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Autor: Hrsg. Michalski, Krzysztof; Robert Spaemann, Bernard Lewis

Buch: Die liberale Gesellschaft

Titel: Die liberale Gesellschaft

Stichwort: Islam, Demokratie; Körperschaft, juristische Person (römisches Recht); waqf; islamischer Staat, Stadt: an Personen gebunden; Legislative, Repräsentationsprinzip; Theokratie im wörtlichen Sinn

Kurzinhalt: Es gibt einige Anzeichen dafür, daß im vorislamischen Arabien solche Körperschaften existierten. Mit dem Aufkommen des Islam verschwanden sie jedoch, und vom Frühislam bis zur Übernahme westlicher Institutionen gab es in der islamischen Welt keine ...

Textausschnitt: 226a Unter historischen Gesichtspunkten kann man zu der Ansicht kommen, daß von allen außerwestlichen Zivilisationen der Islam am besten für die liberale Demokratie geeignet ist. Seine Geschichte, Kultur und Religion stehen dem Christentum am nächsten, da er ebenfalls, wenn auch nicht in vollem Umfang, aus dem Fundus des jüdisch-christlichen und griechisch-römischen Erbes schöpft, das bei der Entstehung unserer modernen Zivilisation Pate stand. Unter politischen Aspekten scheint es allerdings, als hätte die liberale Demokratie im Islam die schlechtesten Aussichten. Von den 46 unabhängigen Staaten, die zusammen die internationale Islamische Konferenz bilden, ist eigentlich nur die Türkische Republik eine Demokratie im westlichen Sinn, und selbst dort ist der Weg zur Freiheit voller Stolpersteine. Von den übrigen Staaten haben es einige noch nie mit der Demokratie versucht, und einige andere sind mit ihrem Versuch gescheitert. Neueren Datums sind die Versuche in einigen wenigen Staaten, mehrere Gruppen an der Macht zu beteiligen, allerdings ohne ein wirklich freies Spiel der Kräfte zuzulassen. (Fs)

226b In der islamischen Welt und außerhalb wird in jüngster Zeit häufiger die Frage erörtert, welche Elemente in der islamischen Vergangenheit und Gegenwart für die Entwicklung der liberalen Demokratie günstig oder ungünstig sind. Abgesehen von der polemischen und apologetischen Behauptung, daß nicht der westliche Liberalismus, sondern der Islam das wahre demokratische System sei bzw. daß der westliche Liberalismus auf einen islamischen Ursprung zurückgehe, hat sich die Diskussion auf einige wenige Punkte konzentriert. (Fs)

226c Jede Zivilisation hat ihre eigenen Vorstellungen vom idealen Staat und schafft sich Institutionen, die mehr oder weniger erfolgreich versuchen, die betreffenden Vorstellungen in die Tat umzusetzen. Seit den Tagen der klassischen Antike gehörte zu diesen Institutionen gewöhnlich auch eine Ratsversammlung oder ein ähnliches Gremium. Es wurde geschaffen, damit Männer, die über die erforderliche Eignung verfügten, auf die Bildung, die Politik und gegebenenfalls auch auf die Absetzung der Regierung Einfluß nehmen konnten. Das Gemeinwesen ließ sich unterschiedlich organisieren, und dasselbe trifft auf die Eignung zu, die ein Mitglied des Gemeinwesens zur Teilhabe an seiner Führung berechtigte. Wie in der griechischen Polis war die Teilhabe manchmal direkt und persönlich, häufiger jedoch wählten die geeigneten Personen nach einem Verfahren, das die Zustimmung aller gefunden hatte und in regelmäßigen Abständen wiederholt wurde, aus ihrer Mitte eine begrenzte Anzahl von Repräsentanten. Es gab verschiedene Formen der Ratsversammlung, die von unterschiedlichen Gremien gewählt wurden und unterschiedliche Aufgaben wahrnahmen, so etwa, wenn politische Entscheidungen zu treffen, Gesetze zu erlassen und Steuern zu erheben waren. (Fs)

227a Daß diese Gremien in der Praxis funktionierten, verdankten sie einem Grundsatz, der im Römischen Recht verankert war und auch in die späteren, von ihm abgeleiteten Rechtssysteme einging. Dabei handelt es sich um die Konstruktion der juristischen Person, d. h. daß eine Körperschaft vor dem Gesetz als Person gilt und infolgedessen Eigentum besitzen, kaufen oder verkaufen, Verträge oder Verbindlichkeiten eingehen und in Zivil- oder Strafrechtsverfahren als Kläger oder Beklagter auftreten kann. Es gibt einige Anzeichen dafür, daß im vorislamischen Arabien solche Körperschaften existierten. Mit dem Aufkommen des Islam verschwanden sie jedoch, und vom Frühislam bis zur Übernahme westlicher Institutionen gab es in der islamischen Welt keine Einrichtung, die mit der griechischen Bule, dem römischen Senat, dem jüdischen Sanhedrin, bis hin zum isländischen Althing, dem angelsächsischen Witenagemot oder einem der zahllosen Parlamente, Ratsversammlungen, Konzile, Synoden und Reichstage in der christlichen Welt vergleichbar wäre. (Fs) (notabene)
227b Die Bildung solcher Gremien bei den muslimischen Völkern wurde durch den Umstand behindert, daß das islamische Recht keine juristischen Personen anerkennt. Zwar sind Ansätze dazu vorhanden: Das islamische Handelsrecht erkennt verschiedene Arten der Partnerschaft zum Zweck begrenzter geschäftlicher Abmachungen an, und wenn ein waqf, eine fromme Stiftung, erst eingerichtet ist, dann besteht er unabhängig von seinem Gründer und kann im Prinzip unbegrenzt Eigentum besitzen, erwerben und veräußern. Aber diese Ansätze blieben immer an ihren ursprünglichen Zweck gebunden und erreichten daher auch niemals jenen Grad von Allgemeinheit, der für die staatlichen, kirchlichen und privaten Körperschaften des Westens kennzeichnend ist. (Fs) (notabene)

228a Das Fehlen von Körperschaften erklärt, warum der muslimische Staat in fast jeder Hinsicht an wirkliche Personen gebunden ist. Auch wenn es manchmal anders aussieht, gibt es eigentlich keinen Staat, sondern nur einen Herrscher, auch keinen Gerichtshof, sondern nur einen Richter, nicht einmal eine Stadt, die über bestimmte Hoheitsrechte verfügte, ein bestimmtes Areal beanspruchte und bestimmte Funktionen ausübte. Die islamische Stadt ist eine Ansammlung von Nachbarschaftsverbänden, die sich nach Kriterien wie Familie, Stamm, Ethnie oder Religionsgemeinschaft definieren, und wird von Beamten verwaltet, die meist Militärangehörige sind und von der obersten Staatsmacht entsandt werden. Sogar der berühmte großherrscherliche osmanische Diwan, der divan-i hümayun, der sich in der Schilderung vieler westlicher Besucher des Osmanischen Reiches wie eine Ratsversammlung ausnimmt, war eher eine Versammlung hoher Beamter aus Politik und Verwaltung, dem Rechts- und Finanzwesen sowie dem Militär, die an bestimmten Wochentagen stattfand und anfangs vom Sultan persönlich, später von seinem Großwesir geleitet wurde. Die anstehenden Fälle wurden dem jeweils zuständigen Mitglied des Diwan vorgelegt, der eine Empfehlung aussprechen konnte, aber letzten Endes trugen der Sultan oder der Großwesir die Verantwortung und hatten daher auch das letzte Wort. (Fs) (notabene)

228b Eine Hauptaufgabe der oben beschriebenen westlichen Gremien war die Gesetzgebung, deren Bedeutung mit den Jahrhunderten immer mehr zunahm. Im islamischen Staat gibt es nach muslimischer Lehre jedoch keine gesetzgeberische Tätigkeit, und so besteht auch kein Bedarf an legislativen Institutionen. Im Prinzip war der islamische Staat eine Theokratie, aber nicht im westlichen Sinne. Er war kein von Kirche und Geistlichkeit regierter Staat, denn beide gab es nicht in der islamischen Welt. Der islamische Staat war vielmehr eine Theokratie im wortwörtlichen Sinn, ein Gemeinwesen, das von Gott regiert wird. Für einen gläubigen Muslim kann alleine Gott Autorität verleihen, und der Herrscher verdankt seine Macht weder seinem Volk noch seinen Vorfahren, sondern Gott und dem heiligen Gesetz. In Wirklichkeit wurde ungeachtet dieses Glaubensgrundsatzes die dynamische Erbfolge zur Regel, aber sie wurde niemals vom heiligen Gesetz sanktioniert. In Wirklichkeit erließen Herrscher auch Vorschriften, aber diese galten zumindest theoretisch nur als Ausführung und Darstellung des geoffenbarten Gottesgesetzes. Im Grunde war der Staat Gottes Staat, sein Volk war Gottes Volk, sein Gesetz Gottes Gesetz, seine Armee Gottes Armee und sein Feind natürlich auch Gottes Feind. (Fs) (notabene)

229a Da die islamische Welt keine Legislative oder eine andere Art der Körperschaft besaß, hatte sie keinen Anlaß, sich auf das Repräsentationsprinzip zu berufen oder Verfahren für die Auswahl von Repräsentanten zu entwickeln. Auch Abstimmungen fanden nicht statt, und mit Ausnahme des Konsensus gab es keine Möglichkeit, eine Mehrheitsentscheidung herbeizuführen und geltend zu machen. Kernprobleme der politischen Entwicklung des Westens, wie die Frage nach dem Wahlmodus oder nach der Festlegung und Ausdehnung des Wahlrechts, waren für die politische Entwicklung des Islam unerheblich. (Fs) (notabene) (notabene)
229b Angesichts dieser Unterschiede kann es n
icht verwundern, daß die Geschichte der islamischen Staaten eine nahezu ununterbrochene Folge von Autokratien ist. Daß einem legitimen muslimischen Herrscher Gehorsam gebührt, ist ein religiöses Gebot, und infolgedessen ist Ungehorsam nicht nur ein Verbrechen, sondern auch eine Sünde. (Fs)

229c Weit davon entfernt, der Autokratie den Stachel zu nehmen, leistete ihr die Modernisierung im 19. und 20.Jahrhundert Vorschub. Zum einen gaben die moderne Technologie, die neuen Kommunikationsmittel und die verbesserten Waffensysteme dem Herrscher zusätzliche Mittel in die Hand, den Uberwachungs-, Propaganda- und Unterdrük-kungsapparat auszubauen. Zum anderen führte die sozio-ökonomische Modernisierung zu einer Schwächung oder sogar Ausschaltung der religiösen Autorität, die in früheren Zeiten als Vermittlungsinstanz aufgetreten war und der Autokratie mit unterschiedlichen Mitteln Grenzen gesetzt hatte. Kein arabischer Kalif oder türkischer Sultan hätte sich in der Vergangenheit erlauben können, eine solche omni-präsente Willkürherrschaft auszuüben wie heute schon der mickrigste Diktator. (Fs)

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