dieser Schritt einmal getan war, als man die tausend Jahre lang rechtmäßig gewesene Kirche in das Reich des Antichrist verwiesen und die Albigenser und Waldenser mit den verfolgten Heiligen der Schrift identifiziert hatte, war es ein leichtes für die Aufklärung, einen Schritt weiterzugehen, die protestantischen Kirchen aus den Mauern zu vertreiben, was mit der katholischen Kirche schon geschehen war, und die Apostel des Freidenkertums zu Heiligen des Rationalismus zu machen. (Fs) (notabene)

365a Dieses Vorgehen war zumindest logischer als die protestantische Synthese von Apokalyptik und persönlichem Gericht. Aber es enthielt noch einen großen Überrest von Mystizismus, der zu dem herrschenden rationalistischen Element der liberalen Tradition nicht paßte. Die Religion des Fortschritts braucht eine theologische Basis, auch wenn es nur die farblose natürliche Theologie des Deisten und Freimaurers ist. Zunächst gewinnt das eine Element der Synthese die Oberhand und die idealistische Geschichtsphilosophie entsteht, die bei Schelling und Krause dazu neigt, echte religiöse Mystik zu werden. Dann tritt die rationalistische Grundlage wieder hervor und es kommt zu einer Reaktion gegen den Idealismus und einem Versuch, die Fortschrittslehre mit einem durchgreifenden Materialismus zu verbinden. Aber selbst in dieser materialistischen Form ist das apokalyptische Element noch deutlich spürbar, ja es ist oft dort am stärksten, wo die materialistische Basis am schärfsten hervortritt. (Fs)

365b Das klassische Beispiel dafür sind der marxistische Sozialismus und die materialistische Geschichtsdeutung, die dessen grundlegende Lehre bildet. Der Stammbaum dieser Lehre steht eindeutig fest. Sie ist einerseits ein Kind der Revolution, andererseits ein Kind des deutschen Idealismus, der selbst wieder der Sproß einer unerlaubten Verbindung zwischen der Philosophie der Aufklärung und dem protestantischen Pietismus war2. So hat sie beiderseits katholische Vorfahren, denn die Philosophie der Aufklärung leitet ihren Universalismus der Geschichte von der katholischen Tradition her, während die Tradition des Pietismus über die geistlichen Reformatoren und die Franziskanerspiritualen zu den Grundformen des christlichen Chiliasmus und der Apokalyptik zurückführt. Überdies bestehen offenkundige Verbindungen zwischen dem anderen Elternteil des Marxismus, der revolutionären Tradition und den sektenmäßigen und antikatholischen Formen der apokalyptischen Tradition. Alle diese Elemente sind in der marxistischen Philosophie enthalten und die eigentliche Kraft, die sie verbindet, ist weniger die innere Logik ihres Denkens als die prophetische Inbrunst und die flammende Überzeugung. Denn Karl Marx stammte aus dem Geschlechte der Propheten, trotz seiner Verachtung für alles, was nach Mystik oder religiösem Idealismus aussah. Er war einer jener aus Israel Verbannten wie Spinoza, deren Isolierung von der religiösen Gemeinschaft ihrer Väter ihr stolzes Bewußtsein einer prophetischen Mission noch steigerte. (Fs)

366a So erhielt die apokalyptische Tradition, die in ihrer säkularisierten Form dazu neigte, in einen vagen Idealismus auszuarten, aus diesem erneuten Kontakt mit dem jüdischen Geist ihre Kraft und konkrete Wirklichkeit zurück. Die messianische Hoffnung, der Glaube an die bevorstehende Vernichtung der Macht der Ungläubigen und an die Befreiung Israels waren für die Juden nicht nur ein Widerhall der biblischen Tradition; sie waren ihnen durch die jahrhundertelange Unterdrückung eines sozialen Impulses in den schmutzigen Ghettos Deutschlands und Polens in Fleisch und Blut übergegangen. Ebenso war der soziale Dualismus zwischen den Auserwählten und den Verdammten, zwischen dem Volk Jahwes und der universalen Macht der Ungläubigen, Gegenstand der eigenen, bitteren Erfahrung geworden, den die hundert kleinen Schikanen des Ghettolebens selbst den Unempfindlichsten zum Bewußtsein gebracht hatten. (Fs)

366b Jetzt hatten die Revolution und der Aufstieg des Liberalismus diesen Zustand beendet. Die Juden waren aus dem Ghetto in die Welt hinausgetreten und hatten in der neuen bürgerlichen Zivilisation das Bürgerrecht erhalten. In diesem Augenblick der jüdischen Geschichte tritt Karl Marx auf den Plan. Er hatte seine Zugehörigkeit zu der jüdischen Gemeinschaft verloren, denn er war der Sohn einer christlichen Konvertitin, aber er konnte sein jüdisches Erbe und seinen jüdischen Geist nicht verleugnen und der gehorsame Diener der Zivilisation der Ungläubigen werden, der sein Vater gewesen war. Sein ganzer Geist empörte sich gegen die Normen und Ideale der kleinlichen bürgerlichen Gesellschaft, in der er aufgewachsen war; aber dabei hatte er von der verbotenen Frucht des neuen Wissens gekostet und konnte ebensowenig zum Talmud wie in das Ghetto zurückkehren. Der einzige Weg der Flucht, der ihm offen blieb, war die revolutionäre Tradition, die damals auf der Höhe ihres Ansehens und ihrer Verbreitung stand. In ihr fanden seine bewußte Ablehnung der bürgerlichen Zivilisation und die tiefe Empörung seiner verdrängten religiösen Instinkte unmittelbare Befriedigung. (Fs)

367a Die drei grundlegenden Elemente des jüdischen Verhaltens in der Geschichte: der Gegensatz zwischen dem auserwählten Volk und der Welt der Ungläubigen, das unerbittliche göttliche Gericht über diese und die Wiedereinsetzug des ersteren im messianischen Reich - fanden sämtlich ihre entsprechenden Gegenstücke in dem revolutionären Glauben von Karl Marx. Der Bürger nahm die Stelle des Ungläubigen ein und die wirtschaftlich Armen - das Proletariat - traten an die Stelle der Armen im Geist des Neuen Testamentes. (Fs)

Ebenso entspricht die bevorstehende Umwälzung durch die soziale Revolution, die nicht durch menschliche Kraft und menschlichenWillen zustande kommt, sondern durch die immanente Dialektik der Geschichte, dem Tag von Jahwes Gericht und dem Urteil über die Ungläubigen, während das messianische Reich eine offensichtliche Parallele in der Diktatur desProletariates findet, die dauern wird, bis sie jede Herrschaft, Autorität und Macht vernichtet hat, und die schließlich ihr Reich der klassen- und staatenlosen Gesellschaft der Zukunft übergeben wird, die alles in allem sein wird. (Fs)
367b Diese soziale Apokalypse ist der eine Teil der marxistischen Gedankenwelt und, wie ich glaube, bei weitem der wichtigste. Der andere besteht aus den historischen und philosophischen Thesen, die sie verstandesmäßig rechtfertigen und die, ob sie nun in dem Gesamtsystem primärer oder sekundärer Natur sind, nach ihrem eigenen Wert beurteilt werden müssen. (Fs)

367b Diese soziale Apokalypse ist der eine Teil der marxistischen Gedankenwelt und, wie ich glaube, bei weitem der wichtigste. Der andere besteht aus den historischen und philosophischen Thesen, die sie verstandesmäßig rechtfertigen und die, ob sie nun in dem Gesamtsystem primärer oder sekundärer Natur sind, nach ihrem eigenen Wert beurteilt werden müssen. (Fs)


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