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Autor: Hrsg. Michalski, Krzysztof; Robert Spaemann, Bernard Lewis

Buch: Die liberale Gesellschaft

Titel: Die liberale Gesellschaft

Stichwort: Fundamentalismus: biologisch, biologistisch; Nationalsozialismus; grüne Fundamentalismus: Delegitimierung; Kategorie der "Betroffenheit"


Kurzinhalt: Der Nationalsozialismus war die erstmalige Machtergreifung des naturalistischen Fundamentalismus der, obgleich selbst Kind der szientistischen Aufklärung, deren Vernunft- und Menschenrechtsuniversalismus noch als Teil des zu überwindenden ...

Textausschnitt: 182a Eine mit ihrer Herkunft so radikal brechende Zivilisation treibt einen ebenso radikalen, hinter alle geschichtliche Tradition Europas zurückgehenden Fundamentalismus hervor, nämlich den biologistischen. Das beginnt bereits im ausgehenden 19. Jahrhundert. Das Christentum hatte den Völkern Europas zugemutet, sich als "Heiden" in eine neue Genealogie adoptieren zu lassen, Abraham "unseren Vater" zu nennen und auf ihren Königskronen David und Salomon abzubilden. Das Reich der Deutschen war nicht ein deutsches, sondern das Römische Reich. Vom Abschütteln dieser "überfremdenden", "kolonialistischen" Geschichte erwartete der biologische Naturalismus die Entfaltung des genuinen Potentials der keltischen bzw. germanischen Rasse. Der Nationalsozialismus war die erstmalige Machtergreifung des naturalistischen Fundamentalismus der, obgleich selbst Kind der szientistischen Aufklärung, deren Vernunft- und Menschenrechtsuniversalismus noch als Teil des zu überwindenden jüdisch-römischen Erbes betrachtete. (Fs) (notabene)

182b Übrigens war der Nationalsozialismus ein Lehrstück für das Schicksal jedes Fundamentalismus, der die politische Macht ergreift: Er muß aufhören, Fundamentalismus zu sein. (Das gilt auch für den Islam.) Nicht von ungefähr ließ Hitler in der zweiten, imperialistischen Hälfte seiner Regierungszeit die Geschichte noch einmal umschreiben: Karl, der "Sachsenschlächter", wurde wieder "der Große", und ausgerechnet die Nationalsozialisten waren es, die die alte deutsche Druck- und Schreibschrift abschafften und durch die in Europa sonst übliche lateinische ersetzten, so daß heute die Kinder nicht mehr die Jugendbriefe ihrer Großeltern lesen können. (Fs)

182c Der biologische Fundamentalismus hat indessen seine nationale, staatsterroristische Variante überlebt und neue Motive in sich aufgenommen. So ist etwa auch der grüne Fundamentalismus eine Rewegung der Delegitimierung. Delegitimiert wird eine zivilisatorische Entwicklung im Namen eines Ursprünglichen, Elementaren, das in dieser Entwicklung nicht zur Entfaltung kam, sondern unterdrückt und verleugnet wurde. Dieses Ursprüngliche sind nun nicht mehr die menschlichen Rassen, sondern die natürlichen Arten der Erde und darunter die Spezies homo sapiens und deren gefährdete, natürliche Uber-lebensbedingungen. Fundamentalistisch ist die Rewegung dort, wo sie jede gesellschaftlich-geschichtlich-rechtliche Vermittlung ihrer Maßstäbe ablehnt. Das soziale System der bisherigen Hochkulturen beruhte, so sieht das aus dieser Optik aus, auf Unterdrückung der Natur und - sozusagen als Stellvertreterin der Natur innerhalb des sozialen Systems - der Frau. Der europäische Rationalismus ist in dieser Sicht nur die Vollendung einer solchen Unterdrückungsgeschichte, die schon unsere Sprachstrukturen sexistisch geprägt und vergiftet hat. (Fs) (notabene)

183a Die Stärke dieses neuen Fundamentalismus liegt in einer unbestreitbaren Tatsache und in einer ebenso unbestreitbaren Einsicht. Die Tatsache: Das industrielle System hat an den Rand der Belastbarkeit unserer natürlichen Lebensbedingungen geführt. Dadurch werden diese erstmals thematisch, und es wird bewußt, daß hinsichtlich dieser Gefährdung erstmals alle Menschen in einem Boot sitzen. Die Einsicht: Das Gute und das Schlechte in dieser Hinsicht ist eine mehr oder weniger feste Größe. Es ist, wie es ist, unabhängig von Konsens und Akzeptanz. Wenn mit Bezug auf die Uberlebensbedingungen das Falsche Konsens und Akzeptanz findet, dann ist es möglicherweise zu spät, um aus diesem Irrtum noch zu lernen. Insoweit handelt es sich um eine der vielen unvermeidlichen Renaissancen des Naturrechts, d. h. des "von Natur" Richtigen und Falschen. Der Fundamentalist kann es nicht zur Disposition stellen, weil es auch nicht zu seiner Disposition steht. Rousseau hatte geschrieben, wenn Staaten gegen dieses Recht verstießen, so würden sie solange in chaotischen Zustand geraten, bis "die unbesiegbare Natur der Dinge die Macht wieder an sich genommen hat". Rousseau dachte dabei an soziales und politisches Chaos. Für den grünen Fundamentalisten ist das soziale Chaos unter Umständen einer sozialen Ordnung vorzuziehen, die um so mehr externes Chaos erzeugt, je perfekter sie intern organisiert ist. Zwar wird auch hier "die imbesiegbare Natur der Dinge" schließlich siegen, aber dann unter Umständen durch das Verschwinden des homo sapiens von der Erde. (Fs)

183b Aus der Tatsache, daß Uberlebensbedingungen nicht zu unserer Disposition stehen, folgert der Fundamentalist nun allerdings zu Unrecht, daß auch seine diesbezüglichen Ansichten nicht zur Disposition für Belehrung eines Besseren stehen dürften; und aus der Tatsache, daß die Wahrheit keine Kompromisse kennt, folgert er, daß auch in der Durchsetzung des als richtig Erkannten Kompromisse immer vom Übel seien. Das gilt jedoch nur in dem seltenen Fall, wo das Ganze unmittelbar auf dem Spiel steht und nur auf eine einzige Weise Rettung möglich ist. (Fs)

184a Lehrreich ist auch das Menschenrechtsverständnis des grünen Fundamentalismus. Es ist erstens durch die Tendenz bestimmt, den Unterschied zwischen Bürgerrechten und Menschenrechten zum Verschwinden zu bringen. Nicht geschichtlich bedingte Zusammengehörigkeit, nicht Sprachgemeinschaft usw., nicht die Bereitschaft, in eine langfristig angelegte Solidargemeinschaft einzutreten, definieren die relevante politische Einheit, sondern die rein naturale Kategorie aktualer gemeinsamer "Betroffenheit". Explosiv wird diese Auffassung, wenn sie sich verbindet mit jenem Verständnis, das Menschenrechte nicht als Abwehrrechte, sondern als unbedingte, unmittelbar exekutierbare Anspruchsrechte jedes Menschen versteht, z. B. das Recht in unser - prinzipiell in jedes - Gemeinwesen aufgenommen zu werden, solange die Aufnahme den "Betroffenen" als eine Verbesserung ihrer Lebenssituation erscheint, d. h. solange, bis jedes geschichtlich und geographisch bedingte Gefälle an Lebenschancen aufgehoben ist und das Entropiegesetz alle Strukturen des "guten Lebens" rückgängig gemacht hat. (Fs)

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