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Autor: Hrsg. Michalski, Krzysztof; Robert Spaemann, Bernard Lewis

Buch: Die liberale Gesellschaft

Titel: Die liberale Gesellschaft

Stichwort: Islam - Demokratie, liberale Gesellschaft; liberale Demokratie: Kind des Westens

Kurzinhalt: Die Frage lautet also: Sind die islamischen Völker in der Lage, ein politisches System zu entwickeln, das sich einerseits mit ihrer eigenen historischen, kulturellen und religiösen Tradition vereinbaren läßt, das jedoch andererseits dem Volk ...

Textausschnitt: 223b Rein äußerlich hat sich die Demokratie überall im Mittleren Orient durchgesetzt. Von der Arabischen Halbinsel abgesehen, besitzt praktisch jedes muslimische Land, wie immer seine Regierung sonst aussehen mag, eine Art Verfassung und eine Art Parlament, das durch den einen oder anderen Wahlmodus gebildet wird. Mit der Verfassung und ihrem Drumherum ist es wie mit einem perfekt geschneiderten Anzug nach westlichem Muster: Ohne sie kann sich kein moderner Staat, der etwas auf sich hält, mehr blicken lassen. (Fs)

223c Manchmal sind die Parlamente bloß groteske Karikaturen eines frei gewählten Abgeordnetenhauses. Dann ähneln sie weniger irgendeiner Form von liberaler Demokratie als den Ansammlungen von Jasagern, die einstmals die Hauptstädte der europäischen Achsenmächte verschandelten. In anderen Fällen besteht innerhalb fest umrissener Grenzen eine gewisse Freiheit der öffentlichen Rede. Aber auch sie ist weniger ein Bestandteil des politischen Entscheidungsprozesses, geschweige denn ein Mittel, um die Regierung zu kontrollieren oder abzulösen, als ein harmloses Ventil für Unzufriedenheit und Meinungsverschiedenheiten. (Fs)

223d Im Zentrum der heutigen Diskussion über die Demokratie in der islamischen Welt steht die bohrende Frage, ob sich die liberale Demokratie überhaupt mit dem Islam vereinbaren läßt. Vielleicht kann man von autokratischen Regimen nicht mehr verlangen, als daß sie wenigstens in gewissem Umfang die Gesetze achten und Kritik ertragen. In der demokratischen Welt gibt es viele verschiedene politische Systeme, wie Republiken und Monarchien, Präsidentschaftssysteme und parlamentarische Demokratien, Staaten mit oder ohne Staatskirche und schließlich eine Vielzahl von Wahlsystemen. Allen gemeinsam sind jedoch bestimmte Grundvoraussetzungen und Verfahrensweisen, die den Unterschied zwischen demokratischen und undemokratischen Regimen ausmachen. Die Frage lautet also: Sind die islamischen Völker in der Lage, ein politisches System zu entwickeln, das sich einerseits mit ihrer eigenen historischen, kulturellen und religiösen Tradition vereinbaren läßt, das jedoch andererseits dem Volk individuelle Rechte und die Einhaltung der Menschenrechte garantiert, so wie diese Begriffe in den freiheitlichen Demokratien des Westens verstanden werden? (Fs) (notabene)

224a Niemand, am wenigsten die islamischen Fundamentalisten selbst, wird behaupten wollen, daß ihr Credo und ihr politisches Programm mit den Prinzipien der liberalen Demokratie vereinbar seien. Aber der islamische Fundamentalismus ist nicht der ganze Islam, sondern nur eine unter vielen islamischen Strömungen. Seitdem vor vierzehnhundert Jahren der Prophet seine Mission verkündete, hat es eine Reihe von Bewegungen gegeben, die ebenso fanatisch, intolerant, aggressiv und gewalttätig waren wie der islamische Fundamentalismus. Sie entstanden, wenn Personen mit einem religiösen Charisma, die jedoch Außenseiter waren, eine Anhängerschaft um sich scharten, indem sie die Verdorbenheit der muslimischen Herrscher und einflußreichen Notabein ihrer Zeit anprangerten und sie für die Verfälschung der Religion und den Niedergang der Gesellschaft verantwortlich machten. Manchmal gelang es der herrschenden Elite, solche Bewegungen aufzuhalten und niederzuschlagen. Von Zeit zu Zeit gelangten solche Bewegungen jedoch auch an die Macht und bedienten sich ihrer, um den heiligen Krieg zu führen, zuerst gegen die vermeintlichen Abtrünnigen und Apostaten im eigenen Land und dann gegen die übrigen Feinde der wahren Religion. Wenn diese Regime nicht wieder abgesetzt wurden, entwickelten sie meist schon nach ziemlich kurzer Zeit Eigenschaften, die kaum angenehmer, in mancher Hinsicht sogar unangenehmer als diejenigen ihrer Vorgänger waren. Etwas in dieser Art läßt sich bereits jetzt in der Islamischen Republik Iran beobachten. (Fs)

225a Alle derartigen Bewegungen in der islamischen Geschichte hatten ihren je eigenen, unverwechselbaren Charakter und ihre eigene Ideologie, die allerdings normalerweise viel mehr von nichtislamischen Gedanken und Gewohnheiten beeinflußt war, als ihren Anhängern lieb sein konnte. Das trifft mit Sicherheit auch auf den heutigen Fundamentalismus zu; selbst wenn er den reinen Islam für sich in Anspruch nimmt, verdankt er uneingestandenermaßen dem christlichen Klerikalismus, der hierarchischen Kirchenverfassung und den mitteleuropäischen absolutistischen Philosophien Wesentliches. Niemand kann über Erfolg oder Mißerfolg der fundamentalistischen Bewegungen Voraussagen treffen. Niemand weiß, ob sie die Macht ergreifen, und wenn ja, in welchen Ländern, wie sie sich dieser Macht bedienen und wie lange sie sich an der Macht halten können. Unzweifelhaft ist nur, daß es mit ihrer ideologischen Reinheit bald vorbei sein wird, wenn sie erst einmal Machtpositionen eingenommen haben. (Fs) (notabene)

225b Die Frage kann also nicht lauten, ob sich die liberale Demokratie mit dem islamischen Fundamentalismus verträgt, denn das ist mit Sicherheit nicht der Fall. Zur Debatte steht vielmehr, ob sich die liberale Demokratie überhaupt mit dem Islam vereinbaren läßt oder, anders gesagt, ob sie sich in einer Gesellschaft verwirklichen kann, die von islamischen Überzeugungen und Grundsätzen geleitet wird und von der islamischen Lebenspraxis und Tradition geformt ist. Natürlich ist es zuerst und vielleicht ausschließlich die Sache der Muslime, die ursprüngliche, unverfälschte Botschaft ihres Glaubens im einen oder anderen Sinn zu deuten. Darüber hinaus müssen sie entscheiden, was mit dem reichen Erbe geschehen soll, das sich in vierzehnhundert Jahren islamischer Geschichte und Kultur angesammelt hat. Auf diese Fragen geben die Muslime unterschiedliche Antworten, aber wichtig ist vor allem, welche Antwort sich am Ende durchsetzt. (Fs)

225c Ihrem Ursprung nach ist die liberale Demokratie ein Kind des Westens, auch wenn sie weit herumgekommen ist und dabei ihr Gesicht verändert hat. Geprägt wurde sie von tausend Jahren europäischer Geschichte und darüber hinaus von dem doppelten Erbe, das Europa zugefallen war, der jüdisch-christlichen Religion und Ethik sowie der griechisch-römischen Tradition von Staatskunst und Recht. Einzig die europäische Kulturtradition brachte ein politisches System wie die liberale Demokratie hervor, und es bleibt abzuwarten, ob sie sich lange am Leben erhalten könnte, wenn sie in eine andere Kultur verpflanzt und dieser angepaßt würde. (Fs)

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