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Autor: Hrsg. Michalski, Krzysztof; Robert Spaemann, Bernard Lewis

Buch: Die liberale Gesellschaft

Titel: Die liberale Gesellschaft

Stichwort: Fundamentalismus: politisch; M. Weber: Gesinnungsethik - Verantwortungsethik; Hobbes, Zivilreligion; Orestie, Antigone (Aischylos, Sophokles)

Kurzinhalt: Jeder Totalitarismus ist - obgleich oft fundamentalistischen Ursprungs - antifundamentalistisch. Sein Antifundamentalismus aber ist Nihilismus. Denn für die "normale" Menschheit gilt: Jeder ist Fundamentalist von irgend etwas.

Textausschnitt: 184b Politischer Fundamentalismus berührt sich eng mit dem, was Max Weber als "Gesinnungsethik" bezeichnet hat. Allerdings macht er auch deutlich, daß die Unterscheidung "Gesinnungsethik - Verantwortungsethik" nicht wirklich greift. Eigentlich versteht Weber unter dem Verantwortungsethiker den Politiker, der mittelfristig in einem begrenzten, ihm anvertrauten Bereich Zustände erhalten oder herbeiführen will, die er für wünschenswert hält. Der Gesinnungsethiker ist der, der die Verantwortung entweder kurzfristiger und begrenzter betrachtet, d. h. der sich für das unmittelbare Resultat einer einzelnen Handlung verantwortlich fühlt, oder aber derjenige, dessen Handlungen im Dienste einer langfristigen Strategie mit Bezug auf eine globale Zivilisation stehen und deren Rechtfertigung deshalb der Beurteilung des Common sense entzogen ist. Dem Gesinnungsethiker im ersten Sinne zollte Weber hohen Respekt. Nur wies er darauf hin, daß dessen Ethik gerade keine politische Ethik ist. Die zweite will politische Ethik sein, ist es aber auch nicht, weil sie schließlich nur darauf hinausläuft, private politische Weltanschauungen der diskursiven Überprüfung zu entziehen und in ihrem Dienste unbegrenzte Handlungsfreiheit zu beanspruchen. Sie entspricht also der Definition des Fanatismus. (Fs)

184c Die Unterscheidung zwischen den beiden Formen von "Gesinnungsethik" erlaubt uns auch, zwischen zwei Formen des Fundamentalismus zu unterscheiden. Fundamentalismus ist eine wesentlich unpolitische Haltung, denn der Raum des Politischen ist der Raum der Vermittlung, der funktionalen Relativierung, der Brechung aller Unbedingtheitsansprüche. Die Verabsolutierung des politischen Gesichtspunkts, die Definition aller menschlichen Lebensvollzüge durch ihre positive oder negative politische Funktion ist das Kennzeichen des Totalitarismus. Jeder Totalitarismus ist - obgleich oft fundamentalistischen Ursprungs - antifundamentalistisch. Sein Antifundamentalismus aber ist Nihilismus. Denn für die "normale" Menschheit gilt: Jeder ist Fundamentalist von irgend etwas. Es gibt Symbole des Unbedingten, die, obwohl selbst endlicher Natur, doch für endliche Wesen einen unbedingten Anspruch enthalten. Ohne solche Symbole wird Unbedingtheit zu einem leeren Wort und der Mensch zu einem verächtlichen Wesen, dem nichts "heilig", das heißt, das zu allem fähig ist. Das Unbedingte selbst kann überhaupt nur respektiert, es kann nicht "durchgesetzt" werden. Eine Politik zur Durchsetzung der Menschenrechte kann nie die gleiche Unbedingtheit besitzen wie das Gebot, diese Rechte zu achten. (Fs) (notabene)

185a Die Einsicht in diesen Sachverhalt ist alt. Sie ist unübertrefflich ausgesprochen in zwei griechischen Tragödien, in der "Antigone" des Sophokles und in der "Orestie" des Äschylos. Antigone ist der unübertreffliche Typus einer fundamentalistischen Diskursverweigerin. Ihre Pflicht, den Bruder zu begraben, gründet in einem unvordenklichen Gesetz der Götter, das zugleich dem Gesetz des Herzens entspricht: "Nicht mitzuhassen, mitzulieben bin ich da." Kreon, der König, hat für sein Verbot Gründe, Gründe der Staatsraison, Gründe der politischen Friedenssicherung. Seine Verblendung und seine Hybris bestehen darin, daß er in der Durchsetzung seines rationalen Kalküls nicht dasjenige als Grenze respektiert, das älter und "fundamentaler" ist als das politische System. Er ist noch nicht auf den Kunstgriff des Hobbes verfallen, den Satz "Man muß Gott mehr gehorchen als den Menschen" dadurch zu entschärfen, daß er sich selbst als Souverän zum einzigen authentischen Interpreten eben jenes göttlichen Gebotes erklärte. Nun ist aber der Fundamentalismus dieses Satzes ebenso wie derjenige Antigones insofern politisch nicht unmittelbar bedrohlich, als er zwar Ungehorsam, nicht jedoch politische Aktionen, aktiven Widerstand, Rebellion begründet. Er begründet nicht einmal aktive Organisation des Ungehorsams. Antigone rät ihrer Schwester Ismene sogar ab, sich an dem Unternehmen zu beteiligen. Aktives politisches Handeln kann nur effizient sein, wenn es den Gesetzen der politischen Logik folgt, sich also aus der uneinnehmbaren Festung des Fundamentalismus herausbegibt. Aber auch über den legitimen politischen Umgang mit dem Fundamentalismus enthält die antike Tragödie ein Lehrstück: die Orestie. Die politische, die polisstiftende Friedensmacht erscheint hier in Gestalt der Athene, die vor dem Areopag ihre Stimme zugunsten des Muttermörders Orest in die Waagschale wirft. Der Kette des Tötens soll ein Ende gesetzt werden. Die Erinnyen aber toben. Sie wollen ihren fundamentalistischen und feministischen Anspruch auf Sühnung des Muttermords nicht der neuen Friedenslogik opfern. Athene aber setzt sich über den Anspruch der Erinnyen nicht souverän hinweg, sondern versucht mit Erfolg, diese zu begütigen. Sie lädt sie ein, als "Eumeniden", als Segensgöttinnen, sozusagen "entpolitisiert, in der Stadt zu bleiben, und knüpft das Wohlergehen der Stadt daran, daß diese Göttinnen, die älter sind als die Stadt, in ihr stets einen geheiligten Platz haben werden. Indem sie politisch entmachtet werden, wird doch ihre Gegenwart zu einem Garanten dafür, daß das Politische nicht Maß und Orientierung an dem "Heiligen" verliert, das aller Politik vorausliegt und das sie selbst doch nicht hervorbringen kann. (Fs)

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