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Autor: Dawson, Christopher

Buch: Gestaltungskräfte der Weltgeschichte

Titel: Gestaltungskräfte der Weltgeschichte

Stichwort: Geschichte, Sinn; Ende des Mittelalters, Ende einer gemeinsamen sakralen Tradition; 2. Reformation; Renaissance; sichtbare Kirche - Gemeinschaft der Heiligen; Fragmentierung d. Geschichte; Sozinianismus, Chiliasmus; Croce: Ggs. d. Prinzipien

Kurzinhalt: Die Männer der Reformation ... lehnten es ab, diese göttliche Gesellschaft mit der sichtbaren, hierarchischen Kirche zu identifizieren ... Die wahre Kirche war nicht dieses zweite Babylon, sondern die Gemeinschaft der Auserwählten ...

Textausschnitt: 312a Denn das Ende des Mittelalters stand im Zeichen des großen religiösen Umsturzes, der die Einheit des abendländischen Christentums vernichtete und die Völker Europas durch den Kampf der Sekten und den Konflikt entgegengesetzter religiöser Traditionen trennte. Es gab keinen gemeinsamen katholischen Glauben mehr und daher auch keine gemeinsame sakrale Tradition oder gemeinsame Geschichtsdeutung. Die Reformation übernahm zwar viel mehr vom Mittelalter, als sie selbst erkannte. Das gilt ganz besonders für die Geschichtsdeutung. Ihre Geschichtsauffassung fußte genauso wie die des Mittelalters auf der Bibel und dem heiligen Augustinus, und das auf dem Gegensatz und Konflikt der beiden Städte beruhende Bild der Weltgeschichte beeinflußte Luther und Calvin und die puritanischen Prediger des 17. Jahrhunderts genauso, wie es fünfhundert Jahre vorher die katholischen Reformatoren beeinflußt hatte. (Fs) (notabene)

312b Trotzdem ist die katholische Geschichtsdeutung mit der katholischen Auffassung von dem Wesen und Amt der Kirche organisch verbunden, und soferne der Protestantismus eine neue Auffassung von der Kirche mit sich brachte, rief er letzten Endes auch eine neue Geschichtsdeutung hervor. So ist schon lange vor dem Auftreten der neuen Wissenschaften der Bibelkritik und der Kirchengeschichte, welche die Einstellung des modernen Protestantismus gegenüber der katholischen Tradition so tief beeinflußt haben, eine Verschiedenheit zwischen der katholischen und der protestantischen Geschichtsdeutung klar erkennbar. (Fs) (notabene)

313a Auf den ersten Anblick ist der Unterschied zwischen dem Katholizismus und dem Protestantismus im 16. Jahrhundert ein Unterschied zwischen der traditionellen und der revolutionären Auffassung vom Christentum und der Kirche. Für den Katholiken war die Kirche das Reich Gottes auf Erden - in via -, die übernatürliche Gesellschaft, durch die und in der allein die Menschheit ihr wahres Ziel verwirklichen konnte. Sie war eine sichtbare Gesellschaft mit eigenem Gesetz und eigener Verfassung, die eine göttliche und unfehlbare Autorität besaß. Sie blieb durch alle Zeiten hindurch ein und dieselbe, wie eine auf einem Hügel liegende, für alle Menschen weithin sichtbare Stadt, die von einer Generation zur anderen dasselbe anvertraute Glaubensgut und dasselbe Autoritätsmandat weitergab, die sie von ihrem göttlichen Stifter erhalten hatte, und die sie ungeteilt und intakt bis zum Ende der Zeiten bewahren würde. (Fs) (notabene)

313b Die Männer der Reformation hingegen bekannten sich zwar zu einer ähnlichen Auffassung von der Kirche als der Gemeinschaft, durch die Gottes Plan mit den Menschen verwirklicht würde, aber sie lehnten es ab, diese göttliche Gesellschaft mit der sichtbaren, hierarchischen Kirche zu identifizieren, wie die Geschichte sie kennt. Der katholischen Auffassung der Kirche als dem sichtbaren Gottesstaat hielten sie das apokalyptische Bild einer abgefallenen Kirche entgegen, einer Hure, die vom Blut der Heiligen trunken ist, die auf den sieben Hügeln sitzt und die Völker durch ihre Pracht und ihre bösen Zauber berauscht. Die wahre Kirche war nicht dieses zweite Babylon, sondern die Gemeinschaft der Auserwählten, der verborgenen Heiligen, die der Lehre der Bibel mehr gehorchten als denen der Hierarchie und die weit eher unter den sogenannten Ketzern - den Hussiten, Wycliffiten, Waldensern und anderen - zu finden waren als unter den Dienern der offiziellen, institutionellen Kirche. (Fs) (notabene)

313c Die Folge dieser revolutionären Haltung gegenüber der historischen Kirche war eine revolutionäre Auffassung der Geschichte, die als eine zusammenhanglose Reihe katastrophenhafter und apokalyptischer Ereignisse angesehen wurde. "Die Kirche ist eine Reihe von Auferstehungen", schreibt Calvin. "Immer wieder wird sie lasterhaft, das Wort Gottes wird nicht mehr gepredigt, ihr Leben scheint erloschen, bis Gott von neuem Propheten und Lehrer schickt, damit sie von der Wahrheit Zeugnis ablegen und die evangelische Lehre in ihrer ursprünglichen Reinheit verkündigen." So kann man die Reformation mit der Renaissance vergleichen, denn sie war ein Versuch, auf die Zeiten vor dem Mittelalter zurückzugreifen, tausend Jahre historischer Entwicklung auszulöschen und die christliche Religion in ihrer ursprünglichen "klassischen" Form wiederherzustellen. Andererseits brachte diese Rückkehr zur Vergangenheit das protestantische Denken in einen erneuten Kontakt mit den jüdischen und apokalyptischen Ursprüngen der christlichen Geschichtsauffassung, so daß die Reformation zu einer stärkeren Betonung der jüdischen und apokalyptischen Elemente in der christlichen Tradition gegenüber den griechischen, patristischen und metaphysischen Elementen führte, die in der patristischen Orthodoxie und im mittelalterlichen Katholizismus so stark vertreten waren. (Fs) (notabene)

314a Von da an finden wir zwei Tendenzen im protestantischen Denken, deren extremer Ausdruck der Sozinianismus und der Chiliasmus sind. Der eine stellt den Versuch dar, alle späteren Hinzufügungen auszumerzen, die Religion von der Geschichte zu trennen und das reine, zeitlose Wesen des Christentums wiederherzustellen. Der andere besteht aus einer undifferenzierten und leidenschaftlichen neuerlichen Betonung des Zeitfaktors im Christentum und einem Versuch, es von allen seinen nicht-jüdischen, mystischen, philosophischen und theologischen Elementen zu reinigen. Der sich daraus ergebende Typus der Religion führte zu einigen der ärgsten Exzesse des Fanatismus und der Vernunftwidrigkeit; andererseits war er seiner Gesinnung nach ungemein sozial, wie wir es zum Beispiel an den Wiedertäufern sehen, und bemühte sich ernsthaft, wenn auch in einer einseitigen und übermäßig vereinfachten Form, eine christliche Geschichtsdeutung herbeizuführen. (Fs)

314b Aber obwohl diese beiden Tendenzen einander zu widersprechen scheinen, schlossen sie einander nicht vollständig aus. So war John Milton zum Beispiel gleichzeitig Chiliast und Sozinianer, und die Unitarier des 18. Jahrhunderts, die den sozinianischen Typus des Protestantismus fast in Reinkultur darstellten, übernahmen von der entgegengesetzten Tradition eine Art verweltlichten Chiliasmus, der sich in der Lehre vom Fortschritt ausdrückte. Die Entwicklung dieser rationalisierten Theologie und dieses weltlichen Chiliasmus in ihren revolutionär-sozialistischen oder revolutionär-liberalen Formen - besonders aber in den letzteren - ist von zentraler Bedeutung für das Verständnis der modernen Kultur. Es war eigentlich eine zweite Reformation, die versuchte, die Religion noch vollständiger und drastischer zu rationalisieren und zu spiritualisieren als die erste, die aber damit endete, daß sie das Christentum aller übernatürlichen Elemente entkleidete und die Geschichte als die fortschreitende Entwicklung eines immanenten Prinzips auslegte. (Fs) (notabene)

315a So ist nicht nur die materialistische, sondern auch die idealistische Geschichtsdeutung unvereinbar mit der traditionellen christlichen Anschauung, da sie jedes Gefühl des Andersseins Gottes und der Transzendenz, jedes Bewußtsein des göttlichen Gerichtes und der göttlichen Gnade ausschaltet, die der Inbegriff der christlichen Einstellung gegenüber der Geschichte sind. Das gilt sowohl für den Protestantismus wie für den Katholizismus. Trotzdem muß man zugeben, daß die Wirkung bei diesem viel heftiger und schmerzlicher ist. Die Protestanten konnten - teilweise weil die großen idealistischen Denker wie Kant selbst protestantischer Herkunft waren und ein starkes protestantisches Ethos bewahrt hatten - die idealistische Deutung der Geschichte ohne ernstlichen Konflikt hinnehmen; ebenso entwickelte sich die neue liberale Theologie der Immanenz stärker aus protestantischen als aus katholischen Grundideen. Der Katholizismus zeigte dagegen nur wenig Sympathien für die idealistische Bewegung und neigte dazu, sie als eine äußerliche und unreligiöse Potenz zu betrachten. Seine Einstellung war gleichzeitig traditionalistischer und realistischer als die des Protestantismus; er ließ die Idee eines unumstößlichen Fortschrittsgesetzes, in dem die liberalen wie die protestantischen Idealisten die Grundlage ihres Denkens und das Grundprinzip ihrer Deutung der Geschichte sahen, nicht ohne weiteres gelten. Infolgedessen besteht ein scharfer Gegensatz zwischen der katholischen und der liberal-idealistischen Philosophie, den es in der protestantischen Welt kaum gibt. Es ist, wie Croce in seiner "Geschichte Europas im 19. Jahrhundert" klar darlegt, kein Konflikt zwischen Religion und Wissenschaft oder Religion und Philosophie, sondern ein Konflikt zwischen zwei rivalisierenden Glaubensbekenntnissen, der auf einem unversöhnlichen Gegensatz der Prinzipien beruht und zu einer völlig verschiedenen Weltanschauung führt. Denn die idealistischen Begriffe des Monismus, der Immanenz und der Selbstbestimmung sind - wieder nach Croce - die Negierung der Prinzipien der göttlichen Transzendenz, der göttlichen Offenbarung und der göttlichen Autorität, auf denen die katholische Auffassung von Gott und dem Menschen, von der Schöpfung, der Geschichte und dem Ende der Geschichte beruht. (Fs)

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