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Autor: Hrsg. Michalski, Krzysztof; Robert Spaemann, Bernard Lewis

Buch: Die liberale Gesellschaft

Titel: Die liberale Gesellschaft

Stichwort: Fundamentalismus; Geschichte (Proestanten); Islam (dschihad)

Kurzinhalt: Den muslimischen Fundamentalisten geht es in erster Linie weder um den Koran noch um die Theologie, sondern um das islamische Recht und den islamischen Staat. Sie meinen, daß die muslimische Gemeinschaft durch fremdstämmige Ungläubige und muslimische ...

Textausschnitt: 218d Der Begriff "Fundamentalismus" geht auf eine Reihe protestantischer Traktate zurück, die "The Fundamentals" hießen und um das Jahr 1910 herum in den Vereinigten Staaten veröffentlicht wurden. Dieser Begriff wurde ursprünglich in Amerika und später auch in anderen protestantischen Ländern zur Bezeichnung bestimmter Gruppen verwandt, die sich abspalteten, indem sie die kritische Theologie (liberal theology) und Bibelwissenschaft ablehnten und statt dessen den göttlichen Ursprung des Wortes sowie die Unfehlbarkeit der Bibel verfochten. Wenn mit demselben Wort auch muslimische Bewegungen bezeichnet werden, beruht das allenfalls auf einer vagen Analogie, die zudem noch sehr in die Irre führen kann. Die Reformierung der Theologie war für die Muslime zwar in der Vergangenheit zeitweilig ein Thema, heute ist sie jedoch keines mehr, und die sogenannten muslimischen Fundamentalisten haben ganz andere Sorgen. (Fs)
219a Das zweite Anliegen der amerikanischen protestantischen Fundamentalisten, der göttliche Ursprung und die Unfehlbarkeit der Schrift, ist im Islam kein Streitpunkt, da der göttliche Ursprung und die Unfehlbarkeit des Koran ohnehin keinen Zweifel dulden. Dennoch hat sich die Bezeichnung bestimmter muslimischer Gruppen als "Fundamentalisten" eingebürgert, indem das englische Wort nicht nur in andere europäische Sprachen, sondern auch ins Arabische, Türkische und andere von Muslimen gesprochene Sprachen übernommen wurde, wo neuerdings Begriffe mit derselben Etymologie für diese Gruppen verwandt werden. Wenn man sich mit ihnen beschäftigt, kann man also gar nicht umhin, diesen Begriff zu akzeptieren bzw. anzuwenden. (Fs)

219b Den muslimischen Fundamentalisten geht es in erster Linie weder um den Koran noch um die Theologie, sondern um das islamische Recht und den islamischen Staat. Sie meinen, daß die muslimische Gemeinschaft durch fremdstämmige Ungläubige und muslimische Apostaten in den Irrglauben geführt wurde, wobei die letzteren als die schlimmeren und unheilvolleren Verführer gelten. Unter ihrer Führung oder ihrem Zwang gaben die Muslime die Gesetze und Grundsätze ihres Glaubens auf und begannen, statt dessen säkulare und damit heidnische Gesetze und Werte zu übernehmen. Alle ausländischen Ideologien wie der Liberalismus, der Sozialismus und sogar der Nationalismus, spalten die Muslime und sind daher schlecht. Die muslimische Welt leidet nunmehr unter den unausweichlichen Folgen der Tatsache, daß sie das Gesetz und die Lebensweise, die ihr von Gott zugedacht wurden, aufgegeben hat, um stattdessen den heidnischen Lebensstil der ungläubigen Feinde nachzuahmen. Die Antwort darauf kann nur die alte muslimische Verpflichtung zum dschihad, zum heiligen Krieg sein. Erst muß er gegen die pseudo-muslimischen Apostaten geführt werden, die daheim herrschen, und wenn diese abgesetzt sind und die Gesellschaft reislamisiert ist, kann der Islam auch seine angestammte Rolle in der Welt übernehmen. Die Forderung nach Rückkehr zu den Wurzeln, zum wahren Ursprung, hat stets etwas Anziehendes. Sie spricht umso mehr diejenigen Menschen an, die alltäglich unter den Folgen der importierten, mißglückten Neuerungen zu leiden haben. (Fs)

220a Die islamischen Fundamentalisten halten die Demokratie offenkundig für etwas vollkommen Belangloses, und im Unterschied zum Sprachgebrauch des kommunistischen Totalitarismus kommt das Wort bei ihnen kaum, ja nicht einmal in mißbräuchlicher Verwendung vor. Hingegen lehnen sie es nicht ab, die Vorteile, die ein selbsternanntes demokratisches System ihnen per definitionem anbieten muß, einzufordern und für ihre Zwecke auszunutzen. Zugleich machen sie keinen Hehl daraus, daß sie die politischen Verfahrensweisen der Demokratie verachten und durch islamische Spielregeln ersetzen würden, sollten sie einmal die Macht übernehmen. Man hat ihre Einstellung zu demokratischen Wahlen umschrieben als "ein Mann, eine Stimme, das eine Mal". Zumindest in Iran liegt der Fall jedoch ein bißchen anders. Die Islamische Republik Iran schreibt Kandidatenwahlen aus und läßt in der Presse und im Parlament mehr an Diskussion und Kritik zu, als in den meisten muslimischen Ländern üblich ist. Gleichzeitig gibt es genaue und strikt eingehaltene Bestimmungen dafür, wer als Kandidat aufgestellt werden kann, welche Art Gruppenbildung erlaubt ist und was überhaupt geäußert werden darf. Selbstverständlich ist es verboten, die Grundsätze der Islamischen Revolution oder Republik infrage zu stellen. (Fs)

220b Diejenigen, die für eine demokratische Reform in den arabischen und den übrigen muslimischen Ländern eintreten und kämpfen, nehmen für sich in Anspruch, eine wirkungsvollere und glaubwürdigere Demokratie im Sinn zu haben als ihre gescheiterten Vorgänger. Sie fordern eine unumschränkte Demokratie, die nicht von irgendwelchem störenden Beiwerk verfälscht, von religiösen oder ideologischen Vorbehalten zunichte gemacht und von einer Region, Religionsgemeinschaft oder sonst einer Gruppe mißbraucht wird. Einerseits gehört diese Bewegung zu der Demokratisierungswelle, die bereits viele Länder in Südeuropa und Lateinamerika erfaßt hat; andererseits ist sie eine Reaktion auf den Zusammenbruch der Sowjetunion und darauf, daß das siegreiche Abschneiden der Demokratie im Kalten Krieg ihre Überlegenheit nur ein weiteres Mal bestätigt hat. In nicht geringem Maß ist der Ruf nach Demokratie eine Folge der Tatsache, daß die amerikanische Demokratie und die amerikanische Alltagskultur immer stärker auf die islamischen Länder einwirken. (Fs)

221a Lange Zeit wurde Amerika lediglich als Anhängsel Westeuropas betrachtet. Es gehörte zur selben Zivilisation, sprach dieselbe Sprache, hatte dieselbe Religion und war von denselben verhängnisvollen Schwächen heimgesucht wie das größte europäische Imperium. Als das Wissen über Amerika zunahm, entdeckte man jedoch, daß es ein ganz anderes demokratisches System als Europa besaß, und die Unterschiede verliehen der amerikanischen Demokratie eine größere Anziehungskraft, als die europäische je ausgeübt hatte. (Fs)

221b Ein offenkundiger Unterschied bestand natürlich darin, daß die Vereinigten Staaten niemals eine imperialistische Herrschaft über ein arabisches Land ausgeübt hatten. Daraus folgte ein zwar weniger offenkundiger, aber auf lange Sicht weit wichtigerer Unterschied. Von Ausnahmen abgesehen, hatten sich die Amerikaner im allgemeinen nicht jenes Herrschaftsgebaren angewöhnt, das die Beziehungen zwischen den Briten und Franzosen einerseits und den Völkern ihrer ehemaligen Besitzungen andererseits immer trübte und in gewissem Umfang auch heute noch trübt. Dieser Umstand versetzte die Amerikaner in die Lage, zu den Menschen im Mittleren Osten informelle, gleichberechtigte und persönliche Beziehungen herzustellen, was den Europäern bis heute nur selten gelingt. (Fs)

221c Die amerikanische Alltagskultur hat die Gesellschaft des Mittleren Ostens binnen kurzer Zeit viel tiefer durchdrungen, als das den elitären Kulturen Englands und Frankreichs jemals möglich war. Die vielen Menschen aus dem Mittleren Osten, die in Amerika eingewandert sind, verstärken diese Tendenz noch. Es gibt zwar inzwischen unzählige Briten südasiatischer und Franzosen nordafrikanischer Herkunft, aber es wird möglicherweise noch sehr lange dauern, bis sie sich so integriert und anerkannt fühlen, wie es die Neuamerikaner aus dem Mittleren Osten schon heute tun. In der amerikanischen Politik sind sie bereits jetzt ein gewichtiger Faktor, und es ist gut möglich, daß sie einmal eine wichtige Rolle in der politischen Entwicklung ihrer Herkunftsländer spielen werden. (Fs)

221d Gerade diese Universalität der amerikanischen Kultur, die auf die einen so assimilierend und anziehend wirkt, löst bei den selbsternannten Hütern des reinen und unverfälschten Islam Angst und Haß aus. Menschen ihrer Denkart sehen im Amerikanismus eine so tödliche Gefahr für die alten Werte, die sie in Ehren halten und durch die sie Macht und Einfluß besitzen, wie sie noch von keiner anderen Kultur ausging. Die letzte Koransure, die zusammen mit der ersten zu den bekanntesten und meist zitierten Suren gehört, verlangt von den Gläubigen, bei Gott vor dem "Verderb, den einem der heimtückische Verführer einflüstert", Zuflucht zu suchen. Der Satan des Koran ist der Gegner, der Betrüger, vor allem jedoch der Aufwiegler und Anstifter, der die Menschheit vom wahren Glauben wegzulocken sucht. Gewiß war es das, was Khomeini im Sinn hatte, als er die Vereinigten Staaten den Großen Satan nannte. Natürlich dachte er an den Satan als Feind, aber er meinte ganz konkret den Verführer und Versucher, und das wird auch seinem Volk eingeleuchtet haben. (Fs)

222a Heutzutage, wo Unzufriedenheit und Enttäuschung, Wut und Frustration herrschen, haben die Vermächtnisse des 19. und 20. Jahrhunderts, wie der Nationalismus, der Sozialismus und der Nationalsozialismus, für den Mittleren Osten viel von ihrer Anziehungskraft verloren. Dort berufen sich nur noch die Befürworter der Demokratie und die islamischen Fundamentalisten auf etwas, das mehr ist als Loyalität gegenüber einer Person oder Sekte. Beide können begrenzte Erfolge vorweisen, teils, indem sie bestehende Regime quasi unterwandert, öfter jedoch, indem sie diese Regime vorab zu einigen Konzessionen genötigt haben. Diese Strategien sind in der Regel nur bezüglich der traditionellen autoritären Regime erfolgreich, die den Anhängern der Demokratie oder den Fundamentalisten oder beiden mit einigen symbolischen Gesten entgegenkommen. Selbst die extremen Diktaturen, die das Modell der liberalen Demokratie gänzlich ablehnen, finden sich, wenn sie in Not geraten, zu einem Versöhnungsangebot an die Fundamentalisten bereit oder machen sich islamische Gefühle zunutze. (Fs)

222b Ein gutes Beispiel dafür ist, was sich während des Golfkriegs abspielte. Damals geschah es, daß der säkularistische, sozialistische und nationalistische Diktator des Irak, der sich eben noch der Region und der ganzen Welt als Verteidiger des säkularen Modernismus gegen die religiösen Fanatiker Irans empfohlen hatte, im Augenblick der Krise die Fahne des Islam hißte und den dschihad gegen die Ungläubigen ausrief. Seine Kehrtwende stieß zwar nicht bei allen Muslimen auf Zustimmung, fand jedoch weithin ein positives Echo. Bestimmt ließen sich nur wenige muslimische Fundamentalisten von dem Aufruf täuschen oder machten sich irgendeine Illusion darüber, was Saddam Hussein von ihnen und ihrer Sache wirklich denkt. Trotzdem hielten sich viele anscheinend an die alte Maxime, daß der schlimmste Muslim immer noch besser ist als der beste Ungläubige. (Fs)

223a Wenn die Ausrufung des heiligen Krieges auch ein positives Echo erhielt, so gab es doch keine ungeteilte Zustimmung. In den arabischen Ländern und besonders in Diktaturen wie dem Irak existiert eine erkleckliche und weiter wachsende Zahl von Menschen, die in der Demokratie die größte Hoffnung für ihr Land sehen und häufig mit beträchtlichem Mut zum persönlichen Risiko für eine Durchsetzung der Demokratie kämpfen. Aber alle, die Betroffenen in der Region wie die Beobachter draußen, stellen sich die Frage, ob eine Demokratie, die aus der Sicht der demokratischen Welt diese Bezeichnung verdient, im Mittleren Osten und anderen islamischen Ländern überhaupt funktionieren kann. (Fs)

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