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Autor: Dawson, Christopher

Buch: Gestaltungskräfte der Weltgeschichte

Titel: Gestaltungskräfte der Weltgeschichte

Stichwort: Christentum, Geschichte; Möglichkeit d. Interpretation d. G. - Historismus; Geschichtsphilosophie - Geschichtstheologie; Inkarnation; heilige G. im strengen Sinn (Anfang, Mitte, Ende), Paradox des Evangeliums, Paulus, Weltalter - Weltreiche; Hermas

Kurzinhalt: So ist das christliche Geschichtsbild nichts Sekundäres, aus philosophischen Erwägungen und dem Studium der Geschichte Abgeleitetes. Es ist im innersten Kern des Christentums enthalten und bildet einen unerläßlichen Bestandteil des christlichen Glaubens.

Textausschnitt: 1 DIE CHRISTLICHE GESCHICHTSAUFFASSUNG

261a Das Problem der Beziehungen des Christentums zu der Geschichte wurde durch die Philosophie des 19. Jahrhunderts sehr kompliziert und, meiner Meinung nach, verwirrt. Fast alle großen idealistischen Philosophen dieses Jahrhunderts wie Fichte, Schelling und Hegel arbeiteten kunstvolle geschichts-philosophische Systeme aus, die einen beträchtlichen Einfluß auf die Historiker - und zwar besonders die deutschen -, aber auch auf die Theologen ausübten. Alle diese Systeme waren durch christliche Gedanken angeregt oder gefärbt und wurden daher von den christlichen Theologen freudig für apologetische Zwecke aufgegriffen. So entstand ein Bündnis zwischen der idealistischen Philosophie und der deutschen Theologie, das typisch für die liberal-protestantische Bewegung wurde und das religiöse Denken auf dem Kontinent, aber auch in England während des späteren 19. Jahrhunderts beherrschte. (Fs)

261b Heute ist die Situation eine völlig veränderte. Der philosophische Idealismus und der liberale Protestantismus haben ihr Ansehen verloren; an ihre Stelle trat der logische Positivismus und die dialektische Theologie der Jünger Barths. Infolgedessen hat auch die Idee einer christlichen Geschichtsphilosophie durch die Reaktion gegen den philosophischen Idealismus gelitten. Es ist schwer, das authentische und ursprüngliche Element der christlichen Geschichtsauffassung von den philosophischen Hinzufügungen und Auslegungen der letzten hundertfünfzig Jahre zu trennen; daher findet man moderne Vertreter des strenggläubigen Christentums wie C. S. Lewis, die an der Möglichkeit einer christlichen Interpretation der Geschichte zweifeln und erklären, die angebliche Beziehung zwischen Christentum und Historismus sei größtenteils eine Illusion1. (Fs)

262a Wenn wir das Thema vom rein philosophischen Standpunkt aus betrachten, finden wir eine Menge Dinge, die Lewis' Skepsis scheinbar rechtfertigen. Denn die klassische Tradition der christlichen Philosophie, wie der Thomismus sie darstellt, hat sich mit der Frage der Geschichte verhältnismäßig wenig beschäftigt; aber die Philosophen, die der Geschichte am meisten Wert beimessen und den engen Zusammenhang zwischen Christentum und Geschichte am stärksten betonen, wie Collingwood, Croce und sogar Hegel, sind nicht christlich eingestellt und neigten vielleicht dazu, das Christentum nach den Begriffen ihrer eigenen Philosophie auszulegen. (Fs)

262b Stellen wir daher jede philosophische Diskussion zurück und betrachten wir die Frage auf Grund der ursprünglichen theologischen Gegebenheiten des historischen Christentums, ohne sie durch irgendwelche philosophische Argumente rechtfertigen oder kritisieren zu wollen. Das ist nicht sehr schwer, da sich die klassische und traditionelle christliche Philosophie, wie der Thomismus sie darstellt, niemals sehr eingehend mit dem Problem der Geschichte befaßt hat. Ihre Tradition war eine griechische und aristotelische, während die christliche Geschichtsdeutung von einem anderen Ursprung ausging. Sie ist mehr jüdisch als griechisch und findet ihren vollständigsten Ausdruck in den primären Dokumenten des christlichen Glaubens: in den Schriften der jüdischen Propheten und im Neuen Testament. (Fs) (notabene)

262c So ist das christliche Geschichtsbild nichts Sekundäres, aus philosophischen Erwägungen und dem Studium der Geschichte Abgeleitetes. Es ist im innersten Kern des Christentums enthalten und bildet einen unerläßlichen Bestandteil des christlichen Glaubens. Daher gibt es keine christliche Geschichtsphilosophie im strengen Sinn des Wortes. Aber es gibt eine christliche Geschichte und eine christliche Geschichtstheologie, und es ist keine Übertreibung, wenn man sagt, daß es ohne sie kein Christentum gäbe. Denn das Christentum ist, ebenso wie die jüdische Religion, aus der es hervorgegangen ist, eine historische Religion in einem Sinne, auf den keine andere Weltreligion Anspruch erheben kann, nicht einmal der Islam, obwohl dieser ihm in dieser Hinsicht am nächsten steht. (Fs) (notabene)

263a Daher ist es sehr schwierig und vielleicht sogar unmöglich, einem Nicht-Christen die christliche Auffassung der Geschichte zu erklären; denn man muß auf dem Boden des christlichen Glaubens stehen, um die christliche Geschichtsauffassung zu verstehen. Wer die göttliche Offenbarung ablehnt, muß zwangsläufig auch die christliche Geschichtsauffassung ablehnen. Selbst wer bereit ist, theoretisch das Prinzip einer göttlichen Offenbarung, die Manifestation einer religiösen Wahrheit, die über den menschlichen Verstand hinausgeht, gelten zu lassen, wird es vielleicht trotzdem schwer finden, mit den ungeheuren Paradoxen des Christentums fertigzuwerden. (Fs)

263b Daß Gott einen unbekannten Stamm in Palästina, noch dazu keinen besonders hochzivilisierten oder anziehenden Stamm, zum Werkzeug seines universalen Vorhabens mit der Menschheit erwählt hat, ist schwer zu glauben. Aber daß dieser Plan schließlich in der Person eines unter Tiberius hingerichteten galiläischen Bauern verwirklicht wurde und daß dieses Ereignis der Wendepunkt in der Geschichte der Menschheit und der Schlüssel zum Sinn der Geschichte wurde, das alles zu glauben ist für den menschlichen Geist so schwer, daß es selbst bei den Juden Ärgernis erregte, während es den griechischen Philosophen und den weltlichen Geschichtsschreibern als reine Torheit erschien. Aber das sind nun einmal die Grundlagen der christlichen Auffassung der Geschichte und wenn wir sie nicht bejahen können, ist es zwecklos, idealistische Theorien auszuarbeiten und sie eine christliche Geschichtsphilosophie zu nennen, wie es in früheren Zeiten oft geschehen ist. Denn die christliche Auffassung der Geschichte ist nicht nur ein Glaube an ihre Lenkung durch die göttliche Vorsehung, sondern ein Glaube an das unmittelbare Eingreifen Gottes in das Leben der Menschheit an gewissen Punkten von Ort und Zeit. Die Menschwerdung, der Mittelpunkt der christlichen Glaubenslehre, ist auch der Mittelpunkt der Geschichte, und so ist es nur natürlich und angemessen, daß unsere traditionelle christliche Geschichte in ein chronologisches System eingebaut ist, welches das Jahr der Menschwerdung zum Angelpunkt macht und von diesem feststehenden Punkt aus die Jahre nach vor- und rückwärts berechnet. (Fs) (notabene)

264a Sicher kann man sagen, daß die Idee einer göttlichen Inkarnation nicht auf das-Christentum beschränkt ist. Aber wenn man die typischen Beispiele dafür in den nicht-christlichen Religionen wie zum Beispiel in der strenggläubigen hinduistischen Form der Bhagavad-Gita betrachtet, sieht man, daß sie keine solche Bedeutung für die Geschichte haben wie in der christlichen Lehre. Nicht nur, daß die göttliche Gestalt Krischnas legendär und unhistorisch ist, sondern keine göttliche Inkarnation wird als etwas Einmaliges angesehen; sie ist ein Einzelbeispiel eines Prozesses, der sich immer von neuem und ad infinitum in dem ewigen Abrollen des kosmischen Kreislaufes wiederholt. (Fs)

Gegenüber solchen Gedanken, wie sie zum Beispiel die gnostische Theosophie vertritt, betonte der heilige Irenäus die Einmaligkeit der christlichen Offenbarung und die notwendige Beziehung zwischen der göttlichen Einheit und der Einheit der Geschichte: "Daß es einen Vater gibt, den Schöpfer der Menschen, und einen Sohn, der den Willen des Vaters erfüllt, sowie eine Menschheit, in der sich die Geheimnisse Gottes auswirken, so daß das Seinem Sohn ähnlich gewordene und mit Ihm verbundene Geschöpf zur Vollkommenheit gelangt."

264b Denn die christliche Lehre von der Menschwerdung ist nicht einfach eine Theophanie - eine Offenbarung Gottes vor den Menschen; sie bedeutet etwas Neues: die Einführung eines neuen spirituellen Prinzips, das die menschliche Natur allmählich durchdringt und sie in etwas Neues umwandelt. Dieses einmalige göttliche Ereignis ist der Angelpunkt der Geschichte der Menschheit und verleiht dem gesamten Prozeß der Geschichte seine geistige Einheit. Da ist zunächst die Geschichte des Alten Bundes; sie ist die Geschichte der Vorbereitung der Menschheit auf die Menschwerdung durch die Vorsehung bis, nach den Worten des heiligen Paulus, "die Fülle der Zeiten" gekommen war. Zweitens gibt es den Neuen Bund; er ist die Auswirkung der Menschwerdung im Leben der christlichen Kirche. Und endlich haben wir die Verwirklichung des göttlichen Planes in der Zukunft durch die schließliche Aufrichtung des Gottesreiches, wenn die Ernte dieser Welt eingesammelt wird. So ist die christliche Geschichtsauffassung ihrem Wesen nach eine einheitliche. Sie hat einen Anfang, einen Mittelpunkt und ein Ende. Dieser Anfang, dieser Mittelpunkt und dieses Ende reichen über die Geschichte hinaus; sie sind nicht geschichtliche Ereignisse im gewöhnlichen Sinn des Wortes, sondern Handlungen göttlichen Ursprungs, denen der gesamte Prozeß der Geschichte untergeordnet ist. Denn die christliche Geschichtsauffassung ist eine geschichtliche Schau sub speciae aeternitatis, eine Deutung der Zeit in Begriffen der Ewigkeit und der menschlichen Ereignisse im Licht der göttlichen Offenbarung. Daher ist die christliche Geschichte zwangsläufig apokalyptisch, und die Apokalypse ist der christliche Ersatz für die weltlichen nGeschichtsphilosophien. (Fs) (notabene)

265a Das bringt jedoch eine revolutionäre Umkehr und Umstellung der geschichtlichen Werte und Urteile mit sich. Denn der wahre Sinn der Geschichte ist nicht der augenfällige, den die Historiker untersucht und die Philosophen zu erklären versucht haben. Die Ereignisse, welche die Welt verändert und den Lauf der menschlichen Geschichte verwandelt haben, geschahen sozusagen unter der Oberfläche, unbemerkt von den Historikern und Philosophen. Das ist das große Paradox des Evangeliums, das der heilige Paulus mit so ungeheurem Nachdruck betont. Das große Mysterium des göttlichen Planes, das durch alle Zeiten verborgen war, ist jetzt angesichts von Himmel und Erde durch das Amt der Apostel kundgemacht worden. Aber die Welt war nicht imstande daran zu glauben, weil es durch unbekannte, unscheinbare Männer in einer Form verkündet wurde, die für die damalige höhere Kultur, die griechische wie die jüdische, unannehmbar und unverständlich war. Die Griechen fordern philosophische Theorien, die Juden historische Beweise. Aber die Antwort des Christentums ist der gekreuzigte Christus - verbum crucis - die Geschichte des Kreuzes: den Juden ein Ärgernis und den Griechen eine Torheit. Erst wenn man dieses ungeheure Paradox mit seiner Umkehr aller bisherigen Werte bejaht hat, kann man den Sinn des menschlichen Lebens und der menschlichen Geschichte verstehen. Denn der heilige Paulus will natürlich nicht den Wert des Verständnisses abstreiten oder behaupten, daß die Geschichte keinen Sinn hat. Er stellt nur den geheimnisvollen und übernatürlichen Charakter des wahren Wissens fest, - "dieses Geheimnis, das Gott von Ewigkeit her zu unserer Herrlichkeit bestimmt hat und das den Herrschern dieser Welt verborgen ist"2. Ebenso ließ er die jüdische Lehre einer heiligen Geschichte voll gelten, die Gottes Umgang mit den Menschen rechtfertigt. Was er leugnete, war eine materielle Rechtfertigung durch die sichtbare Erfüllung der jüdischen nationalen Hoffnungen. Die Wege Gottes sind tiefer und geheimnisvoller als das, so daß die Erfüllung der Weissagung, zu der die gesamte Geschichte Israels hinführte, für Israel durch das Ärgernis des Kreuzes verhüllt wurde. Trotzdem folgt die christliche Deutung der Geschichte, wie wir sie im Neuen Testament und in den Schriften der Kirchenväter finden, den Grundzügen, die schon im Alten Testament und in der jüdischen Überlieferung festgelegt worden waren. (Fs) (notabene)

266a Es gibt in erster Linie eine heilige Geschichte im strengen Sinn, das heißt die Geschichte von Gottes Umgang mit Seinem Volk und von der Erfüllung Seines ewigen Planes in diesem und durch dieses. Zweitens gibt es die Deutung der äußeren Geschichte im Lichte dieses zentralen Planes. Dieser nahm die Form einer Lehre aufeinanderfolgender Weltalter an, die sämtlich eine Rolle in dem göttlichen Schauspiel zu erfüllen hatten. Die Lehre von den Weltaltern, die in die jüdische apokalyptische Überlieferung aufgenommen und schließlich von der christlichen Apokalyptik übernommen wurde, war jedoch ihrem Ursprung nach nicht jüdisch. Sie war zur Zeit des Hellenismus in der Welt des Altertums weit verbreitet und ihre Ursprünge gehen wahrscheinlich auf die babylonische Kosmologie und Astraltheologie zurück. Die Lehre von den Weltreichen ist dagegen ihrem Geiste nach deutlich biblisch und gehört zu der zentralen Botschaft der jüdischen Prophetie. Denn das göttliche Gericht, dessen Verkündigung die Aufgabe der Propheten war, war nicht auf das auserwählte Volk beschränkt. Auch die Herrscher der Heiden waren Werkzeuge des göttlichen Gerichtes, selbst wenn sie die Absichten, denen sie dienten, nicht erkannten. Jedes Weltreich hatte seine, ihm von Gott zugewiesene Aufgabe, und wenn diese Aufgabe erfüllt war, ging seine Macht zu Ende und das nächstfolgende trat an seine Stelle. (Fs) (notabene)

267a Der Sinn der Geschichte lag daher nicht in der Geschichte der Weltreiche als solcher. Sie waren nicht Zweck, sondern Mittel zum Zweck, und die innere Bedeutung der Geschichte lag in der scheinbar bedeutungslosen Entwicklung des Gottesvolkes. Diese prophetische Auffassung der Geschichte wurde von der christlichen Kirche übernommen und in einer weiteren und universalen Form angewendet. Das göttliche Ereignis, das den Lauf der Geschichte veränderte, riß auch die Schranken zwischen Juden und Heiden nieder und die beiden getrennten Hälften der Menschheit waren in Christus, dem Eckstein des neuen Weltgebäudes, eins geworden. Die christliche Einstellung gegenüber der weltlichen Geschichte war somit die gleiche wie die der Propheten, und das Römische Reich wurde als Nachfolger der alten Weltreiche wie des babylonischen und persischen angesehen. Aber man erkannte jetzt, daß die heidnische Welt ebenso wie das auserwählte Volk von der Vorsehung einem gemeinsamen geistigen Ziel zugeführt wurden. Dieses Ziel war nicht mehr die Wiederaufrichtung des jüdischen Reiches und die Rückkehr der Verbannten aus dem heidnischen Exil; es war die Vereinigung aller aus dem Geist lebenden Menschen zu einer neuen geistigen Gemeinschaft. Der römische Prophet Hermas, der im 2. Jahrhundert lebte, schildert den Vorgang in dem Bild des weißen Turmes, der mitten im Wasser von Zehntausenden von Menschen erbaut wird, die Steine aus dem Meer heben oder von den zwölf Bergen, dem Symbol der verschiedenen Völker der Erde, herbeischleppen. Einige dieser Steine werden verworfen und einige werden ausgewählt, um für den Bau verwendet zu werden. Und als er "nach den Zeiten fragt" und wissen will, ob dies schon das Ende sei, erhält er die Antwort: "Siehst du nicht, daß noch an dem Turm gebaut wird ? Wenn der Bau vollendet ist, dann ist das Ende nahe."

268a Dieses Bild zeigt, wie das Christentum den Sinn der Geschichte aus der äußeren Welt der geschichtlichen Ereignisse in die innere Welt der geistigen Wandlung verlegt und wie diese als das dynamische Element in der Geschichte und als reale, weltverändernde Kraft aufgefaßt wurde. Es zeigt aber auch, wie das primitive Gefühl eines nahe bevorstehenden Endes eine verkürzte Sicht der Zeit zur Folge hatte und die Aufmerksamkeit der Menschen von der Frage des künftigen Schicksals der menschlichen Zivilisation ablenkte. Erst als das Römische Reich sich zum Christentum bekehrte und die Kirche in Frieden lebte, konnten die Christen zwischen dem Ende des Zeitalters und dem Ende der Welt unterscheiden und sich eine kommende christliche Ära und Kultur vorstellen, die kein Tausendjähriges Reich war, sondern ein Gebiet ständiger Bemühungen und Konflikte. (Fs)

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