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Autor: Dawson, Christopher

Buch: Gestaltungskräfte der Weltgeschichte

Titel: Gestaltungskräfte der Weltgeschichte

Stichwort: Augustinus; Gottesstaat - civitas terrena; Staat: Krieg - Frieden; Turmbau zu Babel - Gnade; Seele: Mittelpunkt des Geschichtsprozesses

Kurzinhalt: Er deutet den Lauf der Weltgeschichte als einen nie endenden Konflikt zwischen zwei dynamischen Prinzipien, die durch zwei Gesellschaften und zwei Gesellschaftsordnungen verkörpert werden, die civitas terrena und den Gottesstaat ...

Textausschnitt: 268b Diese Auffassung der Geschichte fand ihren klassischen Ausdruck im "Gottesstaat" des heiligen Augustinus. Er deutet den Lauf der Weltgeschichte als einen nie endenden Konflikt zwischen zwei dynamischen Prinzipien, die durch zwei Gesellschaften und zwei Gesellschaftsordnungen verkörpert werden, die civitas terrena und den Gottesstaat - Babylon und Jerusalem -, die nebeneinander bestehen, sich vermischen und an denselben weltlichen Gütern und weltlichen Übeln teilhaben, die aber durch eine unendliche spirituelle Kluft voneinander getrennt sind. So sieht der heilige Augustinus die Geschichte als den Punkt, an dem Zeit und Ewigkeit aufeinanderstoßen. Die Geschichte ist eine Einheit, weil die göttliche Macht, die sich in der Ordnung der Natur, angefangen von den Sternen bis zu den Federn des Vogels und den Blättern des Baumes, äußert, auch die Entstehung und den Untergang der Königreiche und Imperien bestimmt. Aber diese göttliche Ordnung wird ständig durch die Schwerkraft der menschlichen Natur aus ihrer Richtung gelenkt; denn diese zieht herab zu ihren eigenen, egoistischen Zielen. Sie ist eine Kraft, die trachtet, sich in den politischen Konstruktionen, die der gestaltgewordene Ausdruck des menschlichen Ehrgeizes und Strebens nach Macht sind, ihre eigene Welt zu erbauen. Das bedeutet aber nicht, daß der heilige Augustinus den Staat als solchen mit der civitas terrena identifiziert und ihn als etwas grundsätzlich Schlechtes ablehnt. Es zeigt im Gegenteil, daß sein eigentliches Ziel-die Erhaltung des weltlichen Friedens - etwas ist, das mit dem höheren Gut des Gottesstaates in Einklang steht, so daß der Staat seinem wahren Wesen nach weniger der Ausdruck des Eigenwillens und Machthungers ist als eine notwendige Schranke, welche die menschliche Gesellschaft gegen ihre Vernichtung durch diese Mächte schützt. Nur wenn der Krieg und nicht der Frieden zum Ziel des Staates wird, wird er mit der civitas terrena im schlechten Sinn identisch. Aber wir sehen nur zu deutlich, daß der räuberische Staat, der sich von Kriegen und Eroberungen nährt, eine historische Wirklichkeit ist. Das Urteil des heiligen Augustinus über die weltliche Geschichte ist ein grundlegend pessimistisches, demzufolge die Reiche dieser Erde auf der Ungerechtigkeit aufgebaut sind und durch Kriege und Bedrückung wachsen. Das Ideal des weltlichen Friedens, das der Idee des Staates zugrunde liegt, ist niemals stark genug, um die dynamische Kraft des menschlichen Eigennutzes zu besiegen und daher ist die gesamte Geschichte, abgesehen von der göttlichen Gnade, eine Aufzeichnung einander folgender Versuche eines Turmbaues zu Babel, die an dem Egoismus und der Habgier der menschlichen Natur scheitern. (Fs) (notabene)

269a Diese Ausnahme ist jedoch ausschlaggebend. Denn die blinden Kräfte des Instinktes und der menschlichen Leidenschaft sind nicht die einzigen Mächte, die die Welt regieren, Gott hat seine Schöpfung nicht im Stich gelassen. Er teilt dem Menschen durch die Gnade Christi und das Wirken des Heiligen Geistes die spirituelle Kraft der göttlichen Liebe mit, die allein imstande ist, die menschliche Natur zu verwandeln. So wie die Naturkraft der Eigenliebe die Welt zur Vielheit, zur Unordnung und zum Tod herabzieht, so führt uns die übernatürliche Macht der göttlichen Liebe zurück zur Ordnung und zum Leben. Hier liegt die wahre Einheit und Bedeutung der Geschichte. Denn die Liebe ist nach der Lehre des heiligen Augustinus das Prinzip der Gesellschaft, und so wie die zentrifugale und destruktive Macht der Eigenliebe die in sich gespaltene Gesellschaft der civitas terrena schafft, so schafft die einigende und schöpferische Macht der göttlichen Liebe den Gottesstaat, die Gesellschaft, die alle Menschen guten Willens zu einer ewigen Gemeinschaft zusammenschließt, die sich im Lauf der Zeiten immer mehr verwirklicht. (Fs)

270a Auf diese Weise betont der heilige Augustinus vielleicht mehr als jeder andere christliche Denker den sozialen Charakter der christlichen Heilslehre. "Denn von woher würde unser Gottesstaat seinen Ausgang nehmen, seinen Fortgang erfahren und seinen verdienten Abgang erleben, wenn das Leben der Heiligen nicht auf die Gemeinschaft bedacht wäre1?" Gleichzeitig aber macht er die einzelne Seele und nicht den Staat oder die Kultur zum eigentlichen Mittelpunkt des Geschichtsprozesses. Wo immer die Macht der göttlichen Liebe den menschlichen Willen beseelt, wird der Gottesstaat erbaut. Selbst die Kirche, das sichtbare, sakramentale Organ des Gottesstaates, ist nicht mit ihm identisch. Denn, wie er schreibt, "für Gottes Vorherwissen stehen viele, die sich scheinbar draußen befinden, drinnen, und viele, die sich scheinbar drinnen befinden, stehen draußen"2. So gibt es die Menschen außerhalb der Gemeinschaft der Kirche, "die der Vater, der im Verborgenen sieht, heimlich krönt"3. Denn die beiden Städte durchdringen einander in solcher Weise und in einem solchen Maße, daß "das irdische Reich die Dienste des Himmelreiches und das Himmelreich die Dienste der irdischen Stadt erfordert"4. (Fs) (notabene)

270b Es ist unmöglich, den Einfluß des heiligen Augustinus auf die Entwicklung der christlichen Auffassung der Geschichte und die gesamte Tradition der abendländischen Geschichtsschreibung zu überschätzen. Sie verfolgt eine ganz andere Richtung als die orientalische und byzantinische. Der moderne Leser, der erwartet, bei dem heiligen Augustinus eine Geschichtsphilosophie zu finden und der sich begreiflicherweise mit den geschichtlichen Teilen seines großen Werkes, besonders mit dem fünfzehnten und achtzehnten Buch befaßt, wird wahrscheinlich schmerzlich enttäuscht sein. Aber obwohl der heilige Augustinus niemals ein christlicher Historiker war wie Eusebius, so hatte doch sein Werk eine weit revolutionärere Wirkung auf das abendländische Denken. Erstens impfte er den christlichen Historikern seine Auffassung der Geschichte als eines dynamischen Prozesses ein, in dem sich die göttliche Absicht verwirklicht. Zweitens zeigte er den Menschen, auf welche Weise die individuelle Persönlichkeit Ursprung und Mittelpunkt dieses dynamischen Prozesses ist. Und schließlich brachte er der abendländischen Kirche ihre geschichtliche Mission und ihre soziale und politische Verantwortung zum Bewußtsein, so daß sie in den darauffolgenden Jahrhunderten das aktive Prinzip der abendländischen Kultur wurde. (Fs) (notabene)

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